Obwohl Hodenkrebs zu den eher selteneren Karzinomen zählt, ist er doch die häufigste bösartige Tumorerkrankung bei 25- bis 45-Jährigen. Zum Glück lässt sich „Krebs der jungen Männer“ relativ gut heilen.
Als Lance Armstrong im Frühjahr 1998 nach fast eineinhalbjähriger Behandlung seiner schon im fortgeschrittenen Stadium befindlichen Hodenkrebserkrankung ins Profi-Radsport-Geschäft zurückgekehrt war, galt das damals als große Überraschung. Dass er danach dann zwischen 1999 und 2005 trotz seines vermeintlich schweren Handicaps gleich auch noch siebenmal die Tour de France, die bedeutendste Rundfahrt der Welt, gewinnen konnte, wurde allgemein als sportliche Sensation angesehen. Auch wenn sich später herausstellen sollte, dass er sich zur Leistungsförderung unlauterer (Doping-) Mittel bedient hatte.
Zu Armstrongs Zeiten war Hodenkrebs noch ein mit reichlich Stigmata behaftetes Tabuthema. Daran sollte sich lange Zeit nichts ändern, worauf auch noch 2015 der damalige Fußball-Bundesliga-Profi Marco Russ von Eintracht Frankfurt nach Bekanntgabe seiner Hodenkrebs-Diagnose aufmerksam gemacht hatte: „Das Problem ist, dass viele Hodenkrebs mit dem Verlust der Männlichkeit assoziieren. Es herrscht eine falsche Sicht auf die Krankheit. Mit einem Hoden weniger ist man genauso männlich wie mit zwei Hoden, kann genauso Geschlechtsverkehr haben.“
Umso bemerkenswerter war daher, dass in der zweiten Jahreshälfte 2022 gleich vier in der deutschen Bundesliga spielende Fußballprofis das von Kickern gern gepflegte kraftstrotzende Image hinter sich gelassen und ihre schwere persönliche Betroffenheit infolge einer bei ihnen diagnostizierten Hodenkrebs-Erkrankung offenbart hatten. Auch Ex-Profi Marco Russ zeigte sich beeindruckt von dem offenen Umgang seiner Kollegen Timo Baumgartl, Marco Richter, Sébastien Haller und Jean-Paul Boëtius: „Das zeigt, dass die Krankheit vor niemandem Halt macht, vor allem aber, dass man offen mit ihr umgehen kann und sich eben nicht schämen muss. Sportler gelten als durchtrainiert, aber auch da macht der Krebs keinen Halt.“ Allerdings wurde angesichts der vier aktuellen Fälle in vielen Publikationen natürlich gleich die Frage aufgeworfen, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen Hodenkrebs und Leistungssport geben kann. Dass dem nicht so ist, dass Sporttreiben also keineswegs das Risiko zur Ausbildung von Hodenkrebs befördern kann, hatte allerdings schon eine Meta-Studie aus dem Jahr 2018 herausgefunden.
Die Anhäufung der prominenten Fälle im Jahr 2022 war daher reiner Zufall. Viel interessanter dürfte das Alter der betroffenen Sportler sein. Denn laut RKI treten die meisten Fälle von Hodenkrebs bei Männern zwischen 25 und 45 Jahren auf. In dieser Altersgruppe ist Hodenkrebs der häufigste bösartige Tumor bei Männern. Allerdings zählt Hodenkrebs zu den selteneren Karzinomen. Jährlich wird die Diagnose lediglich bei knapp 4.200 Betroffenen gestellt (im Vergleich: jährlich rund 65.000 Prostatakrebs-Neudiagnosen). Was nur einen Anteil von 1,6 Prozent an allen bei Männern jährlich neu registrierten Krebserkrankungen ausmacht. Das mittlere Erkrankungsalter bei Hodenkrebs liegt laut RKI bei 37 Jahren, im Unterschied zu den meisten anderen Tumorerkrankungen sind die Betroffenen daher zumeist noch sehr jung. Allerdings können sich die meisten Erkrankten berechtigte Hoffnungen auf eine vollständige Heilung machen. Die Überlebensraten wurden zuletzt vom RKI im Herbst 2022 mit 97 Prozent angegeben (fünf Jahre nach Diagnose und entsprechender Behandlung; gleich hoher Wert von 97 Prozent bezüglich der Zehn-Jahres-Überlebensrate), die Mortalität ist vergleichsweise gering und das Rezidiv, sprich der Rückfallrisiko erneut zu erkranken ist in der Regel nicht sehr hoch.
