Er macht schön, ist gesund und hat sogar therapeutische Wirkung, behaupten seine Anhänger. Auf jeden Fall bedeutet der Tango leidenschaftliche Musik, Sinnlichkeit und Eleganz. Nicht nur für Paare: Auch solo lässt sich der Zauber, der von diesem Tanz ausgeht, erleben.
Wie bitte, Solo-Tango? Wie soll das gehen, allein ohne Partner? „Natürllich ist Tango Umarmung, Nähe, Verbindung", bekräftigen Andrea Tieber und Sigrid Mark. Die beiden Tangolehrerinnen haben sich gedacht, dass diese Erfahrung auch alleinstehenden Menschen zugänglich sein sollte. „Häufig beklagten vor allem Frauen, dass sie gern Tango tanzen würden, doch immer wieder daran scheitern, weil sie keinen Partner haben." Sie entwickelten das Konzept Solo-Tango, gründeten ihre Tanzschule Adanzas und eröffneten damit auch Alleinstehenden den ersten Schritt in die Tangowelt. Im Mai veranstalten sie einen Wochenend-Aufbaukurs in Berlin.
Willst du tanzen, beginne mit dem festen Stand
Die beiden Lehrerinnen wohnen im Südburgenland, bieten ihre Kurse in Österreich, Deutschland und anderen Ländern an. Im kroatischen Opatija, einem Ort mit langer Tradition im Gesundheitstourismus, leiten sie jährlich im Spätherbst einen Wochenkurs. Dann verwandelt sich der wunderschöne Bewegungsraum des Hotels Miramar mit Blick direkt auf die Adria in eine besondere Stimmung. Sanft schieben Frauen und auch einige Männer Bierdeckel mit ihren Fußballen auf dem Boden vorwärts, zurück, zur Seite. Ziehen mit den Füßen Kreise, die größer werden, weit ausladend. Wer tanzen will, heißt es, brauche Stabilität und Erdung. Die Vorstellung, wie ein Baum stabil zu stehen, dessen Wurzeln tief in die Erde hineinwachsen und sich ausbreiten, hilft den Teilnehmern, die Verbindung der Füße mit dem Boden zu spüren. Ein weiteres Bild ist der goldene Seidenfaden, der sie am oberen Scheitel des Kopfes sanft gen Himmel zieht und aufrichtet.
Wie in einem schleichenden Katzengang oder Lipizzanerschritt schreiten die Tänzerinnen und Tänzer über das Parkett, die Knie wie von einem magischen Faden gehalten. „Tango Argentino ist eine Art, zu gehen. Eine Art, präsent zu sein. Ein Gefühl." So beschreiben es die beiden Tangolehrerinnen.
Und dabei kann der Tango eine gesundheitsfördernde Wirkung entfalten. Sigrid Mark litt unter einer Verkrümmung in der Halswirbelsäule, hatte verspannte, stets hochgezogene Schultern. Seit sie Tango tanzt, veränderte sich ihre Körperstruktur komplett, sagt sie. Das Landleben ist für die beiden Frauen ein Rückzugsort. Ein Kraftort, an dem sie auftanken können und Konzepte neu entwickeln. Seit 26 Jahren sind sie ein Paar. Mit dem Tango haben sie 2007 begonnen und ihn schließlich zum Beruf gemacht. Er wurde rasch zur Berufung, die sie ausfüllt und erfüllt. „Es sollte mehr sein als ein reines Technik-Training. Wir lassen unsere Erfahrungen in der Körperwahrnehmung, im Ausdruckstanz und in der Tanzimprovsation mit einfließen.
Nicht nur Frauen kommen zu den Intensivseminaren. Auch männliche Singles sind dabei, und Paare tanzen gern mal einzeln, um sich Anregungen im Gehen, im Führen und Folgen zu holen.
Den Stress runterfahren
Für Andrea Tieber war es vor allem die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. „Ich lernte, ganz im Moment und vollkommen anwesend zu sein. Das ist ein sehr beglückendes Gefühl. Im Solo-Tanz gehört dieses Gefühl nur dir, mit einem Partner lässt es sich teilen, und in der Gruppe gibt es Begegnungen, Blicke, Spielarten mit Nähe und Distanz."
Frauen um die 50 freuen sich, endlich Tango tanzen zu dürfen. Kein Verzicht mehr mangels eines Partners. Sie gewinnen Sicherheit darin, später auch allein auf eine Milonga (Tangoabend) zu gehen. Keinen Partner zu haben, ist dann kein Grund mehr zu kneifen.
Leicht und behend zeigen Andrea Tieber und Sigrid Mark ihren Tangoanfängern die Schritte. Allein und als Gruppe kommen sie schnell ins Schwingen. Würden sich im Alltag alle Glieder meist gleichzeitig bewegen, zeige im Tango der Fuß schon die Richtung, obwohl man noch stehe, sagt Tieber. Man geht den ersten Schritt vor, den hinteren Fuß drückt man ab und zieht ihn heran, gleitet schleifend am Standbein vorbei. Dabei gilt es stets auf einer Ebene zu bleiben, nicht wippend, nicht abgehoben.
Solo den eigenen Impulsen folgen
Tango Argentino ist ein geerdeter Tanz. Vielleicht weil er so viele Geschichten erzählt. Von Menschen, die kein leichtes Leben hatten, die von einem besseren Leben träumten, als sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Auswanderer aus Spanien, Italien oder auch aus Osteuropa nach Argentinien kamen. Viele von ihnen landeten verarmt am Stadtrand von Buenos Aires. Sie legten all ihre Traurigkeit, ihre Sehnsüchte und auch ihre Leidenschaft, ihre Liebe in diesen Tanz, gingen mit Anmut und Würde ihren Weg.
Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann, heißt es. Aufmerksamkeit in Bewegung – gelebter Augenblick. Kein Denken. Kein Gestern. Kein Morgen. Nur im Hier und Jetzt sein. Eine Art tanzende Meditation. An den Gesichtern der Teilnehmer ist erkennbar, dass sie im Tanz das Denken abschalten, das sie sich einlassen, nicht nur auf Technik und Schrittkombinationen, sondern ins Spüren kommen. „Sie nehmen etwas raus aus ihrem Lebenstempo", meint Sirgrid Mark und erinnert sich: „Das war für mich das Schwerste, was ich lernen musste. Das Sanfte. Die Stille. Das Innehalten. Pausen zu zelebrieren."
Im Tango soll sich überhaupt immer alles gut anfühlen: die Schritte, die Verzierung, die Drehung, die Verzögerung. Es ist ein Spiel mit dem Tempo. Mal langsam getragen oder im berühmten „Quick, quick, flow". Die verschiedensten Grundelemente lassen sich kombinieren und auch immer wieder neu zusammensetzen. Im Solo-Tango folgt man keinem Partner, sondern den eigenen Impulsen, der eigenen Intuition.
„Ich hatte schon vergessen, wie eine schöne Bewegung sich anfühlt"
Es bleibt Raum für freie Interpretation der Musik. Nach jedem Schritt erdet man sich und findet zurück zur eigenen Mitte. Die Verzierung kann helfen, das Gleichgewicht zu halten, besonders im Solo-Tango, wenn man auf der eigenen Achse steht. Verzierungen sind überhaupt das Sahnehäubchen im Tango, der individuelle, kreative Ausdruck. „Baut kleine Verrücktheiten ein", empfiehlt die 54-jährige Andrea Tieber. „Die Verzierung hebt das Strenge auf, macht erfinderisch und kreativ. Der Tango ist verrückt. Werdet etwas mutig, ein wenig frech und pfiffig, wenn die Musik euch dazu einlädt."
Die Wienerin Anja Dehml beherrscht bereits die Basiselemente, um typische Bewegungen und Schrittkombinationen auszuprobieren, sich allein im Raum zu bewegen und auf ihre Weise die Musik zu interpretieren. Scheinbar mühelos gestaltet sie erste Improvisationen. Anja Dehml ist an Hashimoto Thyreoiditis erkrankt, einer chronischen Entzündung der Schilddrüse. Nach der Diagnose nahm sie 49 Kilo zu. Die Gelenke sind stark angegriffen. In wenigen Monaten steht ihr eine Knie-OP bevor. „Doch bis dahin will ich tanzen", entschied sie rigoros. „Schon früher war ich sehr beweglich, fuhr Fahrrad, spielte Volleyball und ging schwimmen. Der Orthopäde prophezeite mir, dass dies alles nicht mehr möglich sein werde. Ich würde niemals mehr laufen können. Doch wenn ich ausging zu einem Ball, merkte ich, dass Tanzen einfacher ist als Gehen. Tango gab mir dieses Gleichgewicht zurück. Ich achtete bewusster auf meinen Körper und fühlte, dass ich zu weit mehr in der Lage bin, als die Ärzte mir zutrauten. Ich hatte schon vergessen, wie sich eine schöne Bewegung anfühlt", sagt die 55-Jährige. Voller Lebensfreude nimmt sie ihr Leben in die Hand.
Lieber tanzen als Pillen schlucken
Dem Ernst des Lebens spielerisch und mit Aufrichtung begegnen, dazu ermutigen die beiden Tanzlehrerinnen immer wieder." Tango trainiert die Muskeln und verbessert die Beweglichkeit. Der Tanz weckt die Fantasie, die Fähigkeiten und Fertigkeiten eines jeden Tänzers und bringt sie zum Ausdruck.
„Ich tanze lieber Tango, als dass ich Pillen schlucke" ruft eine ältere Dame laut durch den Saal. Der Tanz vertreibe die dunklen Gedanken und trüben Stimmungen, meint sie. Die Tänzerin neben ihr ist Andrea Klabach. „Ich bin normalerweise mit tausend Dingen beschäftigt", sagt die 55-Jährige. Hier ist meine Aufmerksamkeit bewusster geworden. Für die Momente des Tanzes sind meine Gedanken nicht mehr wichtig, nur die Hingabe. Solo-Tango ist eine Begegnung mit mir selbst. Ich habe Gestaltungsfreiheit. Das gefällt mir", freut sie sich. Georg ist alleinstehend und tanzt gern solo. Er erinnert sich an seine erste Intensivwoche. „30 Jahre lang hatte ich nicht mehr getanzt. Hier brauchte ich niemanden umständlich suchen, der mit mir in einen Tanzkurs geht. Es tat mir sehr gut und wirkte noch lange in mir nach.
Fröhlich sich drehend, zieht Margarethe Holzbauer ihre Runden. Dynamisch, kraftvoll, zart und behutsam. Das Gesicht der 77-jährigen erstrahlt, wenn sie den Instruktionen der Lehrerinnen folgt. „Mir ist, als würde ich schweben. Zu Hause kann ich das beim Kehren mit dem Besen deftig weitermachen, sagt sie augenzwinkernd.
Heilkraft des Tango
War der Tango einst als obszön verrufen, weiß man heute seine gesundheitliche Wirkkraft zu schätzen. Tango macht schön, wirkt entspannend, sorgt für mehr Wohlbefinden und hellt die Stimmung auf. Tango schult die Konzentration, fördert räumliches Denken. Tango eignet sich zur Vorbeugung von Demenzerkrankungen und wird inzwischen auch in der Parkinsontherapie eingesetzt. An der Berliner Charité erforscht man, inwieweit der Tango sich zur Rehabilitation nach intensiver Chemotherapie oder Stammzelltransplantation eignet.
Andrea Tieber und Sigrid Mark sind keine Therapeuten, erleben aber in der Praxis, dass gerade Frauen im mittleren und höheren Lebensalter das intensive Training auf vielerlei Ebenen als sehr heilsam erleben, als eine gute Schule für Gedächtnis, Koordination und Konzentration. Und das auf sinnliche und lustvolle Weise.
„Im Tango gibt es keine Fehler, nur Möglichkeiten" sagt die Tanztherapeutin und Buchautorin Angela Nicotra (siehe Buchtipp). Sie entdeckte die heilsame Wirkung des Tango nach einer Rückenoperation. Ihr Leben änderte sich schlagartig – emotional, beruflich und innerhalb ihrer sozialen Kontakte. „Ich habe durch Tango sehr viel über mich erfahren, mich selbst zu spüren gelernt und mich dabei sehr getragen gefühlt. Als Therapeutin wollte ich wissen, warum. Das schöne Gefühl genügte mir nicht. Um besser verstehen zu können, was in der Bewegung mit mir passiert, was mich bewegt und was ich bewege, fuhr ich nach Argentinien." Die Begegnung mit dem Tänzer und Tangotheoretiker Rodolfo Dinzel prägte ihren weiteren Weg, der auch ihre tanztherapeutische Arbeit bereicherte. „Im Tango zeigt sich, wer wir wirklich sind. Im Tanz kann man sich nicht verstellen. Tango unterstützte mich darin, eigene Bewegungs- und Verhaltensmuster, alte Gewohnheiten zu verändern. Jeder nimmt etwas anderes mit aus dem Tanz. Es ist eine Beziehungsarbeit auf hohem Niveau. Es bedarf Mut, sich hinzugeben, sich Raum zu nehmen, in verschiedenste Richtungen zu gehen. Höchste Aufmerksamkeit, Haltung, Klarheit sind der Lohn." Tango zeige aber auch, was einem fehlt, meint Angela Nicotra. „Ich hatte keine Geduld. Das zeigte sich sofort, wenn ich nicht in Verbindung war, nicht mit mir und nicht mit anderen. Doch jeder kann sich jederzeit verändern. Das ist das Therapeutische: sich immer wieder neu zu öffnen für Veränderungen, sich nicht auf Fehler zu fokussieren, sondern sie als Möglichkeiten zu sehen und sich die Frage zu stellen, was mache ich damit. Dann kann ich entscheiden, ob ich im alten Muster bleiben will oder Neues ausprobieren mag. Das ist eine große Herausforderung und zugleich eine Chance."