134 Menschen kamen im Sommer 2021 bei der Flut im Ahrtal ums Leben, Tausende Häuser wurden zerstört. Die Politik ist sich einig: Alles soll schnellstmöglich wieder aufgebaut werden. Doch das könnte sich schon bald rächen.
Ein nasskalter, wolkenverhangener Tag Anfang Februar. Simon Templeton, ein junger Mann mit Kapuzenpulli und Lederjacke, steht vor den Überresten seines Hauses, 400 Meter von der Ahr entfernt. An den Außenwänden fehlt der Putz, innen hängen Kabel von der Decke. Die einzige Inneneinrichtung: ein Kasten Bier, abgestellt im Schlafzimmer.
Das Haus sieht aus, als werde es gerade erst gebaut, doch Templeton und seine Familie wohnen hier schon zweieinhalb Jahre. Im Juli 2021, als Starkregen die Ahr in einen reißenden Fluss verwandelte, wurde das Neubaugebiet mit voller Wucht getroffen. Nachdem das Wasser die unteren Fenster eingedrückt hatte, flüchtete die Familie ins Obergeschoss. Das Wasser stieg weiter. „Irgendwann war uns klar, dass wir aufs Dach müssen", sagt der 35-Jährige. Er stapelte Möbel übereinander, öffnete das Oberlicht und bugsierte die Hausbewohner per Räuberleiter nach draußen: erst seine Frau und seinen neugeborenen Sohn, danach die beiden Hunde.
Katastrophe könnte sich wiederholen
Hans-Jürgen Vollrath (DJV)
Es war ein Horrortag, und doch hatten die Templetons noch vergleichsweise Glück. Während in der Nachbarschaft ganze Häuser weggespült wurden, blieb ihres stehen. „Viele Alteingesessene sagen, hier hätte man nie bauen dürfen", weiß Templeton. „Aber klar, das sagen sie jetzt. Hinterher ist man immer schlauer."
Die theoretische Flutgefahr, die Folgen von Flächenversiegelung, Verstädterung und Flussbegradigungen: All das, wovor Umweltschützerinnen seit Langem warnen, ist im Juli 2021 real geworden. Aber Simon Templeton will trotzdem bleiben. „Das ist unsere Heimat, ich arbeite hier und bin mit dem Haus auf 30 Jahre verschuldet." Zum Glück zahle die Versicherung, aber nur für einen Wiederaufbau wie vorher. Eigentlich würde die Familie gerne eine weitere Etage aufs Dach setzen, sicher ist sicher.
Bei der Flut-Katastrophe starben 134 Menschen. Tausende Häuser wurden zerstört, Innenstädte von Wasser, Schlamm und Müll überrollt. Die meisten wollen diese traumatischen Erinnerungen so schnell wie möglich hinter sich lassen. „Bad Neuenahr-Ahrweiler wird wieder bunt", steht auf zahlreichen Plakaten, die die Stadt gedruckt hat. Sie hängen zwischen Schlammhügeln, vernagelten Fenstern und Containern, die noch immer als provisorische Supermärkte und Apotheken dienen – eine Durchhalteparole, aber auch ein Versprechen: Alles wird gut, alles wird wie vorher.
„Schöner als zuvor" solle die Region auferstehen, versprach der damalige NRW-Ministerpräsident und Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) bei einem Besuch im Ahrtal. Die meisten Politikerinnen und Politiker vertreten diese Ansicht. Allein NRW legte einen Hilfsfonds von 12,3 Milliarden Euro auf, damit Betroffene ihre Häuser im Flutgebiet schnell wieder herrichten können – eine ehrenwerte Geste, und doch ein fatales Signal. Denn genau diese Versprechungen bergen die Gefahr, dass frisch sanierte Gebäude in wenigen Jahren erneut fortgespült werden. Dass sich die Katastrophe wiederholt, obwohl man es besser wissen müsste.
Thomas Roggenkamp beschäftigt sich seit Jahren mit dieser Thematik. Der Geograf leitet an der Universität Bonn eine Forschungsgruppe zu historischen Ahr-Hochwassern. Ob 1804 oder 1910: Schon immer sei die Gegend massiv überschwemmt worden, weiß der Experte. Wenngleich die Gefahr durch den Klimawandel noch weiter zunehme. Die Gemeinsamkeit bei allen Katastrophen: Sie geraten schnell in Vergessenheit.
„Die Anwohner hoffen, dass es eine einmalige Sache war", sagt Roggenkamp, „was menschlich natürlich verständlich ist." Politisch aber führe eine solche Haltung dazu, dass teure Schutzmaßnahmen und ungeliebte Bauverbote entweder vertagt oder überhaupt nicht umgesetzt würden. Je mehr Zeit vergeht, desto stärker gerät der Schrecken in Vergessenheit. Es gibt dafür sogar einen eigenen Begriff: Hochwasser-Demenz.
Im Ahrtal spielt laut Roggenkamp die Topografie eine Schlüsselrolle: ein schmales, dicht besiedeltes Tal, steile Hänge, viele Nebenbäche. „Selbst wenn es keine Versiegelung gäbe, könnte der Boden solche Wassermassen wie 2021 nicht komplett aufnehmen", sagt Roggenkamp. „In letzter Konsequenz dürfte da eigentlich überhaupt niemand mehr wohnen. Aber das ist natürlich völlig unrealistisch."
