Mit Kay Bernstein wird erstmals bei einem Bundesligaverein ein ehemaliger „Ultra" ins Amt des Präsidenten gewählt. Ihm kommt nun die Herkulesaufgabe zu, die verschiedenen Lager bei Hertha BSC zu einen.
Fredi Bobic ist auch in diesem Sommer das Thema Neuverpflichtungen mit dem weiter gebotenen Augenmaß angegangen. Der Geschäftsführer Sport von Hertha BSC stellte mit Tjark Ernst (Tor, VfL Bochum), Jonjoe Kenny (Abwehr, FC Everton) und Filip Uremović (Abwehr, Rubin Kasan) erst drei Zugänge für die Saison 2022/23 vor – alle ablösefrei. Ernst ist eher als Perspektivspieler zu betrachten – nach dem nicht mehr rückgängig zu machenden Abgang von Torwart Marcel Lotka (BVB II), der Leihe von Alexander Schwolow zu Schalke 04 und wegen der ungewissen Zukunft von Rune Jarstein hat sich die sportliche Leitung bei den Berlinern für den in der Relegation bewährten Oliver Christensen als neue Nummer eins entschieden. Kenny soll wiederum die Dauerbaustelle auf der rechten Abwehrseite schließen, die in der Vergangenheit stets Peter Pekarik (verlängert bis 2023) noch am solidesten zu bearbeiten wusste. Der noch im März nach Sheffield (England, Zweite Liga) verliehene Uremović wurde als gestandene Alternative für die Innenverteidigung geholt, weiß aber defensiv auch andere Rollen zu spielen.
Den größten Medienrummel löste zuletzt ein Neuer in der Chefetage aus: Kay Bernstein, der auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung am 26. Juni zum Nachfolger des im Mai zurückgetretenen Werner Gegenbauer ins Amt des Präsidenten gewählt wurde. Die Welle der Schlagzeilen erreichte ein gewaltiges Ausmaß: Von nicht weniger als einer „blau-weißen Revolution" („Der Tagesspiegel") bis hin zur „Zäsur im deutschen Fußball" („Welt") war da als Reaktion die Rede. Und das alles nur, weil er Gründungsmitglied der Ultragruppierung „Harlekins ’98" und auch Vorsänger in der Kurve der organisierten Fanszene war. „Bernstein erhielt insgesamt dreimal Stadionverbot, einmal wurde er von der Polizei abgeführt", fasste die „B.Z." unmittelbar vor dem Wahlsonntag zusammen – verhindern konnte es dessen Sieg im Votum gegenüber Frank Steffel aber nicht.
Er wurde sogar von der Polizei abgeführt
„Es langweilt mich, auf meine Zeit als Ultra reduziert zu werden", hatte der heutige Inhaber eines Kommunikationsunternehmens im Vorfeld verkündet. Mittlerweile ist er Familienvater und im Olympiastadion auf der Haupttribüne beheimatet – gleichwohl konnte er mit dem sich selbst frühzeitig angehefteten Etikett als „Kind der Kurve" bei der Mehrzahl punkten. Dabei war seine Bewerbung für die Wahl zunächst eher als Botschaft zu verstehen gewesen – gegen das „Establishment" und den damit verbundenen Klüngel auf der Führungsebene. Zu diesem Zeitpunkt war Werner Gegenbauer noch im Amt, und Hertha BSC hatte noch vergleichsweise gute Aussichten auf den Klassenerhalt: So entstand der Eindruck, dass da einer den Mut (und auch die nötige Frustration) mitbringt, um zumindest eine erneute Präsidentenwahl ohne Gegenkandidat um jeden Preis verhindern zu wollen. Als das Team doch noch auf den Relegationsplatz abrutschte, war Gegenbauers vorzeitiger Abschied unvermeidlich – und nur Bernstein als neues Gesicht hatte bis dahin seinen Hut in den Ring geworfen. Bisherige Präsidiumsmitglieder wie Peer Mock-Stümer oder Ingmar Pering sahen sich in dieser Situation so womöglich genötigt, rasch ihre Kandidatur anzukündigen, um eine vertrautere Alternative für die konservativeren Mitglieder anzubieten. Der Macht- und Wahlkampf sollte noch eine höhere Stufe erreichen: Denn der neue Aufsichtsratschef Klaus Brüggemann brachte mit Steffel einen Kandidaten ins Spiel, der ausreichend wenig Stallgeruch mitbrachte und als großer Versöhner antreten sollte. Dazu hatte der ehemalige Fraktionschef der Hauptstadt-CDU beim Handball-Bundesligisten Füchse über fast zwei Jahrzehnte als Vorsitzender einen erfolgreichen Job gemacht. Bernstein kommentierte diesen Schachzug kritisch, da Brüggemann eher als Gestalter denn als Aufseher aktiv geworden sei. Dadurch wurde auch Steffel unter Verdacht gestellt, nicht für den wirklichen Neuanfang zu stehen. Zumal etwa Kandidat Pering in der Folge nicht nur den Rückzug von seiner Kandidatur bekanntgab, sondern sich obendrein als Vize in das Steffel-Lager schlug – auch Mock-Stümer verzichtete auf eine Kandidatur. Bernstein bewies weiter den richtigen Riecher, als er das Präsidiumsmitglied Fabian Drescher und somit auch ein bei Hertha vertrautes, aber vergleichsweise unverbrauchtes Gesicht für sein Team gewinnen konnte. Dazu widerstand er dem Angebot Steffels, in einer Gesamtkandidatur aufzugehen, und schärfte sein Profil, nur für einen absoluten Neuanfang bis hin zum obersten Vereinschef zur Verfügung stehen zu wollen.
