Dies ist ein Buch, das perfekt über die derzeitige Ausgangssperre hinwegtrösten kann, solange wir nicht persönlich abends in Kneipen können. Die Kneipe in Neukölln heißt „Zur Wildnis". Vielleicht gibt es sie gar nicht, ebenso wenig wie das Schild „Gepflegte Getränke", die Spitzengardinen und die verkümmerte Topfpflanze daneben, die auf dem Titel des Buches abgebildet ist. „45 Kurze aus Berlin" nennt sich der Untertitel, und wer schon mal in Neuköllner Eckkneipen zu Gast war, weiß, dass „Kurze" dort gewöhnlich gut gefragt sind. Zusammen natürlich mit der Molle, ob Schultheiß oder Berliner Kindl.
Die kurzen Schwänke, die Krausser aus einer Neuköllner Kneipe nacherzählt, beweisen aber ob ihrer Detailverliebtheit, dass der Autor sehr oft in seiner Stammkneipe zugegen war und den Gesprächen, die oft von der Bar zum Tisch und umgekehrt gehen, gut zugehört hat. Die Kneipengänger sind eine große Familie, und wenn mal, was eher selten ist, sich ein Neuzugang in die verräucherte Höhle verirrt, wird dies von allen Seiten kommentiert. „Der Gitarrist" war einer jener Neuzugänge, und er wagte es auch noch, die Stammkundschaft mit seinen zweifelhaften Klampfkünsten zu belästigen. „Bald, vermutlich schon sehr bald, wird er an jemanden geraten, der ihm eine aufs Maul haut, dann gibt sich das." Prognostiziert der Autor, und gibt dabei den Ton vor, der hier vorherrscht.
Neuköllner Eckkneipen, das lernt man in diesem Buch sehr schnell, sind nichts für sanfte Gemüter. Aber dafür voll mit Charakterdarstellern, die den lieben langen Nachmittag (ja, in Neukölln fängt der Kneipenabend schon früh an!) ablästern über Helmradfahrer, Veganer oder Schwerstkatholen. Natürlich wird es dann und wann auch hochpolitisch, wie in jeder Eckkneipe. „Thekengespräche können oft Wunderbares bewirken", meint Krausser, als es um die AfD geht und diagnostiziert, dass es sich bei der Wut des AfD-Wählers um Angst vor gesellschaftlichem Abstieg handelt.