Für die Fans von Union Berlin war Rafal Gikiewicz der Liebling, für das Team unverzichtbar. Dennoch trennen sich am Saisonende die Wege des Clubs und des Polen. Es geht um Wertschätzung – und natürlich auch um Geld.
Spätestens seit dem hitzigen Derbysieg im November 2019 ist Rafal Gikiewicz für die Fans von Union Berlin ein Held. Wie sich der Pole einigen auf den Platz gestürmten Ultras in den Weg gestellt hatte, um eine totale Eskalation der extrem angespannten Stimmung zu verhindern, bleibt unvergessen. „Gikiewicz! Gikiewicz! Gikiewicz!“, schallte es damals nach dem Abpfiff minutenlang in der Alten Försterei.
Nur zu Hause bekam der Torhüter für seinen wagemutigen Einsatz eine Standpauke statt Sprechchöre. „Meine Frau Ania sagte mir zu Hause, dass ich ein Idiot bin. Ich hätte mich ja auch verletzen können. Die hätten ein Messer haben können, meinte sie“, erzählte der Torhüter der „B.Z.“: „Aber es war ein Impuls. Ich wollte Ordnung schaffen.“
Ironischerweise hat nun Gikiewicz selbst die Ordnung bei Union Berlin durcheinandergebracht. Der 32-Jährige hatte gleich mehrere Angebote zur Vertragsverlängerung ausgeschlagen – bis es der Clubführung zu bunt wurde. Ende April teilte der Bundesligist mit, dass Verein und Spieler am Ende der Saison getrennte Wege gehen. Gerne hätte man erfahren, wie die Fans auf diese so wichtige Personalentscheidung reagieren. Doch beim ersten Heimspiel nach dem Re-Start in der Bundesliga gegen Bayern München (0:2) mussten die Fans bekanntlich draußen bleiben. Gikiewicz zeigte sich unbeeindruckt vom geplatzten Vertragspoker und zeigte eine starke Leistung gegen das Starensemble aus München.
„Außergewöhnliche Spuren hinterlassen“
Gikiewicz will sich in seinen letzten Wochen in Berlin von seiner besten Seite zeigen. Schon jetzt habe er bei Union „außergewöhnliche Spuren hinterlassen“, betonte Sportchef Oliver Ruhnert. Doch man habe sich wirtschaftlich nicht einigen können und deshalb entschieden, „uns auf der Torwartposition neu zu orientieren“. Gikiewicz selbst wurde in der Pressemitteilung so zitiert, dass er ab Juli „auf zwei ganz besondere Jahre zurückblicken“ werde und bis dahin den Klassenerhalt „unbedingt noch erreichen“ wolle. „Dann wird es einen neuen Verein in meinem Leben geben und für Union einen neuen Torwart.“ Doch ganz so harmonisch ist die Sache ganz offensichtlich nicht. Gikiewicz fühlte sich durch die Wortwahl in der Pressemitteilung zu Unrecht in die Ecke des geldgierigen Profis gestellt, dabei sei er bereit gewesen, berichtete er dem polnischen Sender Canal+ Sport, „für Union mit meinen Erwartungen nach unten zu gehen“. Geld sei zwar wichtig, stehe aber „nicht an der ersten Stelle“. Klar ist: Im Alter von 32 Jahren muss beim nächsten Vertrag für Gikiewicz alles passen – auch das Gehalt. Doch durch die Corona-Krise haben sich die Verhältnisse verschoben, die Profis werden Abstriche machen müssen. 10, 20, 30 Prozent weniger? Keiner kann die Auswirkungen genau beziffern. Es ist ein Findungsprozess, der im Fall Gikiewicz nicht funktioniert hat.
