Die Erwartungen an den Flüchtlingsgipfel im Mai waren hochgeschraubt, die Enttäuschungen also zwangsläufig. Wichtige Themen sind vertagt auf November. Die Herausforderungen werden bis dahin nicht geringer.
Wie viele „Flüchtlingsgipfel“ es bisher gegeben hat, hängt davon, ab wann man die Zählung beginnen will. Eine steigende Zahl von Geflüchteten hat regelmäßig zu Betriebsamkeit auf höchsten politischen Ebenen geführt. Zum einen ging und geht es um die konkret zu bewältigenden Aufgaben und deren Finanzierung, zum anderen war gleichzeitig immer das Thema Begrenzung präsent. Das alles entlang der jeweils aktuellen wellenartigen Entwicklungen, wobei der Abstand kürzer und die Mächtigkeit größer wird.
Beim jüngsten Gipfel im Mai stand erst einmal im Vordergrund, die konkreten Probleme vor Ort besser zu bewältigen. Der Druck insbesondere der kommunalen Ebene für Unterstützung war enorm, die Ergebnisse im Vergleich zu Erwartungen und Forderungen eher überschaubar und ernüchternd.
Der Bundesfinanzminister hatte im Vorfeld vorgerechnet, wie viel der Bund – obwohl formal für vieles nicht zuständig – bis dahin schon geleistet hat und dass die Steuereinnahmen beim Bund zurückgehen, bei Ländern und Kommunen dagegen steigen. Am Ende musste er doch eine zusätzliche Milliarde zusagen. Für den Bundesfinanzminister zu viel, für die betroffenen Kommunen zu wenig. Auch andere Beschlüsse, etwa eine Verlängerung des Ausreisegewahrsams, oder die Absicht, weitere Staaten zu sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ und weiter auf europäische Vereinbarungen zu drängen, sind für die Herausforderungen vor Ort in den konkreten Situationen keine große Hilfe. Entsprechend groß die Enttäuschung.
Gesamtstaatliche Verantwortung
Entscheidende Punkte, wie etwa eine Klärung des komplexen Geflechts unterschiedlicher Zuständigkeiten, wurden auf den nächsten Gipfel im November vertagt. Dabei wäre eine Klärung Voraussetzung, um den Dauerstreit über die Finanzierung zumindest etwas zu entschärfen. Im Vorfeld des Gipfels hatten vor allem die Kommunen, aber auch Länder von einer „gesamtstaatlichen Verantwortung“ gesprochen – was in der Übersetzung die Forderung an den Bund nach mehr finanziellem Engagement bedeutet.
Flüchtlingspolitik ist Sache des Bundes, Asylverfahren liegen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), für Unterbringung und soziale Betreuung sind die Länder zuständig, und dort hängt es letztlich an den Kommunen. Im vergangenen Jahr wurden rund 218.000 Asylanträge registriert, in den ersten vier Monaten dieses Jahres bereits über 100.000.
Dazu kommen die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind und die nach EU-Vereinbarung einen besonderen Status haben. Das sind nach letzten Zahlen etwas über eine Million Menschen. Eine ganz exakte Zahl gibt es nicht, wegen des besonderen Status. Auch für diese Menschen braucht es Wohnraum, für deren Kinder Kita- und Schulplätze. Damit ist die Herausforderung rein zahlenmäßig größer als beim letzten Höchststand 2015/16. Und es gibt wegen des unterschiedlichen Status eine zusätzliche Herausforderung.
Eine Entspannung ist kaum zu erwarten. Der weitaus größte Teil der Menschen aus der Ukraine will nach wie vor lieber heute als morgen zurück in die Heimat, nicht wenige hatten das auch zeitweise versucht. Die Zahlen waren etwas rückläufig, aber Experten in Migrationsdiensten gehen davon aus, dass die Zahlen in den kommenden Monaten wieder steigen werden, wenn die militärischen Entwicklungen wieder an Intensität zunehmen.
Völlig unklar ist auch, wie sich die Dinge im Mittelmeerraum entwickeln, welche Folgen der Ausgang der Wahlen in der Türkei und die Entwicklungen im Iran, in Afghanistan und anderen Krisenherden haben werden.
Das erhöht wiederum den Druck auf europäische Maßnahmen. Dass es einen vielbeschworenen Verteilmechanismus geben wird, um Lasten gemeinsam zu tragen und Überforderungen möglichst zu vermeiden, ist nach wie vor nicht wirklich in Sicht.
Dafür ist man beim Mai-Gipfel auch auf die Idee eingeschwenkt, die Prüfung von Asylchancen schon an beziehungsweise vor den Außengrenzen durchführen zu lassen. Da regt sich aber erheblicher Widerstand in der Ampel beim grünen Koalitionspartner.