Doch selbst deutlich geringere Einschnitte scheuen die Verantwortlichen. Wo was wieder aufgebaut werden darf, entscheidet in Rheinland-Pfalz die Struktur- und Genehmigungsdirektion (SGD Nord), eine Unterbehörde des Landesumweltministeriums. Im September 2021 veröffentlichte sie ein 108-seitiges Dokument mit detaillierten Landkarten rund um die Ahr. Zur Überraschung vieler Fachleute dürfen demnach nur 34 Häuser nicht wieder aufgebaut werden. Für die meisten Gebäude greift der Bestandsschutz. Ebenfalls auffällig: Der neu festgelegte „besondere Gefährdungsbereich" verläuft fast immer um bestehende Siedlungen herum. Die Pläne passen sich nicht dem Wasser an, sondern den Menschen.
„Jeder gefällte Baum ist bei der nächsten Flut ein Toter mehr"
Hans-Jürgen Vollrath (DJV)
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) bestätigt, dass Objekte im Ahrtal vielerorts weiter versichert werden. Die Prämien würden dann eben teurer. „Wir warnen schon lange davor, in Hochrisikogebieten zu bauen", erklärt eine Sprecherin. Aber keine Versicherung wolle den Menschen vorschreiben, wo sie zu leben haben – „ein echtes Dilemma". Wobei in diesem Fall auch diejenigen staatliche Nothilfe erhielten, die keine Elementarschadenversicherung abgeschlossen hatten. Abermals eine ehrenwerte Geste. Nur: Wie lange kann sich das ein Staat leisten? Unwahrscheinlich, dass beim nächsten Ahr-Hochwasser noch einmal Milliardengelder zur Verfügung stehen.
In den ersten Tagen der Flut herrschte vielerorts Chaos. Es dauerte lange, bis Rettungskräfte zu allen Betroffenen vorrücken konnten. In vielen Dörfern fiel tagelang der Strom aus, in manchen sogar mehrere Wochen. Der Dank gegenüber den freiwilligen Helferinnen und Helfern, die sofort anpackten, ist deshalb heute noch spürbar: An vielen Fassaden hängen Banner mit Herzchen und Dankesbotschaften. Doch die (zumindest am Anfang vorherrschende) mangelnde staatliche Koordination hatte auch ihre Schattenseiten.
So kritisiert der Hildesheimer Biologie-Professor Wolfgang Büchs in einem Interview das „sinnlose Herumbaggern und Planieren" rund um den Fluss. Die Ahrtalschleife, ein Naturschutzgebiet mit 4.300 Tierarten und 1.200 Pflanzenarten, sei durch Baumaschinen großflächig zerstört worden. Generell seien die Behörden „hoffnungslos überfordert" gewesen, schimpft Büchs. Der Naturschutzbund in Ahrweiler stimmt ihm zu: In einer Pressemitteilung moniert der Verband die eiligen Begradigungen und Baum-Rodungen entlang des Flusses. „Jeder gefällte Baum und jeder zugeschüttete Seitenarm ist beim nächsten Hochwasser ein Toter mehr."
Knapp 15 Kilometer flussabwärts, in Bad Neuenahr-Ahrweiler, betritt Hans-Jürgen Vollrath die Überreste seines Hauses, vermutlich zum letzten Mal. Der 70-jährige Pressefotograf, von dem die Bilder für diesen Artikel stammen, will sich dem Hochwasser-Risiko nicht wieder aussetzen. Unter seinen Nachbarn ist er damit ein Exot. „Am Anfang haben alle gesagt, dass sie nicht wieder aufbauen, aber jetzt kommen doch die meisten zurück."
Qualifizierter Hochwasserschutz fehlt nach wie vor
Nebenan wird ebenfalls weitergebaut. Dort entstehen die Pius-Gärten, ein neues Baugebiet mit sechs Einfamilienhäusern und 16 Wohnungen. Die Siedlung sollte als klimaneutrales Vorzeigeprojekt bei der (inzwischen abgesagten) Landesgartenschau dienen. Einzige Schattenseite: Die Häuser liegen direkt an der Flusspromenade, teilweise sogar im „besonderen Gefährdungsbereich", den die SGD Nord neu ausgewiesen hat.
Trotzdem röhren die Bohrmaschinen auf der Baustelle; die Arbeiten an den Mehrfamilienhäusern gehen unvermindert voran. Für diese habe man bereits eine Baugenehmigung, beteuert der Architekt. Man werde druckwasserdichte Türen einbauen und die Haustechnik nach oben verlagern. Das Schicksal der Einfamilienhäuser, die in der neuen Verbotszone liegen, ist hingegen noch unklar. Man befinde sich „im regelmäßigen Austausch mit dem Projektträger", erklärt der Pressesprecher von Bad Neuenahr-Ahrweiler. Für eine mögliche Ausnahmegenehmigung sei die SGD Nord zuständig. Was fehlt, ist allerdings ein qualifizierter Hochwasserschutz.
Wie geht es nun weiter im Ahrtal? Welche Prioritäten setzt die Politik? Die Frau, die es wissen könnte, heißt Cornelia Weigand. Als parteilose Bürgermeisterin der Verbandsgemeinde Altenahr machte sie sich in den Wochen nach der Flut bundesweit einen Namen. Weigand gab den vielen Opfern eine Stimme, organisierte Hilfe, pochte auf schnelle, unbürokratische Unterstützung. Im Januar 2022 wurde sie zur neuen Landrätin für den Kreis Ahrweiler gewählt, im ersten Wahlgang, mit 50,2 Prozent der Stimmen. Sie trägt jetzt die direkte Verantwortung für den Wiederaufbau.
Was wird in Zukunft also Vorrang haben: Heimatverbundenheit? Tourismus? Hochwasserschutz? Wie bekommt das geschundene Ahrtal diese widerstrebenden Interessen unter einen Hut? Es wäre interessant gewesen, mit Weigand über diese Fragen zu diskutieren. Für ein Interview war die sonst so umtriebige Landrätin leider nicht erreichbar – keine Zeit, erklärte ihre Sprecherin.