„London by the Sea“ nennen viele Engländer das populäre Seebad nahe ihrer Hauptstadt. Die Stadt ist klein. Fast alles hier kann man bequem zu Fuß erreichen. Dennoch ist sie groß genug, um sich in ihren Gassen voller Läden und Lokale zu verlieren. Am Ende schaut man immer noch einmal aufs Meer.
Das letzte Tageslicht legt einen matten Silberschimmer auf das fast wellenlose Wasser des Kanals. Wie das Gerippe eines großen, unbekannten Wesens ragt daraus das nackte Stahlgerüst des West Piers in den blau und rosarot gestreiften Himmel. Der marode Blickfang ist der letzte Rest der einst so eleganten, 340 Meter langen Seebrücke. 1866 wurde sie errichtet. Später setzte man noch Pavillons für Konzerte und Theater obendrauf. Zeitweise spielte hier ein eigenes Orchester.
Nach der Schließung 1975 war das Bauwerk dem Verfall geweiht. Stürme und zwei große Feuer vernichteten es fast komplett. Inzwischen offiziell eine Ruine, sind seine charmant-morbiden Überbleibsel immer noch ein Teil von Brightons Skyline. Zu der gehört seit sieben Jahren eine Attraktion, die recht umstritten ist – der Brighton i360.
Ein Gegner des superschlanken Turms mit ringförmiger Aussichtskanzel lästerte einmal: „Er sieht aus, als hätte jemand einen Donut auf einen Besenstiel gesteckt.“ Von überwältigender Schönheit ist dieses Bauwerk wirklich nicht. Nichtsdestotrotz ist das Auf und Ab in dieser Vertikalseilbahn ein großer Spaß. Während der gemächlichen, rund 25-minütigen Fahrt bewegen sich die bis zu 200 Passagiere frei in der geschlossenen, verglasten Rundkabine und genießen die grandiose Aussicht auf Stadt und Umland, Küste und Kanal. Am Abend, wenn die „Nyetimber Sky Bar“ offen ist, dauert die Tour rund zehn Minuten länger.
Ob ohne oder mit dem Brighton i360: Die ganze Szenerie des Stadtstrands wirkt besonders abends wie ein lebendiges Gemälde, zu dem auch die Betrachtenden gehören. Ins Bild tritt nun ein neues Elementepaar: ein Mann und sein Metalldetektor.
Wie einen Rasentrimmer führt er das Gerät in Bodennähe kreisend über groben Kies, systematisch tastend, immer hoffend, etwas Wertvolles zu finden. „Meistens sind es Kronkorken und Dosenlaschen, Münzen oder Modeschmuck“, berichtet Dumitru. Vor zwölf Jahren kam er aus Rumänien nach Brighton – der Arbeit wegen. Geblieben sei er, weil er hier sein neues Ich und obendrein die Liebe seines Lebens fand.
„In meiner alten Heimat könnte ich niemals mit einem Mann zusammenleben“, sagt Dumitru. Seinen Wahlwohnort, inoffiziell die „schwule Hauptstadt Großbritanniens“, schätzt er für dessen lebensfrohe, tolerante Atmosphäre. Unter allen britischen Gemeinden hat Brighton and Hove (Hove wurde 2000 eingemeindet) den höchsten Anteil gleichgeschlechtlich orientierter Einwohner.
Neben seinem Job als Krankenpfleger sucht Dumitru in der Freizeit Schätze. Auch kleine Gold- und Silberteile seien gar nicht selten. „Ein dicker Fingerring war bislang mein größter Fisch“, plaudert der Hobbyarchäologe, der nie mit leeren Händen heimgehe. „Mindestens ein bisschen Müll nehme ich immer mit“, sagt er lachend.
Vom Meer her weht ein kühles Lüftchen auf die Promenade. Es ist recht frisch an diesem Frühlingsabend – für Festlandeuropäer heißt das: Jackenwetter. Die Einheimischen tragen T-Shirts, Shorts und Badelatschen oder superkurze Kleidchen. Denn jetzt ist Partytime – wie jeden Tag in Brighton. Und dicke Sachen braucht man nicht zum Feiern.
