In Finnland gibt es „knusprige Winter" mit viel Pulverschnee und Frost. Die beste Zeit für Schwerelosigkeit, Eiswandern oder Eisfischen.
Das Eis knackt. Kurz darauf bricht es. Eine Schrecksekunde lang sinken wir bis zu den Knien ins Wasser. Juchuu! Doch ehe wir das Erlebnis genießen können, sind wir auch schon bis zur Hüfte eingebrochen. Der See hat null Grad und dampft. Die Lufttemperatur liegt bei minus 20 Grad. Doch wir fühlen uns äußerst wohl – dick eingepackt in Winterklamotten, Daunenoverall und einem wasserdichten Schutzanzug. Dank einer Rettungsweste dümpeln wir nun wie auf dem Rücken liegende Käfer auf der Wasseroberfläche. Am Himmel verabschiedet sich die Sonne mit einem warmen Leuchten und verwandelt Espen und Birken am Ufer in Silhouetten. Ein noch blasser Mond wünscht schon mal einen guten Abend. Wir floaten! Leicht wie eine Feder und ganz eng verbunden mit der winterlichen Natur. Ein Seitenarm des Saimaa-Sees bei Oravi, einem 160-Einwohner-Ort am Rande des südfinnischen Nationalparks Linnansaari, macht dieses Erlebnis möglich. Er hat die notwendige Strömung, um nicht zuzufrieren.
Alleine durch endlosen Schnee
Nach einer Weile macht das Einbrechen und Floaten so großen Spaß, dass man gar nicht aufhören möchte. Doch langsam wird es dunkel. Mithilfe von zwei Eisnägeln hebeln wir uns auf eine Eisscholle und krabbeln zurück ans Ufer.
Es herrscht „knuspriger Winter" (Rapsakka) in Finnland: Der Schnee ist pulvrig wie Mehl, die Luft trocken wie Knäckebrot. Windstille. Kein Vergleich zum feuchten Winter in Deutschland, dessen Kälte auch bei Plusgraden in die Knochen kriecht. Rapsakka ist die beste Zeit für jede Art von Wintersport. Er ist mit knapp 4.400 Quadratkilometern der viertgrößte See Europas und der größte Finnlands – gespickt mit 14.000 Inseln und Inselchen. Manche sind kaum größer als das Wurzelwerk eines Baumes.
Am nächsten Morgen führt uns Marie Louise Fant (Spitzname: Misa) auf Schlittschuhen durch die frostige See-Wildnis, wo 40 Kilometer Eisbahnen gespurt sind. Die Finnen nutzen zum Eiswandern längere Kufen, die einfacher zu fahren sind. Für den bequemen Schuhwechsel stehen am Anfang der Bahn Holzbänke mit Schaffellen bereit. Wer nicht gerade am Wochenende laufen will, ist hier meist allein. Und los geht’s! Schscht, schscht, schscht – nach einer Weile hört man nur das Schaben der eigenen Kufen. Im Rhythmus dieser Geräusche gleiten wir Richtung Horizont. Zu unseren Füßen glitzern Milliarden Eiskristalle, als wären letzte Nacht alle Sterne vom Himmel gefallen.
„Hier habe ich mal eine Robbe gesehen", sagt Misa und zeigt auf ein Bäumchen, dass einsam aus dem Glitzer-Weiß lugt. Die Saimaa-Seenlandschaft haben schmelzende Gletscher der letzten Eiszeit geschaffen. Als sich später äußere Landzungen hoben, war der Zugang zum Meer versperrt. Im Süßwasser konnte sich die Saimaa-Ringelrobbe entwickeln – eine der am meisten gefährdeten Robbenarten der Welt. Jede trägt ein anderes Fleckenmuster. Einige davon erinnern an ein Leopardenfell. Zum Luftholen bohren die Säugetiere ein Loch ins Eis. Manchmal kommen sie dabei ganz heraus. „Einmal haben wir eine Robbe im Wald gefunden, die nicht zurück konnte, weil ihr Luftloch innerhalb weniger Minuten gefror. Wir hievten sie auf einen Lastschlitten und brachten sie zurück ins Wasser", erzählt Misa. Im Winter brechen die Tiere das Eis unter Schneeverwehungen auf, um dort in gesicherten Höhlen ihre Jungen zur Welt zu bringen. Da es auch in Finnland immer weniger schneit, helfen die Einheimischen und türmen an möglichen Nestorten ein Meter hohe Schneehaufen auf. Inzwischen gibt es wieder 400 Süßwasser-Ringelrobben.
