Die Heimatforscher Dieter Lange und Hans-Günter Schneider sind in Südamerika auf den Spuren einer historischen Tragödie, die in Thüringen ihren Anfang nahm.
Sie tragen deutsche Familiennamen wie Werlich, Bauer und Sperber und sprechen untereinander ein Deutsch, was in unseren Ohren manchmal etwas altmodisch und putzig klingt und einige ungewohnte Worte und Wendungen beinhaltet. Umlaute werden nicht wie bei uns ausgesprochen, sodass es zum Beispiel. „Ich fittere die Hihner" heißt. Obwohl mancher Mann auf dem Bau arbeitet und manche der Frauen für einen Putzjob jeden Tag zwei bis drei Stunden mit dem Auto nach Florianópolis, der Hauptstadt des Bundesstaates Santa Catarina fährt, leben sie vorwiegend als Bauern und sind zum Teil Selbstversorger. Sie bauen auf der Rosse, wie der Acker hier genannt wird, vor allem Maniok an. Seit einigen Jahren sind in den Siedler-Kolonien Bauerslinie und Segunda Linha, die zur Stadt Àguas Mornas gehören, auch Erdbeerfelder angesagt. In den modernen Plantagen wachsen sie in Hüfthöhe, sodass man sich beim Pflücken nicht mehr bücken muss.
Ein Schwein wird zur Feier des Besuchs der beiden Heimatforscher Dieter Lange und Hans-Günter Schneider, die aus Böhlen im Thüringer Wald kommen, geschlachtet. Schon ein paar Stunden später duftet es köstlich nach Braten am Spieß über dem Feuer. Churrasco heißt das und ist so etwas wie eine Nationalspeise Brasiliens. Begossen wird das Schlachtfest mit Bier, Zuckerrohr-Schnaps Cachaça und natürlich „Zitronenwasser", wie sie Caipirinha auf Deutsch nennen.
Männer, Frauen, Kinder mussten ihre Heimat verlassen
Dieter Lange und Hans-Günter Schneider sind hier, um eine historische Mission bei den „Kaffeepflückern" zu erfüllen. Seit rund 22 Jahren beschäftigen sich die Heimatforscher mit einer Tragödie, die sich im Jahr 1852 in ihrem Dorf abgespielt hat. Anlässe für die Forschungen waren ein Brief aus Brasilien, in dem ein junger Mann nach seinen Vorfahren suchte, sowie die Tatsache, dass es in Böhlen schon immer Andeutungen über „die Brasiliensache" gab. Dieser Sache, über die keiner Genaueres wusste, gingen der Museologe Lange und sein Mitstreiter zunächst mittels Quellenstudium nach. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden viele der in Böhlen ansässigen Leineweber infolge der Industrialisierung arbeitslos. Eine Versicherung dafür oder Sozialhilfe gab es nicht. Ohne Lohn und Brot blieb den einkommenslosen Webern nichts weiter übrig, als sich gegen Elend und Not aufzulehnen und auf der Straße zu protestieren. Um seine Familie zu ernähren, musste mancher zum Wilddieb werden. Der Aufstand ging den besser gestellten Bürgern zu weit, sodass sie sich hilfesuchend an die fürstliche Regierung in Rudolstadt wandten. Die schickte Bewaffnete und schmiedete zusammen mit der Obrigkeit des Dorfes den perfiden Plan, die in Not geratenen Böhlener, die als Kriminelle stigmatisiert wurden, für immer zu verbannen. Brasilien unterhielt damals Auswanderungsagenturen in Deutschland, das riesige Land sollte kolonialisiert werden. Also wurde eine Namensliste mit denjenigen erstellt, die gegen ihre Misere protestiert hatten und dafür abgeschoben werden sollten, und Geld für ihre Überfahrt besorgt.
154 Böhlener – Männer, Frauen und Kinder – mussten ihre Heimat unfreiwillig für immer verlassen. Eskortiert von Bewaffneten wurden sie über Weimar, Halle und Magdeburg nach Hamburg gebracht. „Ihr Seelenverkäufer", riefen sie ihren Peinigern noch vom Schiff aus zu, bevor sie wochenlang unter unzumutbaren Bedingungen über den Atlantik segelten. Keiner von ihnen sollte seine Heimat je wiedersehen. In Brasilien ging es nicht minder schlimm weiter. Die Zwangsverfrachteten wurden zunächst als Kaffeepflücker auf Plantagen in der Nähe von Rio de Janeiro eingesetzt. Als sie die Kosten ihrer Überfahrt abgearbeitet hatten, machten sich die meisten per Schiff auf nach Süden. Ein Großteil von ihnen ging aufgrund einer Schiffshavarie in der Nähe von Florianópolis, das damals Desterro hieß, an Land und von dort in die Berge. Hier in Santa Catarina gründeten sie nahe der bereits bestehenden Bauerslinie, in der vor allem Auswanderer aus dem Hunsrück lebten, die Kolonie Zweite Linie. Deren portugiesischer Name Segunda Linha steht heute auf dem Ortsschild. Ihre Sprache, die Bellrer Dialekt genannte Böhlener Mundart, wurde von den Hunsrückern „Kaffeepflickirsch" genannt, weil alle, die sie sprachen, von den Kaffeeplantagen kamen. Ihren Nachkommen verschwiegen die angebliche Kriminellen ihre Geschichte. Warum ist nicht überliefert. Die Heimatforscher vermuten eine Mischung aus Schmerz und Scham über die Vertreibung und den Verlust der Heimat. Mit einer Liste mit den Namen der 1852 Vertriebenen fuhren sie 2002 als Passagiere eines Containerschiffs zu einer abenteuerlichen Spurensuche nach Brasilien. Dort trafen sie den Mann, der mit dem Brief nach seinen Vorfahren gesucht hatte. Zusammen entdeckten sie zunächst Grabsteine mit Namen der vertriebenen Thüringer auf dem Friedhof der Ortschaft Santa Isabel und trafen in der Folge auf dort lebende Nachkommen. Die Freude war riesig.
Die Bewohner von Bauerslinie und Segunda Linha lebten als Selbstversorger lange Zeit recht autark. Das führte dazu, dass sich eine Art Sprachinsel erhalten hat. Sie sprechen, was kaum zu fassen ist, noch heute Deutsch mit dem speziellen Dialekt aus dem Thüringer Wald als Muttersprache. Er hat sich etwas mit dem Hunsrückerisch der Nachbarn gemischt und enthält besonders bei den Jüngeren viele portugiesische Einsprengsel. Schließlich galt Deutsch zu Zeiten der brasilianischen Nationalisierungswelle als unerwünscht bis verboten und wurde nur noch innerhalb der Familien gesprochen. Ende 2019, rund 167 Jahre nach der Vertreibung der 154 Thüringer nach Brasilien, überbrachten Dieter Lange und Hans-Günter Schneider deren Nachfahren eine Art offizielle Entschuldigung aus der alten Heimat. In der Böhlener Erklärung, die vom Bürgermeister und dem evangelischen Pfarrer unterzeichnet wurden, heißt es, „dass die Verantwortlichen in Politik und Kirche in der damaligen Einheit von Thron und Altar vor 167 Jahren großes Unrecht getan und Schuld auf sich geladen haben." Bei der Übergabe und der Vorstellung ihrer Forschungsergebnisse in Segunda Linha gab es Tränen, als die Menschen aus der fünften und sechsten Generation erstmals die ganze Geschichte ihrer Abstammung hörten. Die Brasilianer revanchierten sich bei den Heimatforschern aus Deutschland mit einem Schlüssel mit einer Inschrift in Dialekt: „Von ganz’m Herz`n begrüsst Àguas Mornas, Bresilje die Bre’dre os Belln, Dietschlan’."
Eine offizielle Entschuldigung aus der Heimat
Die „Kaffeepflicker" und die anderen Siedler lebten lange Zeit sehr abgeschieden. Zu Beginn der Kolonialisierung gab es Zusammenstöße mit den Ureinwohnern. Was zu dieser Zeit geschah, war Teil eines „Zivilisationskonzepts". Der Völkermord an den indigenen Völkern war eine seiner Grundvoraussetzungen. So formuliert das Prof. João Klug, der als Historiker an der Universität von Florianópolis arbeitet und sich mit der Jagd auf die indigenen Bewohner beschäftigt. Er zitiert die Zeitung „Der Urwaldsbote" von 1877. Die Indios vom Volk der Xokleng, die in den Wäldern von Santa Caterina lebten, wurden damals – und übrigens noch heute – Buger genannt, was ein sehr negativer Ausdruck ist: „Buger stören die Kolonisation: Diese Störung muß beseitigt werden und zwar so schnell und gründlich wie möglich. Sentimentale Betrachtungen über die ungerechte Praxis der Bugerjagden, die den Grundsätzen der Moral widersprechen, sind hier ganz und gar nicht am Platze […] Die vagabundierenden Stämme müssen durch ein großes Aufgebot von Bugerjägern und Waldläufern aufgehoben und so mit einen Schlage unschädlich gemacht worden."
In der Gegend um die 1850 gegründete Stadt Blumenau gab es 1852 den ersten Zusammenstoß. Vier Jahre später wurde erneut ein Konflikt registriert, bei dem Indianer angriffen und zwei Einwanderer töteten. Die Schlussfolgerung war, dass die Ureinwohner eine Bedrohung für das Kolonialisierungsprojekt darstellten.
Unter den Siedlern verursachte dieser Angriff große Angst und lähmte die Bauarbeiten von Straßen, Brücken und anderen Arbeiten, die nun nur noch mit bewaffneten Wächtern durchgeführt wurden. Eine Welle von Gerüchten breitete sich über die deutschen Einwanderungsregionen aus. Es hieß, so Prof. João Klug, dass die Indios mit einem Vernichtungskrieg die Kolonisierung beenden wollten. 1877 gab Hermann Blumenau eine Empfehlung an die Bevölkerung der Kolonie: Sie sollte in höchster Alarmbereitschaft sein und ihre Waffen immer zur Hand haben. Er empfahl, dass im Wald häufig Waffen abgefeuert werden sollten, um die Indianer zu erschrecken. Kopfgeldprämien für jeden getöteten Indianer wurden ausgelobt. Kinder der umgebrachten Ureinwohner wurden von Kolonisten großgezogen.
Die Siedler lebten lange Zeit sehr abgeschieden
Heute findet man in der Gegend, in der die Nachfahren der Kaffeepflücker leben, keine Indigenen mehr. Das Thema ist keines, worüber man gerne spricht, ganz im Gegensatz zu uns von Karl May und „Winnetou" geprägten Deutschen. Immerhin hat schon der eine oder andere Siedler verschiedene Spitzen von Indianerpfeilen bei der Feldarbeit auf seiner Rosse gefunden.