Der Torwart machte aber auch andere Faktoren für seinen Abschied verantwortlich. „Vom ersten Treffen an hatte ich nicht das Gefühl, dass der Club seinen besten Spieler halten will“, sagte er. „Das habe ich nicht verstanden.“ Da Union öffentlich stets betonte, seinen Stammtorhüter halten zu wollen, dürfte am Ende doch die Zahl hinter dem Jahresgehalt die für Gikiewicz fehlende Wertschätzung zum Ausdruck gebracht haben. Nun sucht der Club eine neue Nummer eins, gehandelt werden die Namen Timon Wellenreuther (Willem II Tilburg), Jeroen Zoet (FC Utrecht), Mark Flekken (SC Freiburg) und Przemyslaw Tyton (FC Cincinnati). Mit Gikiewicz-Vertreter Jakob Busk verlängerte der Club jüngst den Vertrag bis 2022. „Bei der Neuausrichtung auf der Torhüterposition im Sommer ist es uns wichtig, mit Jakob auch künftig einen Union-erfahrenen Schlussmann dabeizuhaben, der immer ehrgeizig und loyal ist“, sagte Ruhnert.
Die Klasse von Gikiewicz hat Busk bei Union aber noch nicht nachgewiesen. In der Bundesliga ist Gikiewicz mit 67,4 Prozent gehaltener Bälle die Nummer sieben unter den Torhütern. Dass der Neuling in seiner Premierensaison noch nicht ernsthaft in Abstiegsgefahr geraten ist, ist auch dem Polen zu verdanken. Seinen Wert für die Mannschaft darf man aber nicht nur am reinen Torwartspiel messen, da wird er in Sachen Strafraumbeherrschung und Spieleröffnung niemals in die Kategorie eines Manuel Neuer oder Peter Gulacsi vordringen. „Ich bin nicht Robocop“, hat er einmal gesagt. Es sind vor allem seine Führungsqualitäten, die seinen Wert für eine Mannschaft ausdrücken. Als Underdog muss Union die geringere Qualität durch eine größere Emotionalität und Aggressivität ausgleichen – und keiner lebt diese Dinge besser vor als Gikiewicz. Solche Qualitäten sind auch in der Corona-Krise gefragt, Gikiewicz selbst macht sich jedenfalls um seine persönliche Zukunft keine Sorgen. Er hätte schon bei West Ham United unterschreiben können, berichtete er freimündig in polnischen Medien. Doch ein Ersatz von Landsmann Lukasz Fabianski habe er nicht sein wollen. Zudem habe ihn Besiktas Istanbul kontaktiert und die Fans des türkischen Clubs auf Instagram regelrecht „belagert“. Und kürzlich habe er „eine Anfrage von einem großen Club in Italien erhalten“.
Der Torhüter sieht seine sportliche Zukunft aber in Deutschland, „wo ich mich wohlfühle“. Dem FC Augsburg und dem Hamburger SV wurden zuletzt ernsthaftes Interesse nachgesagt. Für Gikiewicz dürfte ein Wechsel aber nur dann Sinn ergeben, wenn er den Nummer-Eins-Status erhält, alles andere wäre ein Rückschritt. Vor sechs Jahren hatte er den polnischen Club Slask Breslau verlassen und sich vom damaligen Zweitligisten Eintracht Braunschweig, über die Reservistenrollen beim SV Freiburg zum Stammkeeper bei Union Berlin hochgearbeitet. Nicht unbedingt mit dem größten Talent, aber mit einem unbändigen Willen.
„Es gibt nicht mehr viele wie mich“
Er selbst bezeichnet sich als „positiv verrückt“, und das dürften alle unterstreichen, die ihn im Berufsleben etwas besser kennen. Gerne spricht Gikiewicz von sich in der dritten Person, was zunächst komisch klingt, aber irgendwie auch für sein großes Selbstbewusstsein spricht. „Es gibt nicht mehr so viele Charaktere wie mich“, sagt er, „die noch eine echte Fußballermentalität haben.“ Man könnte es auch Bolzplatzmentalität nennen. Die hat perfekt zu Union und zum Team mit den Kämpfern Christopher Trimmel, Marvin Friedrich oder Christian Gentner gepasst. Nun ist diese perfekte Ehe bald zu Ende. Ob das eine oder vielleicht auch beide Parteien irgendwann bereuen, wird die Zeit zeigen.