Die wenigsten Menschen wollen rassistisch sein. Trotzdem macht es ihnen Angst, wenn in Bezug auf Flüchtende von „Strömen“ die Rede ist. Prof. Dr. Karim Fereidooni erklärt, welche Funktionen Rassismus in einer Gesellschaft einnimmt und wie wir ihm begegnen können.
Prof. Dr. Fereidooni, Kriege auf der ganzen Welt führen dazu, dass Menschen ihre Heimat verlassen und in andere Länder flüchten. Das löst bei vielen Menschen Angst und Überforderung aus. Ist das schon Teil von rassistischem Verhalten?
Ich glaube einen Unterschied zu erkennen zwischen der Fluchtbewegung 2015, als vornehmlich muslimische Menschen aus Syrien nach Deutschland gekommen sind, und 2022, als es vornehmlich ukrainische Menschen waren. Natürlich hat das mit den politischen Maßnahmen zu tun, die ergriffen worden sind. Beispielsweise haben die EU-Innenminister*innen in der gesamten EU die sogenannte Massenzustromrichtlinie beschlossen, sodass Ukrainer*innen keine jahrelange Duldung vor sich hatten. Und sie hatten direkt Zugang zu Bildungsarbeit und dem Gesundheitsmarkt. Das haben andere Geflüchtete nicht bekommen.

Warum ist das so?
Ukrainische Menschen werden als weiße Menschen gelesen, als christliche Menschen. Und häufig hat man in der Gesellschaft, der Politik und auch dem Journalismus gehört: Die sind so wie wir. Die angenommene kulturelle Nähe schafft eine Solidarität, die es am Anfang von 2015 auch gab. Aber je länger diese Situation dauerte, desto größer wurde die Ablehnung muslimischen Geflüchteten gegenüber.
Ich glaube schon, dass bei der Wahrnehmung von Geflüchteten unter anderem Rassismus eine Rolle spielt. Wir haben nicht gelernt, wahllos Angst vor allen Menschen zu haben. Sondern wir haben Angst vor spezifischen Menschen. Das sind Schwarze Menschen, muslimische Menschen, Sinti*zze und Rom*nja, jüdische Menschen. Das haben wir gelernt, weil Rassismus und Antisemitismus in unserer Gesellschaft seit über 500 Jahren wirkmächtig sind. Wir müssen uns fragen, welche Funktion hinter der Angst steckt. Und die Angst ist dafür verantwortlich, spezifische Menschen reinzulassen und andere Menschen abzulehnen.
Warum grenzen Menschen sich von anderen Menschen ab?
Abgrenzung ist im menschlichen Leben ganz normal. Wir brauchen Abgrenzung, um unseren sozialen Alltag zu strukturieren. Ausgrenzung und die Schlechterstellung von Menschen wegen Herkunft, Aussehen, sozial konstruierter Rasse oder indem man die Kultur schlechtredet – das ist nicht notwendig, um ein soziales Leben zu führen.
Ich bin beispielsweise nicht im Schützenverein. Wenn ich alle Menschen, die im Schützenverein sind, automatisch für blöd hielte, dann wäre das eine qualitativ negative Ausgrenzung. Wenn ich mich aber abgrenze und diese Menschen ihren Schützenverein weiterführen lasse, ohne diese Menschen zu verurteilen, dann ist das eine Abgrenzung, die sowohl für diese Menschen als auch für mich notwendig ist. Wenn Menschen andere Menschen als besonders faul, dumm oder schmutzig darstellen, und zwar aufgrund ihrer Kultur, Religion oder Herkunft, da beginnt Rassismus.
In jedem von uns stecken Vorurteile mit zuweilen rassistischen Ausprägungen. Trotzdem wehren sich viele gegen diese Unterstellung. Ich habe einmal das Argument gehört, jemand, der in der Flüchtlingshilfe der Kirche tätig sei, könne doch kein Rassist sein, auch wenn er vielleicht schwierige Aussagen tätige. Wann ist also jemand ein Rassist oder eine Rassistin?
Wir wissen aus gesicherten, evidenzbasierten Forschungen, beispielsweise von Gert Pickel, dass Kirchenzugehörigkeit oder die Identifikation mit christlicher Nächstenliebe weder hilft, Rassismus abzubauen, noch besonders förderlich ist für rassismusrelevante Wissensbestände. Gläubige Menschen sind weder besonders rassistisch noch besonders rassismuskritisch. Es geht um Gleichzeitigkeiten. Man kann Geflüchteten helfen und trotzdem rassistische Dinge sagen. Das muss nicht immer heißen, dass eine Person ein geschlossenes rassistisches Weltbild hat. Und ich würde auch nicht zu ihr sagen, sie sei ein Rassist. Ich würde ihr sagen, dass ihre Aussage eine rassistische Tradition hat, und ihr erklären, warum. Wenn man kein Rassist sein will, muss man sich mit Rassismus beschäftigen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Ein Drittel aller Frauen in Deutschland erfährt irgendwann im Laufe ihres Lebens in der Partnerschaft Gewalt. Wenn sie eine Befragung bei Männern durchführen und fragen würden, ob sie ihre Frauen schlagen, dann sagen 99 Prozent nein. Wir müssen den Unterschied zwischen Selbstverständnis und Fremdverständnis zur Ausgangsgrundlage nehmen. Bei Ihrem Beispiel herrscht ein falsches Verständnis von Rassismus vor, weil es davon ausgeht, dass Rassismus intentional ist. Aber das ist nicht so. Man kann auch rassistisch sein, obwohl man das nicht sein will. Genauso wie man sexistisch sein kann, obwohl man es nicht sein will. Rassismus hat nichts mit der Intention zu tun, sondern mit der Wirkung von Denkweisen, Sprechweisen und Verhaltensweisen.