Beim Hodenkrebs handelt es sich um einen bösartigen Tumor des etwa pflaumengroßen, eiförmigen männlichen Geschlechtsorgans, in der Fachsprache Testis genannt. Meist, in rund 95 Prozent aller Fälle, ist nur einer der in einem Hodensack gelegenen und von einer festen Bindegewebskapsel umgebenen Hoden betroffen (nur bei fünf Prozent aller Patienten entwickeln sich Krebszellen in beiden Hoden). Dieser gehört zu den Keimdrüsen und ist für die Produktion von Spermien sowie männlicher Geschlechtshormone (Androgene, vor allem Testosteron) verantwortlich. Hodenkrebs entsteht zumeist aus den sogenannten Keimzellen, daher werden Hodentumore oft auch als „Keimzellentumore“ bezeichnet. Rund 90 Prozent aller Hodentumore entwickeln sich daher aus entartetem Keimzellgewebe (sogenannte germinale Tumore; den kleinen Rest machen nicht-germinale Tumore aus Stütz- und Bindegewebe des Hodens aus) und lassen sich in zwei Hauptgruppen unterteilen. Wobei die sogenannten Seminome, die aus nur einer Gewebeart (entarteten Stammzellen der Spermien) bestehen, zwei Drittel aller Keimzellentumore ausmachen. Während die sogenannten Nicht-Seminome aus verschiedenen Gewebetypen ihren Ursprung nehmen. In der Regel sind die Patienten mit Nicht-Seminomen-Hodentumoren deutlich jünger (im Schnitt 25 Jahre) als die von einem Seminom Betroffenen (um die 40 Jahre). Inzwischen geht die Forschung davon aus, dass sowohl Seminome als auch Nicht-Seminome aus der gleichen Vorstufe namens „testikuläre intraepitheliale Neoplasie“ hervorgehen, wobei es sich um entartete Zellen handelt, sich schon vor der Geburt aus embryonalen Zellen im Mutterleib gebildet werden. Sie ruhen im Hoden und können sich unter Umständen später zu Hodenkrebs entwickeln.
Laut dem Robert-Koch-Institut liegt die Überlebensrate bei 97 Prozent
Genau diese Umstände sind allerdings noch weitestgehend unbekannt. Weil es bislang keine gesicherten Erkenntnisse über die Ursachen von Hodenkrebs gibt. Als Risikofaktor gilt allerdings allgemein ein Hodenhochstand, selbst wenn dieser operativ behoben sein sollte. Auch eine Fehlanlage der Harnröhrenmündung wird als Risikofaktor angesehen. Bei zeugungsunfähigen Männern wird das Erkrankungsrisiko als erhöht betrachtet. Die genetische Veranlagung kann ebenfalls die Bildung von Hodenkrebs fördern, weil der Tumor in manchen Familien (familiäre Disposition) nachweislich gehäuft nachgewiesen werden konnte. Außerdem haben Männer, die bereits an Hodenkrebs oder einer Vorstufe erkrankt waren, ein erhöhtes Risiko, dass sich auch im gesunden Hoden ein Tumor entwickeln könnte. Lebensstil und Umweltfaktoren spielen hingegen nach derzeitigem Forschungsstand keine Rolle bei der Ausbildung von Hodenkrebs. Wissenschaftlich diskutiert wird laut RKI derzeit, ob ein zu niedriges (unter 2.500 Gramm) oder ein zu hohes Geburtsgewicht (über 4.500 Gramm) weitere Risikofaktoren sein könnten, auch über einen Hochwuchs als Risikofaktor wird aktuell spekuliert. Aus all dem lässt sich schließen, dass es nur wenige Ansätze für eine Vorbeugung vor der Ausbildung von Hodenkrebs geben kann. „Umso wichtiger ist die Früherkennung und optimale Behandlung“, so Prof. Mark Schrader, Chefarzt für Urologie am Helios Steinzentrum Berlin-Buch, im „Onko-Internetportal“ der Deutschen Krebsgesellschaft: „Wird die Krankheit frühzeitig erkannt und adäquat therapiert, beträgt die Heilungsquote nahezu 100 Prozent.“
„Eine große Chance bei Hodenkrebs liegt darin“, so Prof. Schrader, „dass man ihn leicht entdecken kann. Man sollte die Hoden regelmäßig selbst untersuchen. 80 Prozent der Hodentumore werden in einem Frühstadium von Patienten selbst erkannt.“ Die Deutsche Gesellschaft für Urologie rät jungen Männern zwischen 14 und 45 Jahren daher zu einem regelmäßigen Hodencheck einmal pro Monat. Weil sich die ersten und wichtigsten Symptome, nämlich schmerzlose Verhärtungen oder Knoten, vergleichsweise einfach selbst ertasten lassen.
