Sandra Norak ist Schülerin, als sie sich in einen Mann verliebt, der sie auf besondere Art und Weise umgarnt. Das Mädchen ahnt nicht, dass sie auf einen sogenannten Loverboy hereingefallen ist – einen Zuhälter, der gezielt junge Frauen in die Prostitution drängt. Heute blickt Sandra Norak auf einen langen Leidensweg zurück.
Für Sandra Norak beginnt das Unglück in einem Chatroom. Als sie einen Mann im Internet kennenlernt und sich in ihn verliebt, ist sie noch Schülerin am Gymnasium. In einem Chatforum, in dem sich Leute aus der Region austauschen, trifft sie auf einen Mann, wie er im Buche steht: Er ist aufmerksam, charmant und interessiert. Zu Hause läuft es nicht besonders gut, die junge Frau beschreibt sich rückblickend als Einzelgängerin. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum sie Vertrauen zu dem fremden Mann fasst. Einen Verdacht, dass das alles zu schön ist, um wahr zu sein, schöpft sie nicht. Vielmehr überwiegt das positive Gefühl, endlich eine Bezugsperson gefunden zu haben.
Das Verhältnis zu ihren Eltern ist schwierig. Die Mutter ist psychisch erkrankt, zum Vater hat sie keinen Kontakt. Der Mann im Internet aber hat ein offenes Ohr. Gleich nachdem sie mittags aus der Schule kommt, zieht es sie an den Computer, um mit ihm zu chatten.
„Das war eine Flucht aus der Realität", sagt die junge Frau heute, ein Rückzug in eine heile Welt, die es in Wirklichkeit nicht gab. Damals ist sie zum ersten Mal verliebt. Dass sie aber im Begriff ist, auf einen sogenannten Loverboy hereinzufallen, ahnt sie nicht. Heute ist ihr klar, dass sie mit einem Zuhälter gechattet hat, der gezielt auf der Suche nach potenziellen Prostituierten war.
„Er war meine Bezugsperson, ich wollte ihn nicht verlieren"
Loverboys sind Teil eines kriminellen Netzwerks. Sie umgarnen junge Frauen und bringen sie so letzten Endes in eine emotionale Abhängigkeit, die die Grundlage dafür ist, dass Mädchen wie Sandra Norak in die Prostitution abdriften. Die Täter pirschen sich in der Anonymität des Internets an ihre Opfer heran.
Auch bei Sandra Norak bleibt die Kommunikation mit dem fremden Freund zuerst in der virtuellen Welt. Irgendwann jedoch folgen auf den Chatkontakt auch reale Treffen. Die beiden gehen aus, sie kommen sich näher, verbringen eine romantische Zeit und sind irgendwann tatsächlich ein Paar. Es ist Sandra Noraks erster Freund.
Den Altersunterschied von 20 Jahren findet sie anfangs zwar irritierend und eigentlich ist ihr neuer Freund noch nicht einmal ihr Typ, doch zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits so abhängig von ihm, dass sie alle Alarmsignale ausblendet. Sie sagt: „Er war schon zu meiner Bezugsperson geworden, sodass ich ihn nicht verlieren wollte."
Als ihr Partner, ein ehemaliger Fremdenlegionär, sie ganz nebenbei mit ins Bordell nimmt, schiebt Norak auch hier den negativen Beigeschmack beiseite. Sie redet sich ein, dass das alles schließlich ganz harmlos sei. „Ich habe mir selbst gesagt: Sei mal nicht so, stell dich nicht so an." Immer wieder hört sie von ihm, dass Prostitution doch ein ganz normaler Beruf sei. Und in der Tat ist Anschaffen anfangs kein Thema zwischen den beiden. Ihr Freund erzählt ihr, dass sie im Bordell nur Freunde besuchen, einen Kaffee trinken.
Er gab vor, finanzielle Probleme zu haben
Doch irgendwann kommt der Moment, in dem die Loverboy-Masche in die nächste Runde geht. Es ist der Augenblick, in dem er sie fragt, ob sie sich vorstellen kann, sich zu prostituieren. Erst bittet er sie, dann drängt er sie. So greift ein weiterer Mechanismus im Konstrukt der Zuhälter. Nachdem die Frauen emotional abhängig gemacht und von Freunden und Familien isoliert sind, wird ihre labile Ausgangslage ausgenutzt.
