Ein Gläschen geht immer: So halten es viele Menschen im Bier- und Weinland Deutschland. Ein Fehler, meint Helmut Seitz. Der Honorarprofessor der Uni Heidelberg gilt weltweit als einer der renommiertesten Alkoholforscher.
Professor Seitz, ab wann trinkt jemand zu viel?
Das ist sehr unterschiedlich. Gefährlich wird es, sobald jemand täglich trinkt, ohne eine Pause machen zu können. Oder wenn die Alkoholmenge zunimmt, die jemand konsumiert. Als grober Richtwert gelten ein Viertelliter Wein beim Mann und ein Achtelliter Wein bei Frauen als halbwegs verträglich – pro Tag. Aber das gilt nur für gesunde Menschen.
Und bei Nicht-Gesunden?
Übergewichtige Menschen sind sehr viel empfindlicher. Und sehr dünne. Es gibt außerdem genetische Faktoren, die eine Rolle spielen. Nehmen wir an, mehrere Männer trinken jeden Tag eine halbe Flasche Wodka. Maximal 20 Prozent von ihnen bekommen nach zehn Jahren eine Leberzirrhose. Wer diese Gene in sich trägt, wissen wir nicht. Schon deshalb sollte man beim Alkoholkonsum vorsichtig sein.
Viele Menschen machen aber genau das Gegenteil. Jeder weiß, dass Alkohol eine Droge ist und trotzdem greifen wir zu. Warum?
Zum einen zur Stressbewältigung. Zum anderen verleiht uns Alkohol eine gewisse Lockerheit. Wir sind gesprächiger, lustiger, weniger verklemmt. Alkohol ist ein sozialer Schmierstoff – das geht bis zum politischen Gespräch. Aber die positive Wirkung hört nach einem Glas schon auf. Je nachdem, welcher Typ man ist, schlägt die Stimmung danach in Aggression um.
Wie sieht es mit gesundheitlichen Vorteilen aus? Ein Glas Wein am Tag soll ja angeblich gegen alles Mögliche helfen.
Eine kleine Menge wirkt tatsächlich gegen Arteriosklerose. Aber ich würde Alkohol trotzdem nicht empfehlen. Keine Behörde der Welt würde es als Medikament zulassen, weil die Wirkung so toxisch ist. Wir haben eine Million Leberkranke in Europa. Die Hälfte davon ist auf Alkohol zurückzuführen.
Also mir hat ein Arzt einmal geraten, ein Bier am Tag zu trinken – für die Gesundheit.
Dann waren Sie beim falschen Arzt. Mir geht es nicht darum, zu missionieren oder null Alkohol zu propagieren. Aber wir sollten einen vernünftigen Umgang damit finden. Wenn Günther Beckstein (Anm. d. Red.: früherer bayerischer Ministerpräsident) sagt, ein gestandener Bayer vertrage zwei Mass Bier am Abend, dann reden wir über 80 Gramm reinen Alkohol. So etwas ist unverantwortlich.
Also lieber Warnhinweise auf Bierflaschen, so wie bei Zigaretten?
Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass Aufklärung nicht viel bringt. Auch keine Verbote. Am einfachsten geht es immer noch über den Preis und die Verfügbarkeit. In Schweden ist Alkohol sehr hoch besteuert – das funktioniert gut. In den USA bekommt man Alkohol erst ab 21 Jahren. Wer eine Flasche kaufen will, muss sich ausweisen. Und in Deutschland? Hier kann jeder 16-Jährige einen Kasten Bier kaufen.
Welche Krankheiten werden durchs Trinken ausgelöst?
Beim Trinker selbst Alkoholismus. Bei Noch-nicht-Geborenen kommt es häufig zum fetalen Alkoholsyndrom, wenn die Mutter trinkt. Das ist eine ganz schlimme Vergiftung, bei der das zentrale Nervensystem geschädigt wird. Viele dieser Menschen leiden im späteren Leben unter Unruhe, Lernstörungen oder Allergien. An dritter Stelle folgen Lebererkrankungen, an vierter Stelle Krebs. Und dann noch die sozialen Folgen. Alkoholiker verlieren irgendwann alles: ihre Arbeit, ihre Ehe, ihre Freunde.
Trotzdem will sich niemand das Feierabendbier nehmen lassen. In Frankreich wird sogar Wein in der Mittagspause getrunken.
Weil es sozial akzeptiert ist. Wir leben in einer Kultur, in der ständig getrunken wird. Das geht quer durch alle Schichten und Altersgruppen, vom armen Schlucker bis zum Hochschulprofessor. Alkohol gehört dazu: in der Bundeswehr, im Sportverein, auch unter Akademikern, die jeden Abend eine gute Flasche Wein aufmachen. Auch kulturell gibt es kaum Unterschiede. Sicher, die Russen trinken am meisten, aber sonst habe ich auf meiner Station Patienten jeglicher Nationalität – viele aus Saudi-Arabien, wo Alkohol verboten ist.
Was ist aus medizinischer Sicht schlimmer: jeden Tag ein Bier oder ein „Totalabsturz" am Wochenende?
