Für ihre Flucht bezahlen Geflüchtete oft das Familienvermögen und riskieren ihr Leben: Das Programm „NesT“ der Bundesregierung und des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen UNHCR bietet eine sichere Alternative, aber die Hürden sind hoch.
Samstagvormittag auf einem Fußballplatz am Stadtrand von Paderborn: Kinder in grünen und schwarzen Trikots versuchen mehr oder weniger geschickt, den Ball ins gegnerische Tor zu befördern. Am Spielfeldrand feuern die Trainer ihre Mannschaften an. Verani Kartum lässt sich vom Spielstand nicht beirren. Für seine Schützlinge steht es ungefähr 0:10. Er zählt schon nicht mehr mit. Doch die jungen Kicker geben bis zum Abpfiff nicht auf. Kartum ist der Vorsitzende des Sportvereins SC Aleviten Paderborn. Gegründet hat er den Verein, um Geflüchteten und anderen Zuwanderern beim Ankommen in Deutschland zu helfen. Verani Kartum kam als Siebenjähriger 1977 aus der Türkei nach Deutschland – ohne ein Wort Deutsch. Weil er hier gut aufgenommen wurde und schnell deutsche Freunde fand, will er nun etwas zurückgeben. Der pensionierte Justizvollzugsbeamte engagiert sich komplett ehrenamtlich für Geflüchtete. Das Vertrauen und die Offenheit der Flüchtlinge bedeuten ihm, wie er sagt, mehr als Geld.
„Es gibt legale Wege nach Deutschland“
Anfang 2021 erhielt der SC Aleviten ein Schreiben der Bundesregierung, wie viele andere Vereine. Man suche für das Programm „Neustart im Team“, kurz NesT, Mentorengruppen, die Geflüchtete unterbringen und im ersten Jahr in Deutschland ehrenamtlich begleiten. „Das war für uns keine Frage“, erinnert sich Kartum. Dem Vereinsvorsitzenden ist es wichtig „damit zu zeigen, dass es sichere, legale Wege nach Deutschland gibt“. Im Club fand er schnell die fünf Mentoren, die man damals zum Mitmachen brauchte. Eine ehrenamtliche Mentorengruppe aus jetzt mindestens vier Personen verpflichtet sich, eine Flüchtlingsgruppe ein Jahr lang zu unterstützen. Dann dürfen die Geflüchteten einreisen, erhalten direkt eine Arbeitserlaubnis und Anspruch auf Bürgergeld.
Ausgewählt werden die Flüchtlinge vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen UNHCR aus einem Pool von Menschen, die besonders dringend Schutz benötigen. Das sind hauptsächlich Frauen und Kinder in Flüchtlingslagern, die keine Chance auf Rückkehr in ihre Heimat haben. Auch im Aufnahmeland dürfen sie nicht auf Dauer bleiben. Rund 200 Geflüchtete könnten so jedes Jahr nach Deutschland kommen. Seit dem Start von NesT 2019 waren es laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bis August 2023 nur 152 Personen. Das Problem: Sie dürfen erst einreisen, wenn die Helfer eine Wohnung gefunden und die Miete für ein Jahr bezahlt haben. Vor allem deswegen finden sich zu wenig Mentorinnen und Mentoren.
Verani Kartum hat es trotzdem geschafft. Er rief zahlreiche Vermieter an, die ein Angebot inseriert hatten. „Wenn man gesagt hat, die Wohnung ist für eine Flüchtlingsfamilie, dann war es vorbei.“ Man habe gleich aufgelegt oder ihm gesagt, er solle später wieder anrufen. Schließlich trat der SC Aleviten selbst als Mieter auf und erhielt einen Vertrag. Vor zwei Jahren war es dann so weit. Kartum und die anderen Mentoren holten „ihre“ Flüchtlingsfamilie aus dem Durchgangslager Friedland bei Göttingen ab: eine Mutter aus einem Flüchtlingslager in Kenia mit ihren vier Kindern. Die Familie stammt aus Somalia. Von dort war sie vor dem Bürgerkrieg nach Kenia geflohen. Deutsch sprach niemand von ihnen, zwei der vier Kinder nur etwas Englisch. „Die müssen wie Neugeborene alles lernen“, erinnert sich Verani Kartum. Sie kannten weder Toilette noch Kühlschrank oder Küchengeräte. Dafür sind die fünf Neu-Paderborner inzwischen schon weit gekommen. Abdullahi, der älteste Sohn der Familie, trainiert zweimal die Woche die Kinder-Mannschaft des SC Aleviten. Die Kinder mögen ihn. „Ein guter Trainer. Er hilft uns sehr“, lobt ein Junge, der – noch etwas atemlos – mit seiner Mannschaft vom Platz kommt. 13:0 haben sie verloren. Die Stimmung ist trotzdem gut.