Welche Funktion nimmt Rassismus in einer Gesellschaft ein?
Eine Funktion ist beispielsweise die Abwertung anderer Gruppen und die dadurch erfolgte Höherstellung der eigenen Gruppe. Das konnte man vor einigen Monaten ganz gut beobachten, als Menschen in Berlin randaliert und Rettungskräfte angegriffen haben. Da sagte Friedrich Merz: „Das ist deren Macho-Kultur und die gehören abgeschoben.“ Und das, obwohl es sich unter anderem auch um Menschen handelte, die in der dritten und vierten Generation in Berlin leben. Eine Funktion ist, soziale Probleme nach außen zu verlagern. Rassismus fängt nicht erst mit dem Molotowcocktail an, der gegen die Hauswand geworfen wird. Sondern Rassismus fängt da an, wo Menschen andere Menschen aufgrund ihrer Religion, ihrer Hautfarbe, ihrer Kultur abwerten und sich selbst dadurch aufwerten. Es gibt noch viele andere Funktionen des Rassismus. Eine ist zum Beispiel, unliebsame Konkurrent*innen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten, zum Beispiel Kopftuch tragende Frauen. Rassismus funktioniert so gut, weil er viele verschiedene Funktionen für unser gesellschaftliches Leben besitzt. In Entscheidungssituationen nutzen wir unter anderem Rassismus.

Würden Sie sagen, der Begriff „Alltagsrassismus“ wird zu leichtfertig benutzt?
Die neuesten Ergebnisse des Rassismusmonitors belegen, dass 49 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung an Rassen glaubt. Ein Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung glaubt, dass einige Kulturen von Natur aus fleißiger sind als andere. Die Forschungsbefunde der deutschen Polizeihochschule Münster haben in Bezug auf unterschiedliche Ungleichheitsstrukturen in unserer Gesellschaft strukturell so rassistische Tendenzen aufgewiesen, dass selbst die Polizeiführung nicht mehr von Einzelfällen spricht.
Wir können unterscheiden zwischen Alltagsrassismus und Staatsrassismus. Staatsrassismus ist das, was zwischen 1933 und 1945 lief, Stichwort Nürnberger Rassengesetze. Der Staat war durch und durch rassistisch, weil die staatliche Führung Rassismus propagiert hat. Alltagsrassismus kommt dagegen auch in einem Staat wie der Bundesrepublik Deutschland vor, der antirassistisch sein will. Trotzdem gibt es strukturellen Rassismus im Gesundheitswesen, im Bildungssystem, bei der Polizei. Und auch wenn Personen selbst keine rassistischen Äußerungen machen, spielt Rassismus im institutionellen Bereich eine Rolle. Beispielsweise wenn es um Verfahrensvorschriften, Routinen oder Arbeitsweisen geht, die man schon immer so gemacht hat. „Alltagsrassismus“ wird nicht allzu leichtfertig benutzt. Ganz im Gegenteil: Es wird zu leichtfertig behauptet, dass es keinen Rassismus gibt.
Wenn man nach einer Definition von Rassismus sucht, ist die Rede von strukturellem Rassismus, Fremdenfeindlichkeit oder von Diskriminierung aufgrund äußerer Merkmale, beispielsweise Hautfarbe. Diskriminierung kann sich aber auch auf Geschlecht oder Behinderung beziehen. Wo besteht der Unterschied zu Rassismus?
Wir haben dezidierte Rassismusforschung seit 150 Jahren, wir haben klare Definitionen. Rassismus heißt die Abwertung von Personen aufgrund ihrer zugeschriebenen beziehungsweise faktischen Herkunft. Der kann gepaart sein mit Rassekonstruktionen oder aber mit Neo- oder Kulturrassismus, der ohne Rassekonstruktionen auskommt, sich aber auf die Höher- oder Minderwertigkeit von Kulturen, Sprachen und Religionszugehörigkeiten bezieht.