Beides ist nicht gut für den Körper. Beim „Binge Drinking", dem Koma-Trinken, kommt allerdings sehr schnell sehr viel Alkohol in den Körper. Das kann Auswirkungen haben, die weit über einen Kater hinausgehen – bis hin zu Herz-Rhythmus-Störungen am nächsten Tag. Auch die Art des Getränks spielt keine Rolle. Ob Sie Wein, Bier oder Schnaps trinken: Am Ende zählt die Menge an Alkohol, die darin enthalten ist.
Woran kann man erkennen, ob jemand ein Alkoholproblem hat?
Machen Sie den sogenannten CAGE-Test. Dabei müssen Sie vier simple Fragen beantworten: Haben Sie je daran gedacht, weniger zu trinken? Haben Sie sich schon mal über Kritik an Ihrem Trinkverhalten geärgert? Haben Sie sich jemals schuldig gefühlt wegen Ihres Trinkens? Haben Sie jemals morgens Alkohol getrunken, um den Start in den Tag zu erleichtern? Wenn Sie eine Frage mit Ja beantworten, sind Sie gefährdet. Bei zwei Ja-Antworten ist eine Sucht wahrscheinlich.
Und dann? Wie kann ich Freunden, Bekannten oder Partnern helfen?
Es gibt immer auch einen Co-Alkoholiker, nämlich den Partner, der stillhält. Je früher man hilft, desto besser. Freunde müssen das Problem offen ansprechen. Allein das kann ein Anstupser für den Betroffenen sein, sich seiner Sucht zu stellen. Auch der Hausarzt ist eine wichtige Anlaufstelle. Leider trauen sich viele Ärzte das Problem nicht anzusprechen, weil sie Angst haben, dass ihre Patienten dann nicht mehr kommen.
Welche Therapie-Arten gibt es?
Die Krankheit zu heilen, ist sehr schwierig. In 60 Prozent der Fälle ist sie genetisch vorherbestimmt, in 40 Prozent auf Umweltfaktoren zurückzuführen. Was man aber tun kann, ist, sie zu kontrollieren, wie bei Diabetes. Als ersten Schritt muss der Patient sein Problem anerkennen, denn man kann niemanden zu einer Therapie zwingen. Der zweite Schritt ist oft eine Gruppen-Therapie, zum Beispiel in Form der Anonymen Alkoholiker. Die Chance dazu besteht jederzeit.
Gibt es eine Vorsorge für diejenigen, die keine Alkoholiker sind, aber trotzdem regelmäßig trinken?
Die Leber tut nicht weh, das ist das Problem. Sie spüren eine Krankheit deshalb erst in einem späten Stadium. Es ist immer gut, die sogenannten Leberwerte beim Hausarzt überprüfen zu lassen. Genauere Ergebnisse bietet der „Fibro-Scan", den wir in unserer Klinik anbieten. Das ist eine Art Ultraschall für die Leber. Die 100 Euro, die dafür anfallen, sind es wert. Leider bezahlen ihn die Krankenkassen bisher nicht.
Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung trinken Jugendliche heute so wenig Alkohol wie nie zuvor. Wird also bald alles besser?
Mit solchen Statistiken wäre ich vorsichtig. Ich glaube nicht, dass die Befragten da immer die Wahrheit angeben. „Binge Drinking" ist in Mode. Da brauchen Sie nur mal hier in Heidelberg vor die Tür zu gehen: Nach dem Abitur saufen sich die Abiturienten auf den Neckarwiesen die Hucke voll. Dieses Phänomen gab es vor ein paar Jahren noch nicht.
Deutschland ist das Land der Bierbrauer. Wie ernst wird Ihre Forschung genommen?
Der Lobbyismus spielt eine große Rolle, das spürt man schon. Immerhin stehen in der Bier- und Wein-Industrie viele Arbeitsplätze auf dem Spiel. Die Industrie finanziert ganz gezielt Studien, die sich mit den vermeintlichen Vorteilen von Alkohol befassen. Bei großen Medizin-Kongressen kamen alkoholische Leber-Erkrankungen bisher so gut wie nie zur Sprache. Das ändert sich erst ganz allmählich.
Spüren Sie diese ablehnende Haltung auch selbst? Immerhin liegt Ihre Klinik mitten in einer Weingegend.
Ich mache diese Arbeit seit 40 Jahren. Die staatliche Förderung war immer extrem schlecht. Wenn ich keine private Unterstützung bekommen hätte – zum Beispiel durch die Dietmar-Hopp-Stiftung oder die Manfred-Lautenschläger-Stiftung –, wären unsere Untersuchungen nie möglich gewesen. Jetzt, da wir viele Papers veröffentlicht haben, erhalten wir nach und nach Geld von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Aber das gilt eben erst, wenn man einmal etabliert ist.
Rühren Sie selbst Alkohol an?
Ich trinke gerne mal ein Glas Bier oder ein Glas Weißwein, aber nie Rotwein. Den vertrage ich nicht, davon bekomme ich Kopfschmerzen. Nach einem Glas reicht’s mir dann auch. Schnaps trinke ich gar nicht.