Eine Oase aus Baumstämmen gebaut
18 Kufen-Kilometer später erreichen wir das Hotel „Järvisydän" – eine behagliche Oase in der Winterlandschaft, gebaut aus 100 Jahre alten, aus dem See geborgenen Baumstämmen. Schon 1658 wurden an diesem Ort Gäste empfangen, als der russische Zar und der schwedische König den Bau markierter Eiswege als Handelsrouten vereinbarten. Dem Oberhaupt der Familie Heiskanen wurde damals 600 Hektar Land geschenkt, um eine Station zum Wechsel der Pferde einzurichten. Heute betreiben Markus und Tanja Heiskanen das Haus in elfter Generation. Guide Haikki hat vor Jahrzehnten als Forstmanager bei ihnen angefangen und gehört praktisch zur Familie. Später wollte er nicht mehr im Büro hocken und wurde Outdoor-Guide. „Für mich ist es kein Job, es ist Lifestyle", schwärmt der sportliche Mann mit dunklem Bart. Mit ihm stapfen wir später auf Schneeschuhen durch das Rapsakka-Weiß. An den Bäumen hängen lange Bartflechten – ein Zeichen für sehr saubere Luft. Haikki zeigt Spuren von Elch und Hase. „Die grauen Hasen werden immer mehr und vertreiben die einheimischen Schneehasen, deshalb werden sie auch gejagt", erzählt er. Neben Schneeschuh und Schlittschuhtouren kann man auch Skilanglaufen, Eisstockschießen, Tret- oder Rentierschlitten fahren und am Abend in einer in den Felsen gebauten Saunalandschaft oder beim Glögg am Kamin entspannen.
Am nächsten Tag lassen wir uns von einem Schneemobil abholen und fahren von Oravi nach Punkaharju im Südosten. Das Saimaa-Seengebiet ist hier immer noch nicht zu Ende. Eine schmale bewaldete Landzunge zieht sich wie eine Schlange über das Wasser. Dieser eiszeitlich entstandene „Eskergrat" ist eine alte Reiseroute, die von Tieren und Menschen gleichermaßen genutzt wurde, um das Wasser zwischen den Inseln zu überbrücken. Heute ist „Punkaharju Esker" eines der ältesten Naturschutzgebiete der Welt. Es wurde schon 1843 zur staatseigenen Parkanlage erklärt.
Nicht weit entfernt davon treffen wir auf dem See Arto Keinänen, einen sympathischen Mittfünfziger mit rosigen Wangen. Er hockt auf einem Schemel und ruckelt an der Rute wartend, dass einer anbeißt. „Es gibt drei verschiedene Typen von Eisfischern", sagt er. Die einen fischen aus sportlichen Gründen und lassen ihren Fang wieder frei, die anderen angeln, damit sie was zu essen haben und die dritten fischen nicht, sie meditieren." Er selbst sei eine Mischung aus der zweiten und dritten Kategorie. „Ich kann stundenlang hier sitzen. Es ist so ruhig, dass man nur seine eigenen Bewegungen hört", schwärmt er. Als Ein-Mann-Unternehmer bietet er später im Jahr Seehundsafaris an und im Winter alle Schneesportarten. Aber besonders mag er das Eisfloaten: „Wenn man auf dem Wasser schwebt, fühlt man sich wie ein Baby".