Dass ein Wahlgang wegen Totalversagens wiederholt werden muss, ist nicht nur ein Novum für die Hauptstadt, sondern auch einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik.
Montag, 2. Januar, kurz nach 8 Uhr. Aufatmen bei Landeswahlleiter Stephan Bröchler. Alle zwölf Bezirkswahlämter melden bei dem Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften Vollzug, die Wahllokale sind komplett mit ihren Helfern besetzt und es kann gewählt werden. Genau sechs Wochen vor dem eigentlichen Wahltermin. Der Politologe hat seine erste Bewährungsprobe in der Praxis bestanden und ein weiteres Novum in der Geschichte der bundesdeutschen Landtagswahlen geschaffen.
Sein Kalkül: Die Briefwahlunterlagen sollen nicht nur wie bisher verschickt werden, sondern die Bürger können auch in ihrem Rathaus Briefwahlstimmzettel direkt abholen, ohne bürokratischen Aufwand, nur der Personalausweis muss vorgelegt werden, so wie am Wahltag auch. Bröchlers Clou dabei: Im Nebenraum stehen bereits die Wahlkabinen. Dort können dann gleich die Kreuzchen gemacht werden und danach, alles ordentlich im Briefwahl-Kuvert verstaut, persönlich in die verplombte Urne geworfen werden. Auf die Idee hätte man auch früher kommen können. Hintergrund für diese Neuerung: Aufgrund der Kürze der Zeit soll so verhindert werden, dass die Briefwahlunterlagen nicht rechtzeitig ankommen, so Stephan Bröchler sichtlich stolz im FORUM-Gespräch.
Und er bewies damit Weitsicht, denn Ende Januar streikte dann die Post für 48 Stunden, mitten in der Schlussphase der Versendung der Briefwahlunterlagen. Bereits in den ersten Januartagen ist der Verwaltungsprofessor erstaunt, wie viele Bürger diesen Vorort-Wahlservice nutzten. Seine Hoffnung ist, dass dies erste Anzeichen für eine erneut hohe Wahlbeteiligung sein könnten. Schon im September vor anderthalb Jahren lag sie in Berlin bei 75,4 Prozent.
Das Interesse am vorzeitigen Wahlauftakt ist auch für Politikwissenschaftler erstaunlich. Sie hatten nach der verpatzten Wahl befürchtet, dass der Frust so groß ist, dass viele Wähler abwinken und zu Hause bleiben. Doch das genaue Gegenteil scheint der Fall zu sein, der Wert einer ordentlichen, freien und geheimen Wahl scheint zumindest in Berlin, eine neue Wertigkeit erfahren zu haben. Wieder ein Novum, wo doch in den letzten Jahren immer wieder, gerade von führenden Politiker, über Politikverdrossenheit und niedrige Wahlbeteiligungen geklagt wurde. Zur Wahlwiederholung des gesamten Berliner Abgeordnetenhauses- und der Wahl für alle Bezirksparlamente in allen 78 Wahlkreisen kommt es, weil die Richter des Berliner Verfassungsgerichtshofs derart schwere Verfehlungen sahen, dass Neuwahlen unumgänglich sind. Ein derartiges Organisationsversagen bei diesem wichtigsten, zentralsten Akt einer Demokratie sei in der bundesdeutschen Geschichte „beispiellos“, befand denn auch bereits der ehemalige Berliner FDP-Abgeordnete und spätere Spitzenkandidat der Freien Wähler Marcel Luthe schon im Herbst 2021. Der Wahl-Berliner war eine treibende Kraft bei der Aufklärung des Wahldesasters. Er gehörte zu den ersten, die 2021 geklagt hatten.
Die Eröffnung der Wahllokale, sechs Wochen vor Termin, hat allerdings einen Pferdefuß, fast die Hälfte der Berliner Bürgerämter musste geschlossen werden. Die Mitarbeiter wurden als vorzeitige Wahlhelfer abberufen und sitzen seitdem nicht mehr im Bürgeramt, sondern im Wahllokal und sortieren Stimmzettel. Darum wird es reguläre Termine beim örtlichen Bürgeramt erst wieder Anfang März geben. Weiteren Ärger gab es bei der Suche nach Wahlhelfern. Davon gab es bei der letzten Wahl zu wenige. Nun hat man die Kostenpauschale für den Dienst am Wahltag von 40 auf satte 240 Euro angehoben. Viele Berliner wollten da sofort mitmachen, einen Sonntag im Wahllokal helfen und dafür 240 Euro kassieren, klang verlockend.
