Das Horrorszenario vom Sommer 2022 scheint sich zu wiederholen. Schon wieder werden in den Zuflüssen der Oder tote Fische angeschwemmt. Die zuständigen Behörden in Polen sahen es, informierten aber ihre deutschen Partner nicht rechtzeitig. Wie kann das sein?
Es waren dramatische Bilder, als im Sommer 2022 Massen toter Fische in der Oder trieben. Wie in einem Science-Fiction-Film bewegte sich die unheimliche Szene flussabwärts. Auf beiden Seiten des Flusses kescherten Anwohner, Umweltschützer, Feuerwehrleute und viele Freiwillige fast 400 Tonnen Fischkadaver aus dem Uferschilf. Dazu kamen Millionen verendeter Muscheln und Krebstiere. Die Oder war praktisch tot.
Fieberhaft suchten Fachleute in Laboren nach der Ursache für eine der größten Fluss-Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte. Eine Alge, die sonst nur im Brackwasser vorkommt, wurde identifiziert: die Goldalge Prymnesium parvum. Sie konnte sich ungewöhnlich stark vermehren, weil die Oder mehrfach salziger war als die Ostsee. Im zweiten Hitzesommer in Folge führte der Grenzfluss außerdem extrem Niedrigwasser und heizte sich stark auf. So konnte die Goldalge ihr Gift produzieren, das den Schleimschutz der Fischhaut zerstört und die Kiemen verklebt. Die Fische mussten qualvoll ersticken.
Salzeinleitungen aus dem Bergbau
Vor wenigen Wochen wurden auf polnischer Seite im Gleiwitzer- und im davon abzweigenden Kedzierzyn-Kanal schon wieder insgesamt eine halbe Tonne verendeter Fische geborgen. Bereits im Mai und im April wurden dort erneut zu viel Salz und eine giftige Algenart nachgewiesen. Es wirkt wie ein Déjà-Vu. Die Katastrophe aus dem letzten Jahr ist noch nicht verdaut, da droht sich das ganze Szenario schon zu wiederholen.
Schon länger gibt es die Vermutung, dass polnische Kohleminen und Stahlbetriebe im Süden des Landes zu salzhaltige Abwässer in Oder-Zuflüsse und Kanäle einleiten. Die polnische Regierung stritt das immer ab. Einheimische Mitglieder von Greenpeace in Polen analysierten jedoch regelmäßig Wasserproben, die diese These stützten. Besorgte Anwohner und Umweltschützer konnten dank ihrer Ortskenntnis fast 300 illegale Einleitungsrohre an verschiedenen Zuflüssen und Kanälen filmen. Forschende haben daraus regelmäßig Wasserproben genommen – tiefschwarzes Wasser – und festgestellt, dass es extrem salzig ist. Ideal für die Vermehrung der Goldalge.
Alles deutet darauf hin, dass die zweite Katastrophe schon im Gange ist. Eine Grünen-Abgeordnete des polnischen Parlaments berichtete auf Anfrage von „Die Zeit“, sie sei daran gehindert worden, sich am Gleiwitzer Kanal ein Bild vom neuerlichen Fischsterben zu machen. Die Behörden seien bemüht gewesen, möglichst schnell und unbeobachtet alle Spuren zu beseitigen. Das Ökosystem der Oder zu schützen sollte jedoch eine gemeinsame deutsch-polnische Aufgabe sein. Da hakt es allerdings gewaltig.
Im Herbst und Winter 2022/23 schien es zunächst so, dass sich die Fischbestände der Oder erholen könnten. Doch durch engmaschige Kontrollen der Wasserqualität an den Oder-Zuflüssen verdichtete sich für besorgte Umweltaktivisten in Polen die Vermutung zur Gewissheit: Hauptverursacher des Fischsterbens sind die zu hohen Salzeinleitungen der südschlesischen Bergbaubetriebe. Die wehren sich und behaupten weiter, dass sie dies nur innerhalb der zulässigen Grenzwerte tun.
Darauf angesprochen, reagierte die polnische Umweltministerin Anna Moskwa schmallippig. Anfang Juni hatte die deutsche Seite zu einer Oder-Konferenz mit weiteren Partnern nach Schwedt an der Oder eingeladen. Frau Moskwa lehnte aus Termingründen ab. Ihrer deutschen Amtskollegin, Bundesumweltministerin Steffi Lemke, gelang es dennoch, die polnische Umweltministerin mehrfach persönlich zu treffen. Sie mahnte immer wieder mit Nachdruck, die Versalzung der Oder zu reduzieren und damit die Hauptursachen des Fischsterbens zu mindern.