Ich würde heutzutage auch nicht von Fremdenfeindlichkeit sprechen. Fremdenfeindlichkeit suggeriert, man habe eine angeborene Feindlichkeit gegenüber fremden Menschen. Aber die Menschen, die Rassismus tagtäglich in ihrem Leben erfahren, müssen keine Fremden sein. Das sind keine Menschen, die seit Kurzem in Deutschland leben, sondern die leben in der dritten und vierten Generation hier. Wir haben keine Angst vor weißen Belgier*innen oder weißen Französ*innen. Wir haben Angst vor Schwarzen Französ*innen. Nicht immer müssen Menschen eine Migrationsgeschichte aufweisen, um Rassismus zu erfahren.
Ein Beispiel: Seit über 400 Jahren leben Schwarze Menschen in Deutschland. Mittlerweile leben über eine Million Schwarzer Menschen in Deutschland, die nicht notwendigerweise eine internationale Familiengeschichte aufweisen müssen. Das sind Deutsche, und sie erfahren trotzdem Rassismus. Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Menschen sind in Deutschland neben Sinti*zze und Rom*nja, Jüdinnen und Juden sowie Muslim*innen in besonderer Weise von Rassismus betroffen. Sie sind aber keine Fremden, sie werden zu Fremden gemacht.
Wenn im Grunde absolut klar ist, was Rassismus ist, warum wird dann im öffentlichen Diskurs so viel darüber gestritten?
Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel. Wenn Sie sich mit einem Kollegen über Brückenbau unterhalten wollen, dann würde der wahrscheinlich erst einmal einen Experten heranziehen. Aber wenn es um Rassismus geht, dann hat jeder scheinbar ein Bauchgefühl, was das bedeutet. Und jede Diskussion hat da eine scheinbare Gültigkeit, selbst wenn die beteiligten Personen noch nicht ein Buch über Rassismus gelesen haben. Einige Menschen erkennen die Forschungstradition, die wir in der Rassismusforschung haben, gar nicht an und erzählen einfach irgendetwas vor dem Hintergrund ihrer subjektiven Einschätzung. Das würden sie bei anderen Themen nicht tun. Bei Rassismus redet einfach jeder mit, auch wenn er keine Ahnung hat.
Hat die Tatsache, dass wir auf bestimmte Menschen besonders ablehnend oder sogar feindselig reagieren, historische Gründe?
Die erste Person, die geschichtlich dokumentiert über Rassen gesprochen hat, war Königin Isabella im Spanien des 16. Jahrhunderts. Sie hat von jüdischen Personen als eigene Rasse gesprochen und hat das auf muslimische Menschen ausgeweitet. Wenn wir über den Rassediskurs reden, dann reden wir nicht über zehn oder 50 Jahre, sondern über 500 Jahre. Rassistische Wissensbestände werden über Generationen hinweg überliefert und sind dadurch wirkmächtig. Wir haben gelernt, Rassen zu sehen, weil Rassismus uns das beigebracht hat – und nicht erst seit gestern. Wenn wir über Rassismus reden, müssen wir über Traditionslinien reden, die älter sind als wir selbst. Gleichzeitig haben wir eine Chance, dagegen anzugehen, indem wir uns demgegenüber kritisch verhalten und unsere Wissensbestände reflektieren. Und, indem wir uns bewusst werden, dass Rassismus unter anderem unseren sozialen Alltag strukturiert. Dann haben wir die Möglichkeit, uns proaktiv gegen Rassismus zur Wehr zu setzen.

Wie können wir über Rassismus sprechen, ohne mit dem Finger aufeinander zu zeigen, und trotzdem Fehlverhalten reflektieren?
Erstens: Nicht mit erhobenem Zeigefinger argumentieren, sondern die Person wertschätzen und die Position ablehnen. Zweitens: Manchmal geht es gar nicht darum, eine Person von einer anderen Meinung zu überzeugen. Sondern manchmal ist es wichtiger, einer Person, die danebensitzt, aber vielleicht keine Ahnung hat, eine rassismuskritische Gegenrede zu präsentieren. Manchmal geht es um die Außenstehenden, die nichts sagen. Und das ist in der Regel die Mehrheit. Wenn Menschen keine Ahnung haben, aber mitreden, verwässert das die Diskussion. Ich würde den Menschen raten: Machen Sie Antirassismus-Workshops. Wenn Sie nicht rassistisch sein wollen, dann tun Sie etwas dagegen. Es war noch nie so leicht, sich über Antirassismus zu informieren, wie im Jahr 2023.
Liegt Rassismus in der Natur des Menschen?
Wir kommen nicht rassistisch auf die Welt. Es gibt kein Rassismus-Gen, das wir alle besitzen. Sondern wir lernen, rassistisch zu sein. Und zwar nicht, weil unsere Eltern oder Lehrkräfte bösartige Wesen sind. Sondern, weil das scheinbar normale Wissen, das wir alle reproduzieren, nicht frei von rassistischen Wissensbeständen ist. Aber so, wie wir Rassismus erlernen, können wir auch Rassismus verlernen, indem wir uns Wissen darüber aneignen und uns ganz klar gegen Rassismus zur Wehr setzen.