Die jetzige Wirtschaftsordnung ist nicht in der Lage, Probleme der Zukunft zu lösen, sagt Oskar Lafontaine. Er hält den Kurs der SPD für wenig glaubwürdig, die Grünen für wenig grün und den „progressiven Neoliberalismus" für eine Fehlentwicklung. Der Oppositionsführer im Saarland fordert von der Landesregierung, im Wettbewerb auf Projekte zu setzen, „die andere noch nicht gemacht haben".
Herr Lafontaine, wir stehen vor den Beratungen zum Doppelhaushalt 2021/22 im Saarland, also dem letzten für die Legislaturperiode. Wie bewerten Sie die bisherige Arbeit der Großen Koalition?
Die Arbeit wird immer durch objektive Zahlen bewertet. Wir verlieren nach wie vor Bevölkerung, es wandern nach wie vor Saarländerinnen und Saarländer in andere Bundesländer ab, um dort zu leben und einem Beruf nachzugehen. Wir haben nach wie vor niedrigere Löhne als in den westdeutschen Ländern, wir haben auch bei der Kinderarmut nach wie vor überdurchschnittliche Zahlen. Insofern können wir, was die soziale Lage im Land angeht, nicht zufrieden sein.
Die Landesregierung hat ein Jahrzehnt der Investitionen angekündigt, will daran auch trotz Pandemiefolgen festhalten. Sie haben immer wieder mangelnde Investitionen beklagt.
Die entscheidende Frage, wenn man die Lage des Landes beurteilen will, ist: Können wir genauso viel in Straßen, Sportplätze, Hallen, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten investieren wie die anderen? Das können wir nicht, weil der Bund-Länder-Finanzausgleich nach wie vor für das Saarland viel zu schlecht ist. Das Land und seine Gemeinden haben im letzten Jahr pro Einwohner 208 Euro weniger investiert als die anderen westdeutschen Flächenländer im Schnitt.
Jetzt hat das Land einen Nachtragshaushalt infolge der Krise von zwei Milliarden beschlossen, der Bund hat ebenfalls massive Gelder organisiert. Es kann investiert werden. Hilft das, die Rückstände aufzuholen?
Das hilft deshalb nicht, weil alle Bundesländer die Kassen aufgemacht haben und versuchen, gegen die Krise mit zusätzlichen öffentlichen Geldern anzugehen. Insofern gibt es nur einen Weg für uns, unsere Situation zu verbessern, wenn wir uns etwas einfallen lassen und machen, was die anderen noch nicht gemacht haben. Ich will ein Beispiel nennen: Wir haben vor vielen Jahren hier die Informatik ausgebaut und haben deshalb jetzt immer noch Vorteile gegenüber anderen Bundesländern. Wir hätten vor vielen Jahren die Medizintechnik ausbauen können – das ist leider nicht geschehen. Wenn wir nur dasselbe machen wie die anderen, in Straßen, Schulen, Sporthallen investieren, werden wir den Rückstand nicht aufholen.
Die Landesregierung verweist in diesem Zusammenhang gerne auf die Entwicklung Cispa/Helmholtz.
Das wird selbst in der saarländischen Informatik bekanntlich kritisch gesehen, wenn man immer nur von einem Institut spricht. Helmholtz ist eine Konsequenz aus der Entscheidung in den 90er-Jahren, die Informatik auszubauen. Ohne Einrichtungen wie das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) oder das Max-Planck-Institut für Informatik hätte es Cispa nicht gegeben.
Als Leitinvestition wird auch auf das geplante neue Messe- und Kongresszentrum hingewiesen mit Investitionen von 100 Millionen Euro.
Das ist eine Entscheidung, die wir auch mitgetragen haben. Aber auch hier muss man wieder etwas Wasser in den Wein gießen. Auch andere Städte haben Messe- und Kongresszentren und oft größere.
Im Zuge der Pandemie gab es die Erkenntnis, dass bestimmte Bereiche „systemrelevant" sind, die vorher nicht so auf dem Schirm waren. Was geschieht jetzt mit dieser Erkenntnis?
