Von der Wirtschaft über die Medizin bis hin zur Städteplanung – wann immer wir in unterschiedlichen Bereichen Daten sammeln, geht es fast immer nur um männliche Körper und Lebenserfahrung. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch gefährlich.
Es fängt bei Kleinigkeiten an. Sonnencreme-Sprühflaschen beispielsweise sind zu groß designt, um gut in die Hand einer durchschnittlichen Frau zu passen. In Büroräumen, in denen die Temperatur zentral gesteuert und reguliert wird, frieren Frauen häufiger. Männer hingegen finden es meistens angenehm und ausreichend warm. Der Grund: Die Formel für die perfekte Raumtemperatur wurde in den 60ern anhand der Stoffwechselrate eines durchschnittlichen 40-jährigen Mannes von 70 Kilogramm erstellt. Weil die Stoffwechselrate von Frauen signifikant niedriger ist, sind normale Büros im Schnitt fünf Grad zu kalt für sie.
Doch es bleibt nicht bei diesen Kleinigkeiten. Die sogenannte Gender Data Gap beschreibt, wie in sämtlichen Lebensbereichen von Medizin, über Wirtschaft, Technik, Städteplanung oder Arbeitsplatzgestaltung historisch vor allem männliche Daten erfasst und als Maß der Dinge angesehen wurden. Die Journalistin Caroline Criado-Perez hat darüber das Buch „Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ geschrieben und sagt, die Datenlücke mache Frauen ärmer, kränker und töte sie.
Der „Durchschnittsmensch“ ist immer männlich
In London, dem Wohnort von Criado-Perez beginnt ihre Recherche. Verwundert sei sie gewesen, als sie mal wieder am Parliament Square in London vorbeikam. Dort standen nur Statuen von Männern. Wieso war das noch niemandem aufgefallen, wieso hatte niemand was gemacht? Wieso waren all die Frauen so unsichtbar? 2016 startete sie eine Kampagne für eine Statue der Suffragette Millicent Fawcett. Vor allem aber recherchierte sie weiter: In welchen anderen Bereichen sind Frauen unsichtbar?
Schnell fand Criado-Perez heraus: in fast allen. Historisch werden Daten so gesammelt, dass dabei männliche Körper und Lebensweisen als universell verstanden werden. Sie bilden sozusagen den „Durchschnittsmenschen“, und ihre Erfahrungen und Erlebnisse gelten als geschlechtsneutral. Daten, die über Männer gesammelt werden, sollen alle repräsentieren. Über Frauen erhobene Daten hingegen nur Frauen.
Ein Bereich, in dem fehlende Daten oder fehlende Rücksichtnahme auf vorhandene Daten richtig gefährlich werden kann, ist die Medizin. Herzinfarkte etwa werden bei Frauen häufiger nicht erkannt, ihre Symptome gelten als a-typisch. Während sich bei Männern Herzinfarkte vor allem durch Schmerzen in Brust und im linken Arm bemerkbar machen, haben Frauen eher Symptome wie Übelkeit, Verdauungsprobleme und Müdigkeit. In Großbritannien etwa bekommen Frauen 50 Prozent häufiger eine falsche Diagnose, wenn sie einen Herzinfarkt haben – damit steigt auch ihre Sterblichkeitsrate.
Auch Medikamente werden in der Regel an Männern getestet, obwohl Frauen oft anders auf Wirkstoffe reagieren. Einige Medikamente mussten wegen schwerer Nebenwirkungen bei Frauen vom Markt genommen werden. Viele Wissenschaftler wissen laut Criado-Perez, was sie da tun. Einige aber redeten sich heraus. Es sei zu teuer und kompliziert, auch Frauen zu testen. Bei ihnen müsse der weibliche Zyklus mitberücksichtigt werden, und deshalb brauche man unterschiedliche Testphasen. Criado-Perez entgegnet ihnen: „Frauen sind die Hälfte der Weltbevölkerung. Das ist kein Nischenthema.“
Doch nicht nur zwischen Männern und Frauen gibt es Unterschiede. Es existieren weniger Daten, die sich auf Schwarze, Indigene und Women of Color konzentrieren als auf weiße Frauen. Auch das hat Folgen. In den USA beispielsweise haben afroamerikanische Frauen eine 243 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, beim Gebären zu sterben als weiße Frauen. Selbst afroamerikanische Frauen der Mittelklasse sterben weitaus häufiger als weiße Arbeiterinnen. Armut ist also nicht allein der Grund für die hohe Sterblichkeit. Um aber herauszufinden, welche Rolle Rassismus dabei spielt, brauche es Studien, so die Journalistin.
Frauen haben Probleme im Alltag
Gefährlich wird es für Frauen auch beim Autofahren und das, obwohl sie eigentlich weniger in Autounfälle verwickelt sind als Männer. Ihr Risiko, bei einem Autounfall zu sterben, ist um 17 Prozent höher als das der Männer, das Risiko für ernsthafte Verletzungen ist gar um 47 Prozent erhöht. Woran liegt das? Zum einen durchlaufen Dummys für Crashtests in der EU fünf Sicherheitstests. Ein weiblicher Dummy muss dabei allerdings nicht eingesetzt werden. Der Durchschnitts-Dummy wird als Durchschnittsmensch gehandelt oder besser gesagt als Durchschnittsmann. Zum anderen werden Autos so designt, dass Frauen in der falschen Position fahren. Die meisten Frauen müssen den Sitz weiter nach vorne und oben verstellen, um Überblick über den Verkehr zu haben. Das birgt die Gefahr, beim Aufprall eher innere Verletzungen und Beinverletzungen davonzutragen. Fahrerinnen sind außerdem dreimal mehr gefährdet, ein Schleudertrauma zu erleiden, weil die steifen Rücklehnen vieler Fahrersitze die leichteren Frauenkörper nicht abfedern können und ungebremst zurück nach vorne schleudern.