Außerdem wechselte der frühere Ultra von der anfänglichen, kritischeren Aussage gegenüber dem Investor von Hertha BSC und schloss ihn später ausdrücklich in seine Botschaft ein, mit wirklich allen das offene Gespräch zu suchen. Der Finanzmanager wiederum hatte durch den Rücktritt Gegenbauers ja praktisch sein Minimalziel bereits erreicht, band in seine Gratulation aber eine Formulierung mit ein, die euphorischer hätte ausfallen können: „Es kann nur besser werden als früher", gab Windhorst von sich. Der 45-Jährige hatte sich im Vorfeld zwar auch mit dem vermeintlichen Außenseiter ausgetauscht – ob sein Zusammentreffen mit Wahlverlierer Steffel unmittelbar nach dem Votum im noblen „Lutter & Wegner" am Gendarmenmarkt zufällig zustande kam, wie es Windhorsts Sprecher formulierte, darf infrage gestellt werden. Bernstein selbst hatte sich auf die Abstimmung dahingehend vorbereitet, dass er rund um den „City Cube"-Banner mit der Aufschrift „Neuanfang" platziert hatte – und im Veranstaltungsort waren die vorderen Reihen erkennbar mit seinen Unterstützern besetzt. Frank Steffel sah sich so einem deutlich kritischeren Empfang gegenüber als der spätere Gewinner und konstatierte: „Mir war so eine tiefe Zerrissenheit bei Hertha BSC nicht bewusst."
Windhorst gratulierte nicht gerade euphorisch
Sein Unterstützer Klaus Brüggemann brachte sogar eine Änderung des Modus ins Spiel: Der Aufsichtsratschef monierte, dass nur die rund 3.000 Anwesenden der insgesamt 41.000 Mitglieder abstimmen konnten. Da die technische Umsetzung eines solchen Verfahrens allerdings mehr als kompliziert einzuschätzen ist, durfte Brüggemanns Aussage in erster Linie als Spitze in Richtung des (ungeliebten) Wahlsiegers verstanden werden. Fakt ist, dass die Versammlung Ende Juni eine der am besten besuchten war –
und die 54 Prozent für „Außenseiter" Bernstein anders zu gewichten sind als der beinahe identische Stimmenanteil von Gegenbauer bei der Wahl als Alleinkandidat 2020. Unter dem Strich offenbart das Ergebnis in der Tat die Zerrissenheit des Clubs, in dem der neue Chef schon in Aufsichtsrat und Präsidium seine größten Widersacher sitzen hat. Nicht weniger als eine Herkulesaufgabe erwartet also Bernstein – der die Alte Dame nicht zu Unrecht auf der „Intensivstation" wähnt. Deren Gesundung soll über einen „ehrlichen Neustart" gelingen: „Ich kann einen, ich kann Projektmanagement, ich kann gut Leute führen", strich der 41-Jährige im Wahlkampf seine Qualitäten heraus, „und eines kann ich besonders: Hertha-Leidenschaft vorleben."
Letzteres allein wird jedoch ab sofort nicht mehr reichen – alles andere muss Kay Bernstein, der erste ehemalige Ultra im Amt des Präsidenten eines Bundesligisten, nun erst noch gegen einige zu erwartende Widerstände beweisen.