Eine etwaige Veränderung lässt sich am besten durch Vergleich mit dem zweiten Hoden feststellen. Auch eine plötzliche Vergrößerung des Hodens kann als ein mögliches Hodenkrebs-Anzeichen gedeutet werden. Durch die Größenzunahme, für die ein Tumorwachstum oder aber auch eine Flüssigkeitsansammlung ursächlich sein können, kann es zu einem Schweregefühl kommen, gelegentlich in Verbindung mit einem unangenehmen, bis in die Leiste ausstrahlenden Ziehen. Schmerzen im Hoden sind hingegen nur selten erste Symptome für Hodenkrebs, sondern haben meist andere Ursachen wie eine Hodenentzündung.
Die Deutsche Gesellschaft für Urologie rät allen Männern zwischen 14 und 45 Jahren zum regelmäßigen Hodencheck
Bei manchen Hodentumoren kommt es zur Produktion weiblicher Hormone, was eine Vergrößerung der männlichen Brust zur Folge haben kann und sich auch durch erhöhte Östrogenwerte und dem Auftauchen des Schwangerschaftshormons beta-humanes Choriongonadotropin (ß-HCG) im Blutbild nachweisen lässt (ß-HCG gilt daher als bedeutender Tumormarker bei Hodenkarzinomen). Bei Hodenkrebs breitet sich der Tumor zunächst nur innerhalb des Geschlechtsorgans aus, bei drei von vier Männern ist er zum Zeitpunkt der Diagnose noch auf den Hoden begrenzt und hat noch keine Metastasen in umliegendes Gewebe gestreut. In fortgeschrittenem Stadium können sich die Krebszellen aber über Lymph- und Blutgefäße im gesamten Körper ausbreiten und auch Organe befallen, wobei hauptsächlich die Lunge betroffen ist (aber auch Gehirn oder Leber können in Mitleidenschaft gezogen werden).
Bislang gibt es in Deutschland kein kostenloses gesetzliches Angebot zur Früherkennung von Hodenkrebs. Erst im Alter von 45 Jahren gehört die Tastuntersuchung der äußeren Geschlechtsorgane zum Standardprogramm im Rahmen der Prostatakrebsfrüherkennung. Daher sollte bei dem kleinsten Verdacht auf einen Hodentumor ein schneller Termin bei einem Urologen vereinbart werden. Im Anschluss an das Anamnesegespräch wird der Facharzt zunächst eine manuelle Untersuchung von Hoden und gegebenenfalls auch Brust durchführen. Gefolgt von einer Ultraschalluntersuchung (am besten an beiden Hoden, um einen beidseitigen Befall ausschließen zu können). Sollten sich dabei erste Anzeichen einer Erkrankung feststellen lassen, werden sogleich umfangreiche Blutuntersuchungen samt Aufspüren von Tumormarkern eingeleitet, gefolgt von bildgebenden Verfahren wie Computertomographie oder Magnetresonanztomographie, um Auskünfte über eine mögliche Ausbreitung des Tumors erhalten zu können.
Letzte Gewissheit über Hodenkrebs lässt sich erst bei einer Vollnarkose-Operation, die mittels eines kleines Schnitts in der Leiste durchgeführt wird, gewinnen. Ist die Blickdiagnose dabei nicht ganz eindeutig, entnehmen die Ärzte Gewebe aus dem Tumor zur weiteren Untersuchung, bevor sie den Hoden im Rahmen der sogenannten Orchiektomie komplett samt Samenstrang und Nebenhoden entfernen. Auf Wunsch des Patienten kann der Hoden später durch eine Prothese ersetzt werden. Wie es nach der Operation mit der Behandlung weitergeht, hängt vom Stadium (Stadium I: bösartiger Tumor nur im Hoden ohne Metastasen; Stadium II: Befall benachbarter Lymphknoten, aber keine Fernmetastasen; Stadium III: Fernmetastasen mit unterschiedlich starker Ausprägung) und von der Tumorart (Seminom oder Nicht-Seminom) der Erkrankung ab.
Im Wesentlichen kommen drei Therapie-Konzepte infrage. Wobei die Überwachungsstrategie zugunsten regelmäßiger Kontrollen zunächst auf den Einsatz von Strahlen- oder Chemotherapie verzichtet. Sie macht nur Sinn, wenn nach der Operation keinerlei Krebszellen im Körper mehr nachgewiesen werden können, hat aber im Vergleich zur Chemotherapie (mit Cisplatin als Königs-Arzneistoff) oder Bestrahlung den Nachteil, dass das Risiko eines Krankheitsrückfalls für den Patienten höher einzustufen ist. In fortgeschrittenen Krankheitsstadien kommen in der Regel Chemo und Bestrahlung zum Einsatz, was für den Patienten teils erhebliche und belastende Nebenwirkungen zur Folge haben kann. „Die größte Gefahr ist heute nicht, dass Patienten zu wenig behandelt werden“, so Prof. Schrader, „sondern dass eine Übertherapie erfolgt. Sie werden zwar geheilt, haben aber unter Umständen mit vermeidbaren langfristigen Nebenwirkungen und einer verminderten Lebensqualität zu kämpfen.“