In Florida sieht man die gutmütigen Seekühe fast überall: auf Nummernschildern, als Kuscheltiere und in Tourismus-Broschüren. Im Wasser aber sinken die Bestände drastisch. Umweltschützer versuchen alles, um ihnen zu helfen.

Wayne Hartley hat sein Kanu noch nicht ganz betreten, da bildet sich schon eine kleine Menschentraube um ihn herum: „Sind Sie Wayne?“ – „Wie geht’s den Manatis?“ – „Können wir mitfahren?“ Hartley wischt die Anfragen mit einem Lächeln beiseite. „Das ist ein Schutzgebiet“, erklärt der 79-Jährige, der einen grauen Bart, ein blaues Hemd und eine olivfarbene Schirmmütze trägt. „Zutritt nur für Forschungszwecke.“ Dann schnappt er sich ein Paddel, schreitet den Holzsteg entlang und schwingt sich mit beachtlicher Agilität ins Boot.
Für einen Novembermorgen ist es im Blue Spring State Park in Florida ungewöhnlich warm. Die feuchte Luft steht, es sind 30 Grad im Schatten. Insekten zirpen, ringsherum scheint die Sonne durch die Sumpfwälder auf das glasklare Quellwasser. Doch es ist nicht bloß die subtropische Landschaft, die Umweltaktivisten und Besucherinnen gleichermaßen in den Park zieht. Die Hauptattraktion ist grau, wiegt bis zu 500 Kilo und lebt unter Wasser: Rundschwanz-Seekühe, auch Manatis genannt.
„Wir reden hier über wundervolle, gutmütige Tiere“, sagt Hartley, der sich seit mehr als 40 Jahren mit den Meeressäugern beschäftigt – erst als Park-Ranger und seit seiner Pensionierung schließlich als Mitglied des „Save the Manatee Club“. Für Außenstehende mögen die behäbigen Seekühe alle gleich aussehen, doch Hartley kennt jede von ihnen mit Namen. In einem Notizbuch hat er die Merkmale zusammengetragen, anhand derer sich die einzelnen Individuen auseinanderhalten lassen. In einem dicht besiedelten Bundesstaat wie Florida dienen vor allem Wunden durch Schiffschrauben als Unterscheidungsmerkmal. „Fast alle Manatis haben an mindestens einer Stelle Narben. Aber immerhin fahren die Leute heute vorsichtiger als früher“, berichtet der Umweltschützer. Mehrmals pro Woche bugsiert er sein Kanu ins Wasser, um Manatis zu suchen, Touristen aufzuklären und den einen oder anderen Plastikbecher einzusammeln, der im Quellwasser treibt.
Nur noch 7.500 Tiere in Florida
In den 1970er-Jahren trieben unvorsichtige Bootsfahrer die Seekühe in den USA an den Rand des Aussterbens. Strengere Gesetze wie Langsam-Fahrzonen für Boote oder eine generelle „Vorfahrt für Manatis“ führten im Laufe der Jahre aber dazu, dass sich die Bestände wieder erholten. Seit 2017 gelten die Tiere offiziell nicht mehr als „gefährdet“, sondern nur noch als „bedroht“. Der Freizeitpark „Sea World“ betreibt sogar eine eigene Manati-Klinik.
Im Jahr 2021 änderte sich die positive Entwicklung allerdings, und zwar schlagartig. Innerhalb eines Jahres starben mehr als 1.100 Tiere – deutlich mehr als in den Jahren zuvor, wie aus der offiziellen Statistik der „Florida Fish and Wildlife Conservation Commission“ hervorgeht. Die Umweltbehörde spricht von einem ungewöhnlichen Sterblichkeits-Ereignis („unusual mortality event“). Lediglich 7.500 Tiere leben Schätzungen zufolge noch in freier Wildbahn in Florida.
Autopsien legen nahe, dass die Meeressäuger vor allem an Unterernährung starben. 2021 verendete das Seegras, das sie normalerweise fressen, großflächig, weil es in Florida zu einer massiven Algenblüte kam. Diese wiederum ließ sich auf Wasserverschmutzung zurückführen: Jedes Jahr landen Tonnen von Düngemitteln, Chemikalien und Fäkalien aus undichten Klärgruben in der Indian River Lagoon. Die 250 Kilometer lange Flussmündung in Florida bildet den bevorzugten Lebensraum der Manatis.
Eine weitere Todesursache: zu kaltes Wasser. „Sinkt die Temperatur auf unter 15 Grad, wird es für Manatis lebensbedrohlich“, sagt Umweltschützer Wayne Hartley. In Kombination mit dem Futtermangel sei der harte Winter von 2020/21 ausschlaggebend für das Massensterben gewesen. „Ich musste so viele tote Tiere identifizieren“, berichtet Hartley, während er durch das klare Wasser paddelt. „Mit meinem Notizbuch und der Fotokamera wirke ich nach außen professionell. Aber wenn ich nach Hause komme, weine ich.“

Staat trägt wenig zum Schutz bei
Der 79-jährige Manati-Experte ist nicht der Einzige, dem das Schicksal der Tiere nahegeht. Als das Massensterben bekannt wurde, demonstrierten Bürgerinnen und Bürger für schärfere Umweltgesetze. In Florida gehören die Seekühe für viele zum Lebensgefühl – und zur Tourismus-Wirtschaft. Unzählige Anbieter bieten Boots- und Schnorchel-Touren an; in Souvenirshops stapeln sich T-Shirts, Trinkflaschen und Schnorchel mit Manati-Aufdruck. Sogar ein offizielles Manati-Nummernschild gibt es, die jährlichen Verkