Aufgeben war für Ernest Shackleton nie eine Option. Der Polarforscher meisterte dank herausragender Führungsqualitäten selbst scheinbar auswegloseste Herausforderungen – auch wenn ihm der ganz große Erfolg versagt blieb. Dieser Tage würde er seinen 150. Geburtstag feiern.
Ungläubig starrten die Männer am Strand auf das, was sich im sich lichtenden Nebel am Horizont abzeichnete: ein Schiff – der „Boss“ hatte Wort gehalten. Sie waren gerettet. Alle.
Der „Boss“, das war der britische Polarforscher Sir Ernest Shackleton, und er hatte es tatsächlich fertiggebracht, zusammen mit einer kleinen Crew in einem kaum sieben Meter langen Rettungsboot die etwa 1.300 Kilometer zwischen der in der Antarktis gelegenen Elephant Island und dem nächsten erreichbaren bewohnten Ort auf Südgeorgien zu überwinden, um Hilfe zu holen. Schwere See, heftige Stürme und eisige Kälte hatten das Unterfangen aussichtslos erscheinen lassen, aber die Männer hatten keine Wahl: Von allein würde keine Hilfe kommen.
Im August 1914 waren sie unter Shackletons Führung zur Imperial Trans-Arctic Expedition aufgebrochen mit dem Ziel, als erste den antarktischen Kontinent vollständig und über den Pol zu durchqueren. Aber stattdessen hatten sie mehr als eineinhalb Jahre im ewigen Eis festgesessen. Nur der Beharrlichkeit und den Führungsqualitäten Shackletons war es zu verdanken, dass sie mit dem Leben davonkamen.
„By endurance we conquer“ – „Durch Ausdauer zum Sieg“, so lautet das Motto der Familie, in die Ernest Henry Shackleton am 15. Februar 1874 in Kilea im County Kildare in Irland geboren wurde. Er sollte sich des Mottos würdig erweisen. Sein Vater hatte für ihn ein Medizinstudium vorgesehen, doch Ernest wollte zur See. Darum ging er als Kadett zur britischen Handelsmarine und erwarb dort 1998 sein Patent als Handelskapitän.
Seit etwa 1895 war in ihm der Wunsch gereift, Polarforscher zu werden. Es winkten Ruhm, Ehre und möglicherweise Reichtum. 1901 gelang es ihm schließlich, einen Posten als Dritter Offizier bei Robert F. Scotts „Discovery“-Expedition zu bekommen.
Durch seine offene und ungezwungene Art erlangte er schnell große Beliebtheit bei der Mannschaft. Diese Lockerheit stand jedoch im Gegensatz zu Scotts Führungsstil, der auf Autorität und militärischer Disziplin basierte. Ein gescheiterter Versuch, den Südpol zu erreichen endete in einer Beinahe-Katastrophe.Alle drei Teilnehmer – Scott, Shackleton und der Wissenschaftler Edward Wilson – erkrankten zeitweise schwer, und keiner der 22 Schlittenhunde überlebte den Trip. Auf dem Rückweg war es zu einem Zerwürfnis gekommen – angeblich sogar mit Handgreiflichkeiten –, welches das Verhältnis der beiden Männer nachhaltig beschädigte. Scott ließ ihn für dienstuntauglich erklären und schickte ihn nach Hause.
Zurück in England unternahm Shackleton zahlreiche Vortragsreisen, arbeitete zeitweise als Journalist und versuchte sich mehr schlecht als recht als Unternehmer. Außerdem heiratete er Emily Dorman, eine Tochter aus gutem Hause, mit der er bereits seit 1897 liiert war. Aus der Ehe gingen im Laufe der Jahre drei Kinder hervor.
Während dieser Zeit bereitete er stetig seine eigene Antarktis-Expedition vor und präsentierte 1907 der Royal Geographic Society seine Pläne. Er wollte sowohl den geografischen als auch den magnetischen Südpol erreichen.
Nun erfuhr er, dass sein Rivale Scott unter größter Geheimhaltung ebenfalls einen erneuten Vorstoß zum Pol plante. Das Verhältnis zwischen den beiden war endgültig zerrüttet, nachdem Scott sich in seinem Reisebericht höchst abfällig und wahrheitswidrig über Shackleton geäußert hatte. Dennoch ließ dieser sich von Scott das Versprechen abtrotzen, sich aus dem Gebiet um den McMurdo-Sund fernzuhalten, dem Ausgangspunkt der „Discovery“-Expedition – eine der wenigen Stellen in der Antarktis, die zeitweise eisfrei ist. Scott wollte von dort auch seinen zweiten Versuch starten und hatte „ältere Rechte“ geltend gemacht.