Die polnische Seite verweist darauf, dass sie durchaus etwas zur Abwendung einer erneuten Katastrophe in der Oder tue. Ein eigens eingesetzter Krisenstab veranlasste, dass in die zur Oder führenden Kanäle vermehrt Sauerstoff eingeleitet wird. Um das Wachstum der Goldalge zu behindern, gibt man Wasserstoffperoxid dazu und beruft sich bei dieser Methode auf britische und amerikanische Erfahrungswerte. Dass der Salzgehalt der zur Oder führenden Gewässer schon jetzt wieder bedenklich hoch ist, hat man in Polen also anerkannt. Umweltministerin Moskwa lastet das aber zu Teilen den zu hohen Phosphat-und Stickstoffeinleitungen der Landwirtschaft an.
Man überwache das mit einem durchgehenden Monitoring und könne so gegebenenfalls mit Verboten reagieren, heißt es. Vertreter der Umweltorganisation WWF sind besorgt. Das erneute Anfallen toter Fische in den oberen Zuflüssen zeige doch, wie brenzlig die Situation sei, sagte der Referent für Gewässerschutz beim WWF Deutschland, Tobias Schäfer. Kurzfristige Symptombehandlung sei in der akuten Situation zwar richtig, allerdings sei das keine Lösung des Problems. Es müsse darum gehen, die Oder als Fluss-Ökosystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Massive Eingriffe des Menschen in Flussökosysteme
Die Oder sei im Moment ein schwer kranker Patient und müsse erst einmal gesund werden, meint auch Dirk Treichel, der Leiter des Nationalparks Unteres Odertal. Er ist mit seinem Team Hüter von Deutschlands einzigem Auennationalpark mit einer Ausdehnung von 10.000 Hektar zwischen Hohensaaten und Staffelde. Eine Bestandsaufnahme im Juni dieses Jahres ergab, dass das sensible System der Flussaue nach der Katastrophe im vergangenen Jahr 50 Prozent seines Fischbestandes verloren hat. 65 Prozent der Muscheln und Schnecken sind verendet und fallen als natürlicher Filter aus. Das Oder-Wasser ist eine trübe Brühe, schon wieder zu salzhaltig und mit 24 Grad zu warm. „Wir können keine Entwarnung geben“, sagt Treichel, „Im Gegenteil – auch im vorigen Jahr kam der Höhepunkt der massiven Vermehrung der Goldalge und damit das große Fischsterben erst im August.“
Deutschland und Polen haben 2015 ein Abkommen über den Ausbau der Oder abgeschlossen. Darin ist unter anderem vorgesehen, dass Polen seine Oder-Seite zum besseren Hochwasserschutz ausbaut und gleichzeitig die Fahrrinne für bessere Schiffbarkeit bis zur Ostsee vertieft. Auf Deutschland kommt die Ausbaggerung der Klützer Querfahrt zu, einer Kanalverbindung zwischen Ostoder und Westoder. Damit wird ein alter Transportweg wieder ertüchtigt, wovon Betriebe in Schwedt und Templin profitieren würden.
Diese Pläne sieht Dirk Treichel inzwischen sehr kritisch: Eine tiefere Oder fließt schneller und entzieht den beidseitigen Oder-Auen das Grundwasser. Das führt zum Rückgang vieler geschützter Arten, für deren Schutz der Nationalpark Unteres Odertal schließlich angetreten ist. „Wir stehen vor zwei massiven globalen Problemen, dem Klimawandel und dem Artensterben. Angesichts dessen müssen wir uns fragen, ob solch massive Eingriffe des Menschen in Fluss-Ökosysteme noch zeitgemäß sind“, mahnt Treichel.
Umso wichtiger wäre, im Vertragswerk von 2015 nachzujustieren, quasi eine abgestimmte Strategie von Deutschen und Polen an Oder und Neiße zu entwickeln. Doch Verhandlungen mit Polen sind ein sehr sensibles Thema. Eine Klage gegen den Oder-Ausbau vor dem Obersten Gericht in Warschau und die Sperrung von EU-Geldern waren zeitweise erfolgreich. Doch wer von Frankfurt (Oder) aus auf die polnische Seite nach Słubice schaut, sieht: Die polnischen Baubetriebe baggern einfach weiter. Vor allem die Bergbauindustrie in Südschlesien ist für die Polen identitätsstiftend. Damit verbunden sind Abertausende Arbeitsplätze, und im Herbst finden Parlamentswahlen statt.
Nicht zuletzt mahnt das Auswärtige Amt im Umgang mit Polen auch aus geopolitischen Gründen alle Beteiligten zur Zurückhaltung: Denn die Versorgung der vom Krieg gebeutelten Ukraine mit Waffen und Hilfsgütern läuft schließlich zu großen Teilen über Polen. Unterm Strich geht es also darum, Prioritäten zu setzen. Und der Naturschutz scheint mal wieder den Kürzeren zu ziehen.