Unterwegs auf den Spuren der deutsch-deutschen Teilung: Der Berliner Mauerweg führt auf 160 Kilometern quer durch die einst eingekesselte Hauptstadt zu bekannten Sehenswürdigkeiten – aber auch zu versteckten Orten.
Sie schwärmen! Und wie so oft, wenn sich Lebewesen zusammenschließen, um gemeinsam unterwegs zu sein, ist das ein ziemlich erhabener Anblick. Erst sind es zwar nur wenige, ein überschaubares kleines Grüppchen. Doch quasi alle paar Sekunden, bei jeder Kreuzung, werden es mehr. Zuerst schließt sich ein Pärchen mit Dreadlocks an. Eine ältere Dame kommt hinzu. An der nächsten Ecke starten die Hipster mit Schnauzbärten und bunten Hosen, dann kommt die Familie mit den Anhängern, schließlich ein Bastler mit mobiler Soundanlage.
Die Musik vieler hundert Fahrradklingeln ertönt, dann steigt der Puls: Der Pulk fährt über Gassen und Seitenstraßen auf die großen Arterien Berlins. Kreuz und quer geht es durch die Metropole, Deutschlands neue alte Hauptstadt. Sind es Hunderte? Viel mehr. Später werden sie 2.000 Teilnehmer gezählt haben. Nicht fliegende oder schwimmende Tiere genießen es, ihren Lebensraum einen Abend lang rundum genießen zu können, sondern Zweibeiner auf zwei Rädern. Wenn in Berlin an jedem letzten Freitag und an jedem ersten Sonntag im Monat eine „Critical Mass" durch die Stadt fährt, übernimmt die selbstorganisierte Fahrradbande für einen Moment die Alleen, Boulevards und Kreisverkehre.
Die Route ist nicht wie bei einer Demonstration vorher festgelegt, sondern entwickelt sich spontan – eine Besonderheit des Verkehrsrechts macht die Fahrt im geschlossenen Verband möglich. Doch fast immer kommt man im Laufe der Tour an Orten vorbei, die an die deutsch-deutsche Teilung erinnern: Die Spuren der Trennung zwischen Ost und West sind in Berlin auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer noch lange nicht verschwunden.
Nicht nur bei spektakulären Events wie der „Critical Mass" ist den Berlinern das Fahrrad das liebste Gefährt im Individualverkehr. Auf 1.000 Einwohner kommen hier 850 Drahtesel, aber nur 332 Autos – es ist das Gebiet mit der niedrigsten Motorisierung in ganz Deutschland. Nun soll die Stadt auch ganz offiziell eine Fahrradstadt werden, kurzfristig mit provisorischen Pop-up-Radwegen, auf lange Sicht auch mit eigenen Radschnellwegen.
Das kommt nicht nur den Pendlern zugute, sondern auch den Berlin-Besuchern. Die meisten legen zwar nur kürzere Strecken mit den überall erhältlichen Leihrädern zurück. Inzwischen ist indes auch eine ausgiebige Radtour möglich: Der Berliner Mauerweg kennzeichnet in 14 Einzelstrecken den Verlauf der ehemaligen DDR-Grenzanlagen zu Westberlin. Insgesamt führt die Tour 160 Kilometer weit um die früher eingekesselte Halbstadt herum.
Ein Metallband erinnert an den früheren Grenzverlauf
Wer sich auf den Sattel schwingt, radelt in den Außenbezirken im Süden, Westen und Norden vor allem auf dem westdeutschen Zollweg oder auf den holprigen Betonplatten des Kolonnenwegs der DDR-Grenztruppen. Heute blockieren aber keine argwöhnischen Uniformierten mehr den Weg, wenn man am idyllischen Griebnitzsee entlang radelt oder durch die Straßen von Klein Glienicke. Diese Siedlung war früher eine DDR-Exklave, von der Mauer umschlossen: Für einen Besuch musste man einst zunächst gute Gründe und dann einen Passierschein vorweisen, schließlich war hier streng überwachtes Grenzgebiet. Eine Infotafel erzählt, wie es zwei Familien trotzdem gelang, in einem 19 Meter langen, mit Kinderschaufel und Spatenblatt gegrabenen Tunnel in den Westen zu flüchten.
Annähernd 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Befestigungen der „Schandmauer" (eine Bemerkung des damals Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt; Anm. d. Red.) beziehungsweise des von der DDR-Propaganda sogenannten „Antifaschistischen Schutzwalls" vielerorts geschleift. Doch auf den öffentlichen Straßen erinnert ein Metallband im Asphalt an den früheren Grenzverlauf. Zum Beispiel auf der Glienicker Brücke, die bereits in den 1950er-Jahren für Zivilpersonen gesperrt wurde. Einmal schafften es drei DDR-Bürger, in einem gestohlenen Lastwagen die Barrieren zu durchbrechen, und nach Westberlin zu flüchten. Berühmt wurde der Ort dann als jene legendäre Agentenbrücke, weil Ost und West hier inhaftierte Spione austauschten. Einen Tag nach dem Mauerfall, am 10. November 1989, wurde die Brücke wieder für jedermann geöffnet.
Wer einmal rund ums alte Westberlin radelt, fährt dabei auch mitten ins Herz der neuen Hauptstadt. Im alten Todesstreifen, in dem zwischen 1961 und 1989 mindestens 138 Menschen getötet wurden, ist die Teilung der Stadt längst überwunden. Bei der Oberbaumbrücke, die Radler in Ost und West nun wieder verbindet, tummeln sich in Friedrichshain die Touristen, und inzwischen sind auf dem lange Zeit vor allem als Party-Areal genutzten Spreeufer die ersten umstrittenen Luxuswohnungen entstanden.
Trotzdem blieb an der East Side Gallery auf 1,3 Kilometern das längste – und inzwischen denkmalgeschützte – Teilstück der Berliner Mauer erhalten. Von Februar bis September 1990 ließen hier 118 Künstler aus 21 Ländern ihrer Fantasie freien Lauf und bemalten den Beton. Das beliebteste Fotomotiv ist das Bild des russischen Malers Dmitri Vrubel, das den Bruderkuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker zeigt. Hier stehen die Teenager Schlange, um Pärchen für Pärchen Knutsch-Selfies zu schießen.
Moderne Gebäude und historische Wahrzeichen treffen aufeinander
Die Touristenfalle Checkpoint Charlie kann man guten Gewissens umfahren: Das weiße Häuschen des legendären Kontrollpunkts ist nur ein Nachbau, und die fahnenschwenkenden Männer in ihren Uniformen wollen von allen Geld sehen, die Fotos schießen. Ein paar Kilometer weiter aber treffen, wie so häufig in Berlin, moderne Gebäude und historische Wahrzeichen aufeinander: Vom Potsdamer Platz mit den nach der Wende neu gebauten Glitzerhochhäusern radelt man zum Reichstag und dann durchs Brandenburger Tor.
Auch das berühmteste Bauwerk der Metropole war lange Zeit von den Grenztruppen abgeriegelt und wurde zum Symbol der Teilung. Um die Ecke, am ehemaligen Grenzbahnhof Friedrichstraße, zeigt eine Ausstellung im Tränenpalast den Alltag in der geteilten Stadt. Richtig bitter wird es dann in der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße: Hier sprangen die Menschen sogar aus den Fenstern ihrer Häuser, um sich in den Westen zu retten, bis die Gebäude zugemauert und später gesprengt wurden.
Im Mauerpark zwischen den früheren Bezirken Wedding (West) und Prenzlauer Berg (Ost) spielen diese dramatischen Ereignisse heute keine Rolle mehr. Jedes Wochenende verwandelt sich die Grünfläche in eine Talent-Show für Musiker aus der ganzen Welt. Nebenan gibt es auf dem Flohmarkt Kunst und Krimskrams. Und während die benachbarte Oderberger Straße zu DDR-Zeiten noch wie ein Blinddarm an der Mauer endete, in der Kinder Fußball spielten, hat sie sich zu einer Flaniermeile entwickelt, auf der so viele Sprachen gesprochen werden wie beim Turmbau zu Babel.
An die grauen Tage der DDR erinnert nur ein Laden mit Vintage-Fundstücken aus den 60er- und 70er-Jahren. Statt Kohlenhändlern gibt es Kneipen ohne Ende, die Gründerzeithäuser zeigen wieder ihre Verzierungen. Das neue, bunte Berlin: Hier ist es zu Hause.