43 klagten beim Gericht gegen die Wiederwahl
Doch bereits wenige Stunden nach Freischaltung des Bewerbungsportals beim Landeswahlleiter hieß es, man habe genug Wahlhelfer. Der Verdacht vieler nicht beachteter Bewerber von außen war, dass verwaltungsintern die Jobs am Wahlsonntag verteilt wurden. Belegen lässt sich das freilich nicht. Landeswahleiter Bröchler ist froh, auch das Personalproblem des letzten Urnengangs, beim nun anstehenden bereits Ende Dezember gelöst werden konnte. Wenn überhaupt am 12. Februar gewählt werden kann, das war zu einem früheren Zeitpunkt keineswegs sicher. Die Wahl wurde in der Verwaltung penibel vorbereitet, die Stimmzettel bestellt und größtenteils ausgeliefert und die Plakate hingen bereits. Doch das letzte Wort, ob die Wahlwiederholung überhaupt stattfinden kann, hatte Karlsruhe. Ende Januar ist Landeswahlleiter Bröchler dann zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen sichtlich erleichtert, die Verfassungsrichter in Karlsruhe haben endgültig den Weg für die Wiederholungswahl am 12. Februar frei gemacht. 43 Kläger hatten die Rechtmäßigkeit der Wiederholung des Urnengangs infrage gestellt. Hauptargument: Nicht in allen 2.258 Wahllokalen hatte es Unregelmäßigkeiten gegeben, darum soll die Abgeordnetenhaus- und Bezirksverordnetenwahl nur punktuell wiederholt werden. Ähnlich wie die Bundestagswahlwiederholung, für die es allerdings noch keinen Termin gibt. Die meisten der 43 Kläger sind frisch gewählte Mandatsträger vor allem aus den Bezirksparlamenten. Ihnen darf unterstellt werden, dass es ihnen wohl weniger um verfassungsrechtliche Bedenken, als vielmehr um ihre Angst ging, sich nach der Wiederholungswahl mangels Stimmen einen neuen Job suchen zu müssen.
Doch am 31. Januar hatten die Karlsruher Richter die Wahlwiederholung für rechtmäßig erklärt. Dennoch steht eine genaue Prüfung noch aus: Im Frühjahr will das Gericht prüfen, ob die komplette Wierderholung verfassungsmäßig ist. Eine weitere Einmaligkeit am 12. Februar wurde dann aber kurzfristig abgesagt. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wollte Wahlbeobachter in die Bundeshauptstadt entsenden. Das ist tatsächlich gängige Praxis bei Bundestagswahlen. Doch das Berliner Wahlfiasko vom 26. September 2021 hat selbst europaweit für erhebliche Irritationen gesorgt. Daraufhin kamen Vertreter der OSZE nach Berlin und schauten sich die Wahlvorbereitungen mal genauer an, was als solches schon ungewöhnlich ist. Doch ganz offensichtlich haben Landeswahlleiter und seine Mitarbeiter ganze Arbeit geleistet. Die geplante Überprüfung am Wahltag wurde abgesagt und Stephan Bröchler ist fast ein bisschen enttäuscht. „Damit hätten wir als Stadt, auch europaweit, unter Beweis stellen können, Berlin kann Wahlen.“ Dennoch flutscht es bei den Wahlvorbereitungen nicht so wie gehofft: Es wurden neue Pannen publik. In Treptow-Köpenick wurden in 49 Fällen Briefwahlunterlagen doppelt verschickt. Grund soll ein Software-Fehler gewesen sein.
Weitere Panne: 1.700 Briefwähler erhielten einen falschen Stimmzettel. Dort stand noch ein FDP-Bewerber in den Wahlunterlagen. Doch der hatte nach der Wahl Berlin verlassen und hätte eigentlich ersatzlos vom Stimmzettel gestrichen werden müssen. Einen Nachrücker gab es nicht, aber sein Name wurde trotzdem erneut abgedruckt. Der Versand wurde gestoppt, die Stimmzettel neu gedruckt. Letztlich wurden alle Betroffenen angeschrieben, damit sie einen neuen Wahlschein beantragen können. Das seien Fehler, die nicht passieren dürften, beklagte Bröchler. Letztes Novum: Die anstehende Wahlwiederholung in Berlin, dürfte pro Kopf und Wahlberechtigtem die teuerste Landtagswahl in der fast 74-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland werden. Genaue Zahlen gibt es noch nicht, abgerechnet wird zum Schluss. Wahlleiter Bröchler will das nicht weiter kommentieren, aber gibt zu verstehen, dass uns das die Demokratie wert sein sollte.