Im August 1907 machte sich das Expeditionsschiff „Nimrod“ auf den Weg. Da an zwei der dafür vorgesehenen Stellen ein Anlanden und die Errichtung eines Winterlagers unmöglich war, setzte Shackleton sich über die Vereinbarung hinweg und fuhr zum McMurdo-Sund. Zwar konnte er auch hier nicht an der vorgesehenen Stelle landen, dennoch war Scott erbost als er davon erfuhr. Ende Oktober 1908 startete Shackleton gemeinsam mit drei Begleitern seinen „Angriff“ auf den Pol, doch Anfang Januar musste er 180 Kilometer vom Pol entfernt einsehen, dass er wegen zahlreicher Widrigkeiten sein Ziel nicht erreichen würde und erneut umkehren. Nach diesem Scheitern freute Scott sich spöttisch, dass Shackleton nun für ihn den Weg über den Beardmore-Gletscher gefunden hatte.
Bereits auf dieser Reise stellte er seine Führungsqualitäten unter Beweis. Obwohl er nie einen Zweifel daran aufkommen ließ, dass er der „Boss“ sei, wie ihn seine Männer auch nannten, schuf er dennoch eine kameradschaftliche Atmosphäre, die geprägt war von gegenseitigem Respekt und Anerkennung. Drill und Befehlston wie von Scott bevorzugt waren ihm fremd, für ihn stand der Mensch im Vordergrund. Dennoch konnte er, wenn es sein musste, knallharte Entscheidungen treffen. Seine Männer würden ihm trotzdem blind vertrauen.
Ritterschlag durch König Edward VII.
Die Expedition wurde keineswegs als Fehlschlag gewertet, tatsächlich gilt sie sogar als Shackletons wissenschaftlich erfolgreichste. Man hatte einen neuen Südrekord aufgestellt, den magnetischen Südpol lokalisiert. Außerdem war die Erstbesteigung des 3.794 Meter hohen Vulkans Mount Erebus geglückt.
Zurück in England wurde er von der Bevölkerung begeistert empfangen. Die Royal Geographic Society gab sich zurückhaltender – Shackleton hatte es gewagt, sich ihrem großen Helden Scott zu widersetzen. Man verlieh ihm zwar die begehrte Polarmedaille, doch wurde darauf geachtet, dass diese nicht ganz so groß ausfiel wie die, die Scott bekommen hatte. Die zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen gipfelten Ende 1909 im Ritterschlag durch König Edward VII. Finanziell hatte ihn die Reise allerdings fast ruiniert.
In den folgenden Jahren unternahm er erneut zahlreiche gut dotierte Vortragsreisen, während sich seine Erfolge als Unternehmer in überschaubaren Grenzen hielten. Eine weitere Expedition hatte er zunächst nicht geplant. Doch dann kam es Anfang 1912 zur Katastrophe: Robert F. Scott hatte nicht nur das Wettrennen zum Südpol gegen Roald Amundsen verloren, er war auch bei seinem Versuch ums Leben gekommen.
Shackleton begann mit den Planungen für seine Imperial Trans-Arctic Expedition. Durch seine Popularität gelang es ihm schnell, Sponsoren zu finden und so konnte er – der Legende nach – bald seine berühmte Zeitungsanzeige schalten: „Männer gesucht für gefährliche Reise. Geringer Lohn, bittere Kälte, lange Monate völliger Dunkelheit, ständige Gefahr. Sichere Heimkehr zweifelhaft. Ehre und Anerkennung im Erfolgsfalle.“ Er erhielt angeblich 5.000 Bewerbungen.
Es wurden zwei Teams zusammengestellt: Eines sollte Anfang August 1914 unter Führung von Shackleton an Bord seines Schiffes „Endurance“ ins Weddell-Meer aufbrechen und von dort aus die Durchquerung der Antarktis versuchen. Die zweite Gruppe sollte mit der „Aurora“ zum Zielort am McMurdo-Sund im Ross-Meer fahren und von dort aus Versorgungsdepots auf der zweiten Hälfte des geplanten Marschweges anlegen.
Die Natur machte seine Pläne in weiten Teilen zunichte. Angekommen in der Antarktis stieß er wesentlich früher auf starkes Treibeis als erwartet, auch das Packeis erwies sich als ungewöhnlich stark. Anfang Februar 1915 war die „Endurance“ völlig vom Eis eingeschlossen. Befreiungsversuche mit Äxten und Sägen erwiesen sich schnell als zwecklos – man würde an Bord des Schiffes überwintern müssen. Die ersten Monate verliefen relativ problemlos, doch im Oktober nahm der Druck des Packeises zu und begann, die „Endurance“ langsam aber sicher zu zerquetschen.