Besonders wütend hat Criado-Perez die UN-Flüchtlingskonvention gemacht. Das Abkommen, das gedacht ist, um Menschen zu helfen, sei nur vermeintlich geschlechtsneutral. Der Grund: Wer Asyl beantragen möchte, muss sich außerhalb des Landes befinden, aus dem er oder sie flieht. Für Frauen ist es weltweit schwieriger, zu reisen. Das kann beispielsweise daran liegen, dass sie aus einem Land kommen, in dem es ihnen nicht erlaubt ist, alleine zu reisen, oder es unwahrscheinlicher ist, dass sie ein Reisevisum erhalten. Selbst wenn es ihnen gelingt, das Land zu verlassen, müssen sie nachweisen können, dass ihre Fluchtursache auf einer Liste mit vorgefassten Gründen zu finden ist. Dazu gehören unter anderem: Sexualität, politische Zugehörigkeit und Religion. Das sind alles Gründe, aus denen Frauen verfolgt werden können. Frage man aber Asylbewerberinnen, warum sie verfolgt werden, antworteten diese meistens, dass es daran liege, dass sie Frauen sind. Geschlecht sei aber kein Kästchen, das angekreuzt werden könne.
Alles wurde für Männer entwickelt, sagt Criado-Perez, egal ob Medikamente, Autos oder auch Stadtgebiete. Letztere werden so geplant, dass Zonen für Wohngebiete und Gewerbegebiete eingeteilt werden. In den meisten Städten basiert diese Einteilung auf der Idee, das eigene Zuhause sei ein Ort für Freizeit, der verlassen wird, um zur Arbeit zu gehen. Nach diesem Konzept richtete sich das Leben von Männern vom viktorianischen Zeitalter bis in die 1950er-Jahre. Für viele Frauen war das Zuhause aber schon immer auch Arbeitsplatz. Sie brauchen die notwendigen Ressourcen, um ihre Arbeit ausführen zu können. Dazu gehören beispielsweise Möglichkeiten, die Kinder zur Schule zu bringen oder zu Ärzten zu gehen. Liegen diese Dinge weit von der eigenen Wohngegend entfernt und gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel, verursache das Probleme.
Auch andere Konstruktionen sind nicht für Frauen geschaffen worden. Die durchschnittliche deutsche Frau ist 166 Zentimeter groß. Das bedeutet für sie: Arbeitsflächen in Küchen sind häufig zu hoch, Supermarktregale so, dass sie diese teils nicht erreichen kann, und automatische Türen, öffnen sich erst, wenn wild mit den Armen gefuchtelt wird. Selbst Smartphones sind so groß geworden, dass sie kaum einhändig benutzbar sind und nicht in die weibliche Hosentasche passen. Und auch der Gang zur Toilette ist nicht gendergerecht. Architekten haben im öffentlichen Raum genauso viele Quadratmeter für männliche Waschräume vorsehen wie für weibliche. Frauen benötigen allerdings naturgemäß mehr Zeit auf der Toilette, sie haben eine kleinere Blase, müssen sich oft aus mehreren Kleidungsstücken schälen und aufgrund der Menstruation häufig Hygieneprodukte wechseln. Außerdem wird beim gängigen Toilettendesign außer Acht gelassen, dass es meist Frauen sind, die Kinder und Hilfsbedürftige auf die Toilette begleiten. Sie brauchen also nicht nur mehr Zeit, sondern auch Bewegungsfreiheit. Dafür sind viele Toiletten allerdings zu klein und bei den Damen länger besetzt. Trotzdem gibt es für Frauen nicht einmal dieselbe Anzahl an Toiletten wie für Männer, denn Pissoirs nehmen viel weniger Platz ein. Genderneutral, schreib Criado-Perez, sei eben nicht automatisch gendergerecht.
Datenlücken müssen geschlossen werden
Sie glaubt nicht daran, dass sich das im Zuge der Gleichberechtigung zeitnah ändern wird. Denn immer mehr Entscheidungen würden in den unterschiedlichsten Lebensbereichen von Algorithmen getroffen, die jahrelang mit männlichen Daten versehen worden sind, wie sie sagt. „Wir programmieren die Algorithmen mit Daten, die Lücken haben“, so die Autorin. „Wir bringen ihnen unsere eigene Voreingenommenheit bei.“
Was muss sich also tun? Alle Bereiche, die mit Datenerfassung arbeiten, müssten anfangen, Daten nach Geschlecht aufgeschlüsselt zu erfassen, fordert Criado-Perez. Es werde einige Zeit dauern, bis man diese Lücken schließen könnte. In ein paar Jahrzehnten aber könne man schon Nutzen daraus ziehen, in einigen Bereichen auch schneller. Zum Beispiel sei es viel einfacher, geschlechtsbezogene Unterschiede bei der Fahrzeugsicherheit zu beseitigen, indem man etwa unterschiedliche Autocrashpuppen verwende. Auch Repräsentation sei wichtig. Studien, die von Frauen angeleitet wurden, haben häufiger Geschlecht als einen Analysepunkt. Doch Repräsentation allein geht Criado-Perez nicht weit genug. Sie will, dass reguliert wird, dass Menschen dazu gezwungen werden, Frauen zu berücksichtigen. Das bedeute auch, dass Studien aufwendiger und teurer würden. Es würde sich aber auszahlen, wenn dadurch weniger Frauen verletzt würden oder stürben. „Eine Welt, die für alle funktionieren soll, können wir nicht ohne Frauen entwerfen“, so Criado-Perez.