Das Bootsunglück mit Hunderten toter Flüchtlinge vor der Küste Griechenlands hat den Blick erneut auf ein Drama gelenkt, das sich seit Jahren abspielt. Mehr als 20.000 tote Flüchtlinge im Mittelmeer – so die offiziell registrierte Zahl. Staatlich organisierte Rettung gibt es nicht, private Hilfsaktionen werden immer mehr erschwert.
Es war ein deutliches Ausrufezeichen: Die Linke will mit der Seenot-Retterin Carola Rackete auf einem Spitzenplatz in die nächste Europawahl ziehen. Die parteilose Carola Rackete steht prominent für einen klaren Kurs beim Thema Migration (und Klimagerechtigkeit).
Die heute 35-jährige Kapitänin hat mit ihrer Sea Watch 3 vor vier Jahren den Blick der Welt auf das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer gelenkt. Lampedusa wurde einmal mehr zum Symbol für eine Flüchtlingspolitik, die für viele als ein humanitäres Versagen gilt.
Carola Rackete hatte damals dem politischen Rechtsaußen der italienischen Politik Matteo Salvini die Stirn geboten. Der hatte als Innenminister untersagt, dass die Sea Watch 3 mit Dutzenden von geretteten Flüchtlingen an Bord den Hafen von Lampedusa anläuft. Die Kapitänin tat es trotzdem. Das brachte ihr eine Anzeige ein, später wurde sie freigesprochen. Italien änderte, wie Rackete später im Deutschlandfunk beschrieb, daraufhin erst einmal seine Politik: Immer mehr Rettungsschiffe wurden am Auslaufen aus den Häfen gehindert, vorgeblich wegen technischer Mängel. Weniger Schiffe auf See heißt weniger Gerettete – und weniger spektakuläre und dramatische Bilder in den Medien. Die Aufmerksamkeit schwindet – das Drama bleibt.
Illegale Pushbacks haben noch kurz vor der Parlamentswahl in Griechenland vor wenigen Wochen für heftige Diskussionen gesorgt. Am Wahlsieg der konservativen Nea Dimokratia mit Kyriakos Mitsotakis an der Spitze hat das nichts geändert.
Bis heute sind die wirklichen Ursachen für das Drama des im vergangenen Juni gesunkenen Flüchtlingsboots nicht endgültig geklärt. Von den vermutlich an die 750 Menschen an Bord sind möglicherweise um die 500 ums Leben gekommen, eine genaue Zahl gibt es bis heute nicht. Dafür schwere Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache. Es sind nicht die ersten.
Humanitäres Versagen in der Flüchtlingspolitik
Rückblick: 2015 wurde das Wort vom „Massengrab Mittelmeer“ geprägt. Im April war ein Flüchtlingsboot vor der libanesischen Küste gekentert, von den vermutlich 800 Menschen an Bord konnten nur wenige gerettet werden. Im selben Jahr sind nach Schätzungen etwa 4.000 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen, ein Jahr später sollen es über 5.000 gewesen sein. Es waren die Jahre mit den bislang größten Flüchtlingsbewegungen.
2015 haben sich geschätzt gut eine Million Menschen auf die riskante Flucht über das Mittelmeer gemacht, viele in kaum seetauglichen Booten unter jämmerlichen Umständen.
Zwei Jahre zuvor stand Lampedusa bereits im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Bei zwei Bootsunglücken kamen vermutlich um die 600 Menschen ums Leben. Italien startete die Rettungsaktion „Mare nostrum“, die 2014 endete, es begann die „Operation Triton“ unter Führung von Frontex, der EU-Grenzschutzagentur, die hauptsächlich der Grenzsicherung dienen sollte (und 2018 eingestellt wurde).
Frontex selbst steht immer wieder in der Kritik, auch hier steht der Vorwurf illegaler Pushbacks im Raum. Es kam zu Untersuchungen und personellen Konsequenzen. Im März dieses Jahres hat der Niederländer Hans Leijtens die Führung übernommen und erklärte als eines der wichtigsten Ziele, verspieltes Vertrauen zurückzugewinnen.
Auf dem Höhepunkt der Skandale um Frontex im vergangen Jahr hatte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) erklärt: „Wenn wir da wegschauen, dann gehen unsere Werte im Mittelmeer unter“, und dabei mit Blick auf Seenotrettung betont: „Mittelfristig muss diese Aufgabe wieder zu einer staatlichen Aufgabe werden.“ Diese hatten in der Vergangenheit nämlich private Hilfsorganisationen übernommen.
2015, auf dem Höhepunkt der Entwicklung, startete die Operation „Sophia“, die in erster Linie Schleuserkriminalität bekämpfen sollte. Seenotrettung erfolgte nur im Rahmen der Seefahrertradition und nach internationalem Seerecht. Seit 2019 stehen für „Sophia“ keine Schiffe mehr zur Verfügung, die Aktion beschränkt sich auf Luftaufklärung.