Letztlich wird auch an dieser Stelle über Maßnahmen diskutiert, die schon seit der letzten schwierigen Situation auf dem Tisch liegen. Ohnehin vollzieht sich die bundesdeutsche Politik in Sachen Geflüchtete und Asyl immer entlang großer Entwicklungen. Eine kontinuierliche Entwicklung mit einer einigermaßen erkennbaren Zielvorstellung ist nicht auszumachen.
Einen ersten Höhepunkt gab es nach Öffnung des Eisernen Vorhangs 1989/1990. 1992 wurden über 440.000 Asylanträge in Deutschland registriert (europaweit rund 700.000), vor allem von Menschen aus Ost- und Südeuropa. Zuvor kamen mehr als drei Viertel der Asylbewerber aus Afrika, das änderte sich auch mit dem Jugoslawienkrieg und dem Zerfall der Sowjetunion. 1990 erreichte die Zahl der Asylbewerber mit knapp 400.000 einen Jahreshöchststand.
Debatten um bekannte Vorschläge
Die Politik reagierte mit einer Änderung des Asylrechts, sprich Einschränkungen unter dem Prinzip eines „sicheren Drittstaates“ beziehungsweise sicheres Herkunftsland. Unterstellt wird, dass ein Asylantrag in einem sicheren Land gestellt werden kann, es also keine Notwendigkeit für einen Antrag in Deutschland gibt. Unabhängig davon kann ein Antrag nach der Genfer Flüchtlingskonvention gestellt werden. In diesem Fall entscheidet heute die Dublin-III-Verordnung (Europäisches Asylsystem, 2013), ob Deutschland für die Bearbeitung zuständig ist. Infolge der Asylrechtsänderung sank die Zahl der Bewerber deutlich auf rund 130.000 (1994) und nach Ende der Jugoslawienkriege auf unter 100.000 (2002).
Seit den bereits sehr hoch emotional diskutierten Gesetzesänderungen geht die Auseinandersetzung zwischen den Polen Bereicherung und Überforderung, Multikulti und Ausländerkriminalität sowie Deutschland als Einwanderungsland hin und her. Schlagworte, wie sie auch vor dem letzten „Flüchtlingsgipfel“ quer durch Interviews und Talkshows zu vernehmen waren. 2016 gesellte sich das Wort „Obergrenze“ dazu. Die Forderungen nach konsequenten Abschiebungen und einer rigiden Sicherung der EU-Außengrenzen begleitet die Flüchtlingsdiskussion permanent. Anläufe zu einer europaweiten Verteilung von Geflüchteten scheiterten, es blieb bei den Zusagen einzelner Mitgliedsstaaten.
2015/2016 waren die Jahre mit den bislang höchsten Flüchtlingszahlen (1,1 Millionen Asylanträge). Insbesondere die CSU drängte auf eine „Obergrenze“, die von der Großen Koalition 2016 auf einen Korridor von zwischen 180.000 bis 220.000 festgelegt wurde. Bereits 2018 wurde die Zahl mit rund 164.000 deutlich unterschritten. 2020/2021 kamen auch die Fluchtbewegungen infolge der Pandemie und der verhängten Einschränkungen fast zum Erliegen. Experten hatten damals aber schon vorausgesagt, dass es zu einem Nachholeffekt kommen würde. Zu Corona- und Lockdown-Zeiten hatten aber Migrations- und Flüchtlingspolitik keine Priorität.
Während auf der einen Seite immer wieder versucht wird, die Fragen von Asylsuchenden, Geflüchteten und Migration, neuerdings auch Klima-Migration zu differenzieren, geraten in den aktuellen Debatten die Dinge immer wieder mal in einen großen Rührtopf. Sie werden zudem noch angereichert mit den Diskussionen um Deutschland als Zuwanderungsland und der Notwendigkeit, ausländische Fachkräfte angesichts eines eklatanten Fachkräftemangels anzuwerben sowie der demographischen Entwicklung. Manches lässt sich auch nicht ganz sauber voneinander abgrenzen. Gerade deshalb wäre eine sachlichere und distanziertere Debatte hilfreich. Auch dieser Appell zieht sich durch alle Diskussionen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Den Drang, die Themen populistisch zu behandeln, hat es nicht eindämmen können. In jedem Wahlkampf und vor jedem Gipfel begegnen uns dieselben Schlagwörter. Das dürfte sich im Herbst bei den großen Landtagswahlen und anschließend vor dem nächsten vereinbarten Gipfel kaum anders anhören.