Abdullahi ist inzwischen 21, sein Deutsch noch sehr holprig. Er will Altenpfleger werden. Auf die Idee hat ihn ein Kurs des Bildungswerks „In Via“ in Paderborn gebracht. Dort lernt er zusammen mit seiner Schwester Faduma und 14 weiteren Zuwanderern aus Afrika, Asien und der Ukraine nicht nur Deutsch: Der Kurs bietet auch eine Einführung in die Pflegeberufe. „Wir zeigen mit einem niedrigschwelligen Angebot, wie Pflege in Deutschland verstanden wird“, erklärt Lehrer Siegfried Besser. Der erfahrene Pfleger und Ausbilder musste selbst umdenken. „Für die meisten Teilnehmer*innen dieses Kurses war es bisher unvorstellbar, fremde Menschen zu pflegen“, sagt Besser. In ihren Herkunftsländern ist das Aufgabe der Familien.
„Lernen, Leben selbst in die Hand zu nehmen“
In einem Rollenspiel übt Abdullahi mit einem weiteren afrikanischen Kursteilnehmer, wie man Patienten wäscht. Die beiden tasten sich langsam heran. Die Bewegungen wirken noch unsicher. „Sagen Sie dem Patienten vorher, was Sie jetzt machen“. Die sollten wissen, was gerade auf sie zukommt. Und: „Fragen sie vorher, ob der Patient einverstanden ist.“ So schaffe der Pfleger Vertrauen und Sicherheit. Übungen werden ausgewertet, besprochen, was gut gelaufen ist und was noch besser funktionieren könnte. Verani Kartum hat Abdullahi und seiner Schwester Faduma geraten, den Kurs zu machen. Dennoch lehrt ihn seine Erfahrung mit vielen Geflüchteten: Nur Kurse besuchen reicht nicht, meint Kartum. Geflüchtete sollten schnell arbeiten dürfen. Im Alltag in den Betrieben üben sie die Sprache und lernen Einheimische kennen. Für das Selbstbewusstsein der Neuankömmlinge sei es wichtig, eigenes Geld zu verdienen.
Jobs gebe es genug. Verani Kartum kenne zahlreiche Unternehmen, die auch Ungelernte mit schlechten Deutschkenntnissen gerne einstellten. Auch der Inhaber einer Zeitarbeitsfirma in seinem Bekanntenkreis suche dringend Hilfskräfte. Auch Abdullahi will nach dem Kurs möglichst schnell eigenes Geld verdienen, ebenso seine Mutter, die eine Vollzeitstelle annehmen möchte, obwohl sie kaum Deutsch spricht. Den Mentorinnen und Mentoren, die Geflüchtete aus dem NesT-Programm begleiten möchten, rät Kartum vor allem zu Geduld. Mit Enttäuschungen müsse man rechnen. Das liege an der umständlichen und langsamen deutschen Bürokratie, oft aber auch an den Geflüchteten selbst: Viele Geflüchtete müssten erst mühsam lernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. „In den Lagern waren sie über viele Jahre zur Unselbstständigkeit verdammt“, weiß Verani Kartum aus vielen Gesprächen mit Flüchtlingen. „Hier gewöhnen sie sich schnell daran, dass die Ehrenamtlichen ihnen viel abnehmen, zum Beispiel die mühsame Arbeit mit der Bürokratie, die die Zuwanderer überfordert.
Trotzdem sieht der Vereinsvorsitzende die positiven Seiten seines Engagements: das Vertrauen und die Dankbarkeit seiner Schützlinge ebenso wie deren Engagement beim SC Aleviten. Abdullahis und seine Geschwister spielen alle in den Mannschaften des Vereins und helfen bei Veranstaltungen. Seine Mutter kocht. Und das Beispiel macht Schule. Im Umfeld der Caritas hat sich in Paderborn eine weitere Mentorengruppe gefunden. Die hat Ende Oktober ein Flüchtlingspaar aus Syrien aufgenommen.