Seenotrettung liegt seither bei nicht-staatlichen Hilfsorganisationen und privaten Initiativen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk nennt Organisationen wie SOS Méditerranée, Mission Lifeline, Sea-Watch, Ärzte ohne Grenzen, Sea Eye und andere Organisationen. Seit 2020 werden Rettungsschiffe von der Initiative United4Rescue ins Mittelmeer entsandt.
Seit 2014 nimmt die Hotline „Watch the Med“ Notrufe von Migranten und Flüchtlingen entgegen und dokumentiert Todesfälle und Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Seeaußengrenzen auf ihrer Onlineplattform.
Die Schiffe der zivilen Seenotrettung haben nicht selten mit restriktiven Maßnahmen wie Beschlagnahmung oder hohen Geldstrafen zu kämpfen. Carola Rackete steht für einen von vielen Fällen. Oft wird ihnen die Einfahrt in sichere Häfen verwehrt und es dauert sehr lange, bis die geretteten Menschen das Rettungsschiff verlassen können. UNHCR und UN-Flüchtlingshilfe begrüßen ausdrücklich jede Maßnahme zur Rettung von Menschenleben auf dem Mittelmeer und fordern, dass die Arbeit ziviler Seenotrettungsorganisationen „nicht kriminalisiert werden sollte“.
2018 hatte der UNHCR zusammen mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) einen Vorschlag für ein Seenotrettungssystem vorgelegt, der aber „bislang wegen politischer Differenzen der EU-Mitgliedsstaaten nicht etabliert“ werden konnte.
Nach der Katastrophe vor wenigen Wochen vor der Küste Griechenlands hat das EU-Parlament nun eine neue Initiative ergriffen. In einer Resolution wird gefordert, dass EU-Länder und die europäische Grenzschutzagentur Frontex genügend Schiffe, Ausrüstung und Personal für einen „proaktiveren und koordinierteren Ansatz“ zur Rettung von Menschen zur Verfügung stellen sollen.
Private Seenotrettung wird weiter behindert
Dass Seenotrettung staatliche Aufgabe würde, wie es Außenministerin Baerbock vor Jahresfrist gefordert hat, ist allerdings nichts in Sicht. Stattdessen werden die Bedingungen für die nicht-staatliche, private Seenotrettung immer schwieriger. Selbst in Deutschland droht neues Ungemach. Nach einem Bericht des ARD-Magazins „Monitor“ vom Februar soll es im Bundesverkehrsministerium unter Volker Wissing (FDP) Pläne geben, die Schiffssicherverordnung zu verschärfen. Schiffe, die politischen, humanitären oder ideellen Zwecken dienen, sollen nicht mehr zum Freizeitbereich gehören. Die Folge wären verschärfte Auflagen, andere Versicherungsbedingungen und damit höhere Kosten. Das Ministerium selbst wies den Vorwurf, Seenotrettung damit zu erschweren, zurück; es gehe vielmehr sogar darum, die Arbeit abzusichern, zitiert „Monitor“ das Ministerium.
Italien hat unter der neuen Regierung seine Gesetze verschärft und in der Folge im vergangenen Monat zwei deutsche Rettungsschiffe (Mare*Go und Sea-Eye 4) vorübergehend festgesetzt. Vor Kurzem hatte auch die Humanity 1 über 200 Menschen gerettet, auch ihr war der Hafen in Ancona zugewiesen worden, über tausend Kilometer vom Einsatzort entfernt. Diese Strategie erinnert stark an Italiens früheres Vorgehen. Wenn die Schiffe tagelang unterwegs zu einem zugewiesenen Hafen sein müssen, können in dieser Zeit nicht zusätzliche Flüchtlinge italienischen Boden erreichen.
Italien verzeichnet in diesem Jahr bereits nach Regierungsangaben über 72.000 Menschen, die in Booten angekommen sind, im vergangenen Jahr waren es bis zum selben Zeitpunkt weniger als die Hälfte (knapp über 30.000).
Helfen könnten europäische Solidarität, auch mit einer geregelten Verteilung, und geregelte Zuwanderungsmöglichkeiten. Nach jahrelangen vergeblichen Bemühungen hat der letzte EU-Gipfel dazu grundsätzliche Verständigungen gebracht. Aber sie konnten weder einstimmig beschlossen werden, noch sind sie aktuell in der Umsetzung.
„Die menschliche Katastrophe, die sich im Mittelmeer ereignet, ist nicht hinnehmbar“, sagte IOM-Generaldirektor Antonio Vitorino bereits im April. Zu diesem Zeitpunkt waren schon 441 Tote offiziell registriert. Bis Anfang Juli waren es bereits 1.875. Die tatsächliche Zahl kann allenfalls geschätzt werden.