Shackleton musste einsehen, dass das Schiff nicht zu retten war. Darum wurde ein Versuch unternommen, entweder festes Land oder die offene See zu erreichen, aber die schweren Rettungsboote ließen sich kaum durch das zerklüftete Packeis ziehen. Nach wenigen Kilometern sahen sie sich zur Aufgabe gezwungen und errichteten ein Camp auf dem Eis, von wo aus sie mit ansahen, wie ihr Schiff langsam vom Eis verschlungen wurde und schließlich am 21. November sank.
Auch ein zweiter Versuch eines Marsches Richtung Norden musste nach wenigen Tagen abgebrochen werden. Ein neues Camp wurde errichtet. Anfang April 1916 zerbrach die Eisscholle unter dem Lager, die Männer mussten in die Boote umsteigen. Es gab wohl Inseln, auf denen Vorratsdepots angelegt waren, doch diese waren wegen der vorherrschenden Winde und Strömungen kaum erreichbar. Als einzige Option blieb Elephant Island, wo es immerhin Pinguine und Robben als Nahrungsquelle gab.
Zweiter Herzinfarkt war tödlich
Sie erreichten die Insel nach wenigen Tagen und richteten sich ein. Zwei der Rettungsboote wurden zu Hütten umfunktioniert. Das dritte, die „James Caird“, wurde verstärkt und bekam ein geschlossenes Deck, sodass es eine längere Seereise überstehen konnte. Shackleton wählte fünf Mann aus, mit ihnen wollte er die gefährliche Fahrt nach Südgeorgien wagen. Sein Stellvertreter Frank Wild sollte dafür sorgen tragen, dass die restlichen 21 Mann bei Laune und am Leben blieben.
Am 25. April stach die „James Caird“ in See. Nach 16 Tagen voller Widrigkeiten landeten sie auf der unbewohnten Seite von Südgeorgien – allein für das Anlanden hatten sie zwei Tage gebraucht. Die Fahrt gilt bis heute als eine der größten Heldentaten in der Seefahrtgeschichte.
Um den bewohnten Teil der Insel zu erreichen, musste diese durchquert werden. Das kaum erforschte Innere der Insel besteht aus einem Gebirge von bis zu 3.000 Metern Höhe. Gemeinsam mit Kapitän Frank Worsley und Oberbootsmann Tom Crean erreichte Shackleton nach einem 36-stündigen Gewaltmarsch die Walfangstation Stromness. Praktisch sofort begann er, die Rettung der übrigen Kameraden zu organisieren, dennoch brauchte es mehrere Anläufe, bis Elephant Island schließlich am 30. August erreicht und die restlichen Männer gerettet werden konnten.
Zur Geschichte dieses „erfolgreichen Scheiterns“ gehört auch, dass es dem zweiten Teil der Expedition, der „Ross-Meer-Gruppe“, weniger gut erging. Kurz nach ihrer Ankunft hatte sich das Schiff losgerissen, während sich noch ein Großteil von Ausrüstung und Vorräten an Bord befanden. Dennoch gelang es ihnen, die Depots anzulegen, allerdings kamen dabei drei Expeditionsteilnehmer ums Leben, darunter der Leiter Aeneas Mackintosh.
1921 plante Shackleton eine neuerliche Expedition, deren Ziele weitgehend vage blieben. Doch bereits auf dem Weg in die Antarktis erlitt er vermutlich einen ersten Herzinfarkt, kurz nach der Ankunft in Südgeorgien einen zweiten – der tödlich war. Auf Wunsch seiner Frau wurde er dort auch begraben.
„Endurance“ 2022 im Meer entdeckt
Im Laufe der Jahre geriet Shackleton im Schatten von Scotts vermeintlichem Glanz weitgehend in Vergessenheit. Erst in den 1990er-Jahren wurde er „wiederentdeckt“ und diente in Managerseminaren als Vorbild. Inzwischen gibt es zahlreiche TV-Dokumentationen, wobei als Basis dafür meist die geradezu sensationellen Fotos und Filmaufnahmen des Expeditionsfotografen Frank Hurley dienen.
Die Geschichte endet schließlich mit einer letzten Unwahrscheinlichkeit, von denen Shackletons Expeditionen so sehr geprägt waren: Am 5. März 2022 wurde das Wrack der „Endurance“ in 3.000 Metern Tiefe am Grund des Weddell-Meeres gefunden, aufrecht stehend und in erstaunlich gutem Zustand. 107 Jahre hat sie dort ausgeharrt und ihrem Namen alle Ehre gemacht.