Oft bringen die Partner die Frauen am Ende dazu, sich zu prostituieren, vordergründig sogar freiwillig. Das funktioniert etwa, indem die Männer vorgeben, in großen finanziellen Schwierigkeiten zu stecken. Auch Sandra Noraks Freund erzählt ihr, er habe hohe Schulden und bittet sie, ihn zu unterstützen. Die junge Frau fühlt sich verantwortlich. Sie kennt zu diesem Zeitpunkt das Milieu bereits und fürchtet, kriminelle Rocker könnten ihrem Partner etwas antun, wenn er seine Schulden nicht begleicht. „Man hat dann auch Angst um den Menschen", erzählt sie. Anfangs zögert sie, aber der Druck wird immer größer. „Wenn du mich liebst, willigst du ein", ist nur einer der Sätze, den sie zu hören bekommt. Letztlich gibt sie nach. Da denkt sie noch, dass es sich dabei um eine Übergangslösung handelt, die nur so lange dauert, bis die Schulden abbezahlt sind. Auch das gehört zum Plan, erklärt Norak.
Heute weiß sie, wie die Abläufe funktionieren. Damals ist sie mittendrin und gerät immer weiter in den Teufelskreis aus Abhängigkeit, Drohungen und Isolation. Ihre Schule bricht sie im letzten Schuljahr ab, weil sich der Tagesablauf im Bordell nicht mit dem einer Schülerin vereinbaren lässt.
Aus einigen Wochen anschaffen werden am Ende sechs Jahre Prostitution, in denen Sandra Norak vom Flatrate-Bordell bis hin zum Escortservice alle Stationen durchmachen muss und unvorstellbare körperliche und seelische Extremsituationen erlebt. Irgendwann sind ihr Körper und ihre Psyche am Ende. Schlimme Panikattacken führen dazu, dass sie immer weniger Geld verdienen kann. Da sie ihrem Zuhälter so nichts mehr nutzt, lässt er nach und nach von ihr ab. Andere Prostituierte helfen ihr schließlich dabei, sich von ihrem Unterdrücker abzunabeln. Um seinen Ruf im Milieu nicht zu beschädigen, muss sie erzählen, dass sie eine Ablösesumme bezahlt hat.
In einem Bordell darf sie ein Zimmer im Keller bewohnen und schafft so durch die räumliche Distanz auch die emotionale Trennung. Sandra Norak gelingt am Ende, was die wenigsten können: Sie schafft den Ausstieg aus der Zwangsprostitution. Doch das ist nur der erste Schritt. Das Ausmaß der psychischen Folgen wird erst später klar. „Die meisten wissen erst mal gar nicht, dass sie was aufzuarbeiten haben", sagt Norak, die nach dem Ausstieg nicht nur ohne Schulabschluss und mit einer großen Lücke im Lebenslauf dasteht.
Ihr Alltag wird auch von unklaren Beschwerden bestimmt, von Atemnot und Angst, die sie sie nicht einordnen kann. Von verschiedenen Ärzten wird ihr jedes Mal körperliche Gesundheit attestiert. An die Seele scheint niemand zu denken. Sie selbst stößt irgendwann im Internet auf Begriffe wie „posttraumatische Belastungsstörung" und „Dissoziation". Mit großer Beharrlichkeit liest sie sich in das Thema ein und lernt, die seelischen Schutzmechanismen zu verstehen, die dafür sorgen, dass die menschliche Psyche in extremen Gewaltsituationen bei Todesangst irgendwann auf Autopilot schaltet, um die Situation überhaupt zu ertragen. Was im entscheidenden Moment verdrängt wird, sucht sich irgendwann doch ein Ventil.
Hinter Sandra Norak liegt eine anstrengende Zeit der Aufarbeitung, die noch immer andauert. Trotzdem – oder gerade deshalb – hat sie sich dazu entschieden, nicht länger zu schweigen. Sie will eine Stimme sein für die Prostituierten, die sich nicht trauen, zu reden.
Sandra Norak heißt eigentlich anders. Ihr Abitur hat sie nachgeholt. Heute studiert sie Jura. Sie hält Vorträge, reist quer durchs Land, klärt Schüler über das Thema auf. Sie fordert zudem besonders von staatlicher Seite eine ausreichende Betreuung für Aussteigerinnen, für die der Eintritt in ein normales Leben nach der Prostitution oft unmöglich ist: „Es ist nicht einfach wie ein Jobwechsel von der einen Supermarktkasse zur anderen." Das weiß sie aus eigener Erfahrung.
Vor allem aber macht sie sich stark für die komplette Abschaffung der Prostitution. „Ich habe nie eine Prostituierte kennengelernt, für die diese Zimmergänge mit den Freiern erträglich waren", betont sie und wehrt sich damit gegen das Bild der Prostitution als normalem Beruf, das von gewissen Verbänden propagiert wird. In Einzelfällen mag das vielleicht zutreffen, sagt die junge Frau, das ändere aber nichts an den kriminellen und menschenverachtenden Strukturen, die unter dem Deckmantel der Legalität im Rotlichtmilieu überwiegen. „Es ist ein Tabuthema, aber es findet jeden Tag statt. Und es kann jeden treffen."