Das Viertel von Old Steine und St. James’s Street ist eine bunt zusammengewürfelte Ansammlung aus Pubs und Shops, Cafés, Läden und Lokalen – von ultracool bis megaschrullig, von Top-Design bis Kitsch-Alarm. Entsprechend breitgefächert ist das Publikum. Trotz Kontrasten arrangiert sich dieser Mix zu einem gutgelaunten, recht entspannten Durcheinander. Und das beginnt schon auf der Straße.
Ob graue Maus oder Exzentriker: Für alle hier scheint es total normal zu sein, dass jeder so ist, wie er ist. Zwei Muskelmänner taumeln liebesblind und knutschend durch die Menge. Verständnisvoll weicht eine Frau mit Einkaufstüten aus. Der Herr mit Hut und Frack sieht aus, als hätte er bei „Downton Abbey“ mitgespielt. Ein Mädchen auf dem Skateboard hat sich in eine Regenbogenfahne eingewickelt. Durchs Fensterglas des Cafés „Metrodeco“ sieht man eine feine Dame und ihren Pinscher speisen. Beide tragen Partnerlook in pink und silber.
Vor Ladenschluss noch schnell zu Dean’s, dem herrlich altmodischen Haushaltsgeräteladen, um einen Stromadapter zu besorgen. Der Inhaber, ein Gentleman mit Fliege und Arbeitskittel, sieht irgendwie dem neuen König ähnlich. In aller Ruhe und mit großer Sorgfalt schraubt er die Plastikteile auseinander, prüft sie, setzt sie zusammen und versichert dem verdutzten Kunden, dass er das Teil unbesorgt verwenden könne.
Noch sind die Pubs und Bars in der St. James’s Street ziemlich leer. Die Happy Hour wird das ändern. Für viele sind zwei Cocktails für zehn Pfund ein Grund, den Abend etwas früher zu beginnen. Manche bringen ihn damit auch sehr schnell hinter sich – so wie höchstwahrscheinlich diese äußerst gutgelaunte, wenn auch schon etwas mitgenommene Königin mit Sektglas vor dem Village. Ihre Pappkrone sitzt schief – wohl, weil sie einen in der Krone hat.
Von Top-Design bis Kitsch-Alarm
Nun aber los! Der Run auf günstige Getränke hat begonnen. Er ist das Vorspiel einer langen Partynacht. Ein erstes Bierchen am Kamin im „Fallen Angel“ bei Barkeeper Richard, das zweite im „Black Dove“, wo gerade Cool Jazz läuft, ein drittes in „The Zone Bar“. Die plüschige Piano-Bar ist Tummelplatz für alle, die sich gern in Schale werfen – ob für die Bühne oder einfach so. Mit falschen Haaren, aber echter Leidenschaft trällert Sängerin Lola Lasagne „It’s A Wonderful Day“. Ihr Publikum findet das auch. Nach dem dritten Pint wird Bier nicht mehr gezählt. Noch ein Whisky-Cola in Brightons dienstältester, kürzlich wiedereröffneter Gay-Bar „Bulldog“. Dann sind alle schön. Lustig sowieso. Irgendwann hat man den Eindruck, in den Kneipen nichts mehr zu verpassen. Die Dame mit verrutschtem Kopfschmuck ist längst abgezwitschert. Alle, die noch stehen können, ziehen eine Straße weiter. Dort, an der „Marine Parade“, steppt der Partybär, denn hier reiht sich ein Dancefloor an den anderen.
In einem feiert man die 80er und 90er, in anderen berauscht man sich an Techno-Donnern oder flirrenden Elektro-Beats. An allen dieser Clubs weht oder blinkt eine Regenbogenfahne. Vor der Türe rauscht das Meer. Die Möwen kreischen. Der neue Tag hat schon begonnen. In Brighton geht die Sonne häufig vor dem Schlafengehen auf.
Bis zum Bett ist es zum Glück nicht weit. Denn das steht im „Snooze“ gleich um die Ecke. Das kleine, unkonventionelle Hotel ist liebenswert und urgemütlich, jeder Raum ein Unikat. Sein Stil: exzentrisch, edel, witzig, farbenfroh – ein Potpourri aus Vintage, Pop und eleganten Formen.
An den Wänden hängen Blechreklameschilder, Mona Lisas, Kollektionen von gerahmten Spiegeln oder Küchenuhren, Fotos, Briefmarkencollagen. Ein Kamin ist hellblau angemalt, ein Waschbecken mit roten Rosen. Schicke Plastikhocker messen sich mit schnörkeligen Holzkommoden. Nach einer kurzen „Nacht“ im Leopardenmuster-Bett gibt’s Bio-Frühstück à la carte.
Vom Küstennest zum mondänen Seebad
Nun ist Zeit für einen Stadtrundgang. Und der beginnt am Brighton i360. „Als die gläserne Ringkapsel auf einem Feld in Frankreich montiert wurde, rief ein Bauer bei der Polizei an, weil er sie für ein Ufo hielt“, erzählt John Carmichael, der Guide. Auch viele Einheimische sähen das Objekt, das wie das „London Eye“ vom Stararchitekturbüro Marks Barfield stammt, als etwas Außerirdisches, das nicht nach Brighton passe. John sieht es so: „Seit 150 Jahren bummeln Leute hier auf langen Molen übers Wasser. Dank Turmbahn kann man nun auch senkrecht durch die Luft am Meer spazieren.“
Genau genommen passe dieses ziemlich schräge Bauwerk genauso gut in die auf liebenswerte Weise schrullig bis verrückte Stadt wie ihr exzentrischstes Gebäude, findet John und führt seine Besucher zu ihm hin. Es ist der orientalische Palast Royal Pavilion. Der junge Prinz von Wales, später König Georg IV., erwarb das vordem viel bescheidenere Landhaus 1786 und ließ ein Märchenschloss daraus entstehen. Die Luxus-Datscha im Exotik-Look (außen indisch, innen chinesisch) löste einen Bau-Boom aus. Binnen Kurzem wuchs der Ort zur Stadt. Handwerk, Handel und das Gastgewerbe blühten.
„Ende des 18. Jahrhunderts war Bade- und Partyurlaub in Brighton schon ein Trend – am liebsten mit eigenem Feriendomizil“, erzählt der Gästeführer. Die Verwandlung vom Küstennest zum mondänen Seebad hatte ziemlich genau 1750 begonnen. In jenem Jahr veröffentlichte der Arzt Richard Russell seine Dissertation, in der er darstellte, wie wohltuend und heilsam das Meerwasser bei Brighton ist. Zugleich eröffnete der geschäftstüchtige Mediziner hier ein privates Sanatorium und lockte erste gutbetuchte Kurpatienten an.
In den Pensionen und Hotels, die man nun baute, checkten nicht wenige gleich für den ganzen Sommer ein. John weiß: „Auch Abenteurer und Ausreißer, darunter Künstler oder Schöngeister, die eigentlich das Land verlassen wollten, dann aber doch zu wenig Geld für eine Schiffsfahrkarte hatten, blieben hängen in dem sonnenwarmen Ort.“ Der wurde bald zu einem Treffpunkt der Bohème.
Kostümverleihe und Plattenbars
Auf Kunst, Genuss- und Spaßkultur stößt man hier heute überall. Die meisten Ateliers und Galerien befinden sich in den Art-Studios entlang der Promenade sowie in The Lanes im quirlig bunten, kreativen Viertel North Laine. Hochkonzentriert versammeln sich Designerläden, Retro-Shops und ausgefallene Kostümverleihe, Biowarenhäuser, Plattenbars und Veggie-Schuhgeschäfte. Wie in der ganzen Stadt sind hier auch viele trendige Cafés und Restaurants zu finden.
Bevor die nächste Kneipenrunde startet, bietet sich ein Bummel auf dem Brighton Palace Pier an. Auf der historischen Seebrücke, bestückt mit Spielhallen, Karussells und anderen Jahrmarktattraktionen, steht oder sitzt man in der ersten Reihe, wenn sich kurz vor Sonnenuntergang Tausende von Staren zu famosen Figurenflügen treffen.
In spontaner, doch perfekter Choreografie häufen sie sich zu regelrechten schwarzen, zwitschernden Wolken. Im rauschenden Sturzflug modellieren sie immer wieder neue Formationen, bewegen sich mit rasantem Tempo zwischen Pier und Promenade, bis es Zeit zum Schlafengehen ist. Aber nur für kleine Vögel.