Es wäre wünschenswert gewesen, dass in diesem Fall die Bundesregierung die Weichen gestellt hätte, dass die Löhne in diesen Bereichen stärker wachsen. Das System, um diesen Begriff zu verwenden, das sich in letzten Jahrzehnten aufgebaut hat, führt dazu, dass die systemzerstörerischen Kräfte irre Gehälter haben und irre Vermögen aufbauen, nehmen Sie Investmentbanker oder Chefs der US-Internetkonzerne, während die für unser Leben wirklich wichtigen Arbeitskräfte manchmal nicht einmal den Mindestlohn haben. Für mich ist das eine perverse Fehlentwicklung unseres Wirtschaftssystems.
Viele dieser „Fehlentwicklungen" sind in der Pandemie deutlich zutage getreten. Wird es daraus Konsequenzen geben oder schätzen Sie es eher pessimistisch ein?
Entscheidend ist, ob erkannt wird, dass die jetzige Wirtschaftsordnung bei wachsender Weltbevölkerung nicht in der Lage ist, die Probleme der Zukunft zu bewältigen. Die einzige prominente Stimme in der Welt, die das sagt, ist der Papst in Rom: Diese Wirtschaft tötet. Er hätte auch sagen können: sie zerstört unsere Lebensgrundlagen. Wenn diese Erkenntnis in der Politik nicht zu Konsequenzen führt, wird es so weitergehen. Selbst die Grünen, die im Programm haben, die Lebensgrundlagen zu erhalten, halten an der jetzigen Wirtschaftsordnung fest und sind daher auch nicht wirklich grün.
In der Corona-Krise haben wir zunächst eine große Welle von Hilfsbereitschaft erlebt. Inzwischen erleben wir oft das genaue Gegenteil, und offenbar gewinnen Anhänger von Verschwörungstheorien immer mehr Zulauf. Was dagegen tun?
Mit dem Begriff „Verschwörungstheorie", der bekanntlich von der CIA in Umlauf gesetzt worden ist, um Kritik an den Verbrechen der US-Regierung in aller Welt zu relativieren, gehe ich nicht gerne um. Es gibt Leute, die abenteuerlichen Unsinn behaupten, das ist richtig, aber das gab es nach meiner Beobachtung schon immer. Ich beobachte aber auch, dass unbequeme Kritik als „Verschwörungstheorie" gebrandmarkt wird. Das sollte nicht sein. Es gibt auch die neue Entwicklung „Cancel Culture", wo beispielsweise Kabarettisten oder Schriftsteller ausgeladen werden, weil sie etwas „unkorrektes" gesagt oder geschrieben haben. Das halte ich für falsch. Demokratie lebt auch von Diskussion mit Menschen, die anderer Meinung sind als man selbst.
Es gibt den legitimen Protest gegen Corona-Maßnahmen. Es gibt aber auch Versuche von Rechten und Rechtsextremen, das für sich zu vereinnahmen. Eine bedrohliche Entwicklung oder eine vorübergehende Zeiterscheinung?
Die Veranstalter von Kundgebungen müssen darauf achten, dass die Proteste nicht von Rechtsradikalen missbraucht werden. Wirklich bedenklich ist, dass die Rechte stark wird. Aber die wird nicht erst stark wegen Corona. Die Rechte ist stark geworden, weil die Antworten der Regierenden aus aller Welt auf die soziale Frage völlig falsch waren. Warum ist Trump groß geworden? Weil die Vorgängerregierung es nicht geschafft hat, Arbeitern, die ihre Industriearbeitsplätze verloren haben, eine Zukunftsperspektive zu eröffnen. Warum ist die AfD in Deutschland groß geworden? Weil Frau Merkel, unterstützt von anderen, gesagt hat, man könne unsere Grenzen nicht kontrollieren. Wenn Menschen sich in ihren Lebensverhältnissen eingeschränkt fühlen und nicht mehr sehen können, wer sie vertritt, profitieren davon die Rechten. Das ist auch eine Lehre aus der Weimarer Republik.
Daran schließt sich immer wieder die Frage an: Warum profitiert davon nicht die Linke?
Da gibt es viele Gründe. Aber ein ganz entscheidender Grund ist sicher der „progressive Neoliberalismus", das heißt: Die linken Parteien in aller Welt haben kulturell-soziale Themen in den Vordergrund gerückt, die Vertretung von Minderheitengruppen, beispielsweise die Rechte von Homosexuellen oder der Einsatz für Flüchtlinge oder die Genderfragen haben die klassischen Themen – Lohn- und Rentenentwicklung und soziale Leistungen – in den Hintergrund treten lassen. In Amerika sieht man das ganz deutlich, aber auch in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Staaten. Und diese Fehlentwicklung führte dazu, dass sich die Arbeiterschaft von diesen Parteien abgewendet hat.
Womit wir bei einem Blick ins Bundestagswahljahr 2021 sind. Die SPD ist bemüht, sich von der Hartz-IV-Belastung zu trennen. Ein aufrichtiger Prozess?
Ob das aufrichtig ist, wird man sehen. Es zählen Tatsachen. Solange die SPD nicht im Bundestag sagt, wir wollen Renten wie in Österreich, wo der Durchschnittsrentner 800 Euro im Monat mehr hat, und nicht Mindestlöhne von 13 Euro fordert, die dem, der ein Leben lang arbeitet, etwas mehr Rente ermöglicht als die Grundsicherung, ist das alles nur Gerede.
Eine realistische Vorstellung mit einem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz?
Olaf Scholz steht für eine Politik, die dazu geführt hat, dass die SPD jede Bundestagswahl verloren hat. Insofern sehe ich keinen Aufbruch zu neuen Ufern.
Also keine guten Aussichten für Rot-Rot-Grün und einen echten Regierungswechsel?
Es geht um einen Wechsel in der Politik. Solange die Menschen den Eindruck haben, dass sich nichts ändert, gibt es auch keine Bewegung für eine andere Regierung. Nur wenn sich viele Menschen eine neue Regierung wünschen und eine Adresse für ihren Wunsch haben, kommt ein Regierungswechsel.
Sie haben versucht, eine linke Bewegung zu initiieren. Was macht „Aufstehen"?
Sie ist von jungen Leuten übernommen worden, aber bisher ist die Entwicklung unbefriedigend. Es sind zwar immer noch etwa 150.000 registriert, aber es ist nicht gelungen, entsprechenden Druck auf die Straße zu bringen, um die soziale Frage in den Mittelpunkt zu rücken. Es sind viele Menschen, vor allem junge Menschen aus bessergestellten Haushalten, bereit, fürs Klima auf die Straße zu gehen, aber nicht dafür, dass jeder, der in Deutschland Rente bezieht, genauso viel bekommt wie in Österreich. Leider haben die, die am ehesten auf eine andere Politik angewiesen sind, resigniert und sagen: Für uns tut sowieso niemand etwas. Das ist einer der Sätze, die ich am häufigsten höre.
Sie sagen, dass vor allem junge Menschen aus besserverdienenden Haushalten an Klimademos teilnehmen. Ist das schon eine Erklärung?
Das ist eine Erklärung. Denn wenn man in besserverdienenden Haushalten groß wird, steht die soziale Frage nicht im Mittelpunkt, sondern andere Fragen. Und da kann man eben beobachten, was begrüßenswert ist, dass sie sich für Umweltfragen engagieren und selbst vegan leben, aber die soziale Frage keine Rolle spielt, während Kinder, bei denen zu Hause zum Monatsende jeder Euro umgedreht werden muss, weil es hinten und vorne nicht reicht, sich hier eher nicht engagieren.
Wie passt es dann zusammen, dass auch bei diesen „bürgerlichen" Protestbewegungen ein Systemwechsel gefordert wird?
Weil man dort erkannt hat, dass unabhängig von der sozialen Frage ein Wirtschaftssystem, das auf immer mehr Umsatz und immer mehr Gewinn ausgerichtet ist, notwendigerweise die Erde zerstört. Ob sie aber bereit sein werden, die Konsequenzen daraus zu tragen, da mache ich noch mal ein Fragezeichen. Dafür habe ich zu viele Leute erlebt, die in jungen Jahren Revolutionäre waren ...
In der Bewegung (Fridays for future) wird diskutiert, mit Blick auf die Bundestagswahl auf Listen zu kandidieren. Also die alte Diskussion, die die Grünen und die Linke kennen, zwischen fundamentalem Druck auf der Straße oder dem langen Marsch durch die Institutionen.
Bei dem langen Marsch durch die Institutionen gibt es immer die Frage: Verändern die Institutionen den Menschen oder verändert der Mensch die Institutionen? Leider waren die Institutionen oft stärker.
Zu den Systemfragen gehört auch unter Gesichtspunkten wie Klimaschutz die Debatte über das Bruttoinlandsprodukt als Kennziffer für reine Wachstumsorientierung, oder ob andere Kennziffern notwendig sind. Hat eine solche Debatte absehbar eine Chance, vielleicht sogar durch die Corona-Erfahrung bestärkt?
Es gibt die Ansätze, und es wird ja quer durch das politische Spektrum anerkannt, dass Umweltdaten eine wichtige Rolle spielen, und nicht nur die Frage entscheidend ist, wie man das Einkommen stärkt. Dass man nach der Lebensqualität fragen muss, sieht man schon. Aber ausschlaggebend ist doch, ob man bereit ist, die Machtstrukturen zu verändern, die unser Wirtschaftssystem nach vorne treiben. Es geht nicht nur um die ungerechte Verteilung, die immer weiter zunimmt. Es geht darum, dass zu große ökonomische Macht Demokratie unmöglich macht. Diese Frage hat die deutsche Politik, aber auch die Politik weltweit vergessen. In den USA gibt es eine Debatte, ob man die Internetkonzerne nicht aufspalten muss, denn es ist ja absurd, wenn man sieht, wie Milliardenvermögen angehäuft werden und Menschen dann glauben, sie seien berufen, die Welt zu regieren. Es wäre sinnvoller, die Gelder unter staatlicher Kontrolle einzusetzen. Umgekehrt und zugespitzt gesagt: Krankenschwestern und Altenpfleger leisten für die Gesellschaft genauso viel wie Internetmilliardäre.
In der globalen Entwicklung, der Rivalität USA–China, fordern Sie eine klare Positionierung Deutschlands und Europas. Das Bekenntnis zu einem starken Europa ist klar, es fehlt aber an der gemeinsamen Praxis.
Das ist eine Fehlentwicklung, an der hauptsächlich Deutschland die Schuld trägt. Die Debatte ist ja im Zuge der deutschen Einheit ausführlich geführt worden. Das dominante deutsche Verhalten erschwert die Zusammenarbeit in Europa, da darf man sich nicht durch die öffentlichen Stellungnahmen täuschen lassen. Hauptverantwortlich dafür ist Angela Merkel, die die Zusammenarbeit weiter erschwert hat, statt sie im Geiste Helmut Kohls zu stärken. Helmut Kohl hat gesagt: Ich muss Luxemburg genauso ernst nehmen wie die großen Staaten. Dieser Geist ist verloren gegangen. Und denken Sie jetzt an die Schließung der Grenzen zu Frankreich ohne Abstimmung. Das war nicht nur Seehofer, sondern die Bundeskanzlerin. Das war instinktlos.
Hat die Pandemie den deutschen Blick auf Europa verändert?
Notgedrungen. Die deutsche Wirtschaft hat erkannt, dass sie die Exporte zu den europäischen Nachbarn nicht aufrechthalten halten, wenn die Kunden nicht zahlen können. Deshalb hat man die Politik gedrängt, Maßnahmen zuzustimmen, die diesen Ländern Investitionen gegen die Krise zumindest teilweise erlauben. Es waren wirtschaftliche Gründe, die zum Umdenken geführt haben.
Der „Green Deal" in Europa – ein richtiger Weg?
Es ist richtig, den Erhalt der Umwelt in den Mittelpunkt zu rücken. Allerdings ist „Green Deal" so ein Begriff aus der Werbesprache, den jeder mittlerweile benutzt und alles Mögliche darunter versteht. Schon in den 70er-Jahren hat der „Club of Rome" nahegelegt, zu einer umweltfreundlichen Wirtschaftsweise zu kommen. Solange das nicht ernsthaft der Fall ist, bleibt es eine Worthülse.
Trotzdem die Frage nach der Chance für Europa, in diesem Bereich Vorreiter zu sein, wo die USA gerade aus dem Pariser Abkommen ausgestiegen ist?
Wir werden nur vorankommen, wenn die Giganten, USA und China, sich ernsthaft bemühen, sie werden nicht daran vorbeikommen. Deutschland und Europa sollten vor allem Technologien entwickeln, die weiterhelfen.
Bei all den kritischen Analysen: Gibt es eine Hoffnung zum Besseren?
Nur wenn wir erkennen, dass wir unsere Wirtschaftsweise ändern müssen und dass zu große wirtschaftliche Macht jede Demokratie zerstört.