Die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) stehen vor einem Milliardendefizit. Das hat auch strukturelle Gründe, kritisiert Jörg Loth, Vorstandssprecher der IKK Südwest und fordert deshalb grundlegende Reformen, um die GKV zukunftsfest zu machen.
Herr Loth, Sie haben die Bundesregierung scharf kritisiert für deren Finanzierungsvorschläge. Was passt Ihnen nicht daran?
Wir hatten in den letzten Jahren nahezu immer die Situation, dass der Gesetzgeber im Sommer oder Frühherbst die Diskussion darüber führt, wie die GKV (Gesetzliche Krankenversicherung) finanziert wird. Das passiert häufig so spät, dass wir als Kassen unsere Finanzplanung im Grunde bereits stehen haben müssen, ohne zu wissen, was der Gesetzgeber plant. In diesem Jahr ist es zwar relativ früh, aber was inhaltlich diskutiert wird, ist sehr unbefriedigend. Man geht allein für das nächste Jahr von einem Defizit für die gesetzlichen Krankenkassen von mindestens 17 Milliarden Euro aus. Diese Lücke muss geschlossen werden, und dafür gibt es im Grunde nur zwei Hebel: Das eine sind die Beiträge, die die Versicherten und die Wirtschaft zahlen, das andere ist der Steuerzuschuss für die Leistungen, die der Gesetzgeber der GKV übertragen hat. Es gibt einen festgelegten Steuerzuschuss, aber der deckt bei Weitem nicht das ab, was an Aufgaben den Kassen sozusagen versicherungsfremd übertragen worden ist.
Was heißt das in der Praxis?
Ein Beispiel sind die Kosten für diejenigen, die ALG II beziehen, also Hartz-IV-Empfänger. Sie werden in der GKV versichert und dafür muss der Staat die Beiträge zahlen. Tut er auch, aber bei Weitem nicht ausreichend. Man geht davon aus, dass der Beitragsbedarf bei monatlich 135 bis 140 Euro je Leistungsbezieher liegt, die Bundesregierung zahlt den gesetzlichen Krankenkassen aber nur rund 90 Euro. Schließen müssen das letztlich die, die die Beiträge zahlen, also die Versicherten und die Betriebe. Diese Lücke müsste der Staat ausgleichen. In der Summe geht es um zehn Milliarden Euro, die dadurch der Gesetzlichen Krankenversicherung fehlen. Wir sagen: Man muss das bezahlen, was man beauftragt hat. Hätte die GKV die zehn Milliarden, würde das prognostizierte Defizit von mindestens 17 Milliarden schon ganz anders aussehen.
Bleibt immer noch ein beachtliches Delta in der Rechnung.
Es gibt noch einen zweiten inhaltlichen Punkt: Wir fordern, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern, einen reduzierten Umsatzsteuersatz auf Arzneimittel. Wir zahlen in Deutschland 19 Prozent auf Arzneimittel. Auf Lebensmittel und Tierfutter haben wir einen Satz von sieben Prozent, das passt nicht zusammen. Damit belastet man die Solidargemeinschaft ganz erheblich. Arzneimittel gehören in der GKV neben den Kosten für Krankenhausbehandlungen zu den größten Kostenpunkten. Knapp 400 Millionen Euro bei einem Haushalt von rund zwei Milliarden Euro sind in der IKK Südwest Arzneimittel-Ausgaben. Eine Reduzierung des Umsatzsteuersatzes würde bei uns etwa zehn Prozent der Ausgaben für Arzneimittel einsparen. Für die GKV insgesamt reden wir von sechs Milliarden Euro Einsparungen durch die Senkung der Umsatzsteuer. Zusammen mit den zehn Milliarden aus dem ALG II hätte man das Defizit so gut wie geschlossen.
„Man muss bezahlen, was man beauftragt hat"
Davon abgesehen müssten auch die Strukturen, zum Beispiel bei der Beitragsgestaltung und den Leistungsaufwendungen, überprüft werden, ob alles noch adäquat und aktuell ist.
Gerade in Zeiten der Inflation und von ganz beträchtlichen Teuerungen im Bereich Energie ist ein solcher Finanzbedarf der GKV eine erhebliche Hypothek, und bei der Wirtschaft muss man jetzt auch darauf aufpassen, dass man nicht in eine Rezession gleitet. In den letzten Legislaturperioden haben die jeweiligen Regierungen die 40-Prozent-Marke als rote Linie gesehen. Die Beiträge für die Sozialversicherung insgesamt sollten diesen Wert nicht übersteigen. Diese Marke wird jetzt definitiv gerissen. Und wir wissen nicht, ob bei dem Defizit von 17 Milliarden Euro das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Es gibt auch Schätzungen, die von zwanzig bis perspektivisch 35 Milliarden ausgehen.
Wie sehr hat die Pandemie die Kassen belastet?
Corona war natürlich eine Herausforderung, aber man muss sagen, dass viele der Lasten wie Testungen oder Freihaltepauschalen für die Krankenhäuser, über Bundeszuschüsse also aus Steuern, finanziert worden sind. In der GKV haben wir auch gesehen, dass Leistungen weniger in Anspruch genommen worden sind. Auch weil Menschen aus Angst, sich anzustecken, nicht ins Krankenhaus gegangen sind. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum das zum Beispiel teilweise selbst beim Verdacht auf einen Schlaganfall der Fall war. Auch das ist ein Teil der Wahrheit. Elektive Eingriffe, die also nicht zeitnah sein mussten, sind verschoben worden, aber wir gehen davon aus, dass sie nachgeholt werden. Das konnten wir in den Pandemie-Zwischenzeiten bereits beobachten.
Angesichts der vielen verschobenen Operationen fragt sich mancher, ob die alle überhaupt notwendig waren. Welche Schlussfolgerungen kann man daraus ziehen?
Es ist noch zu früh, das beurteilen zu können. Eine Hüftgelenkoperation muss beispielsweise nicht immer sofort gemacht werden. Die Folgen der Verzögerung sind aber Schmerzen, verringerte Lebensqualität, verstärkte ambulante Behandlung und entsprechende Medikamente. Und zwei, drei Jahre später musste die OP häufig doch durchgeführt werden.
Erwarten Sie von der „Ampel" Änderungen in den kritisierten Bereichen?
Unabhängig davon, wer die Regierung bildet, muss man die strukturellen Fragen angehen. Ein Großteil des Defizits ist nicht, wie man glauben könnte, durch die Pandemie, sondern durch die Leistungsausweitungen des Gesetzgebers der vergangenen Jahre entstanden. Dabei muss man genau hinschauen, was möglich ist und was man bereit ist zu finanzieren. Minister Lauterbach will an solche Reformen ran, aber bei Licht betrachtet wird in den nächsten zwölf Monaten nicht viel passieren können.
„Probleme systematisch und schnell angehen"
Sie machen aber weiter Druck?
Worum es uns geht, ist, dass man das System zukunftsfest macht für die nächsten Jahre und nicht nur von Jahr zu Jahr plant. Was der Bundesgesundheitsminister vorgelegt hat, ist wie ein Ibuprofen für das Jahr 2023, die Wirkung wird relativ schnell nachlassen. Die Forderungen zu den Punkten Beiträge für ALG-II-Empfänger und Senkung der Umsatzsteuer für Arzneimittel bleiben bestehen. Das sind zugegeben nicht ganz einfach umzusetzende Ansätze, die Vorarbeiten benötigen. Ich kann zum Beispiel Apotheker verstehen, die sagen, die Senkung der Umsatzsteuer betrifft nicht nur die Pharmaindustrie, sondern aufgrund der Komplexität des Systems am Ende auch die Apotheken. Man muss eine Reform also ganzheitlich angehen und jetzt damit beginnen, um die GKV dauerhaft leistungsfähig zu halten. Darauf hinzuweisen, dass es jetzt noch viele andere Probleme in Politik und Weltwirtschaft gibt, hilft nicht wirklich weiter. Im Übrigen werden sich natürlich auch die Prognosen bei den Energiepreisen, Transportkosten, Inflation und vieles mehr auf das Gesundheitssystem und damit letztlich auf die Krankenkassen auswirken. Das alles schlägt sich perspektivisch beispielsweise auf die Kosten für Praxen und Betriebskosten für Krankenhäuser nieder. Solche Entwicklungen sind in dem 17-Milliarden-Defizit noch gar nicht eingepreist. Da schauen wir noch in eine Blackbox. Es ist im Übrigen auch keine Lösung, wenn man jetzt erneut nach den Rücklagen der GKV, also dem Geld der Versicherten und Betriebe, greift. Das ist eine außerordentlich kurzfristige Betrachtungsweise. Ein weiterer Grund, jetzt die aufgezeigten Problemstellungen systematisch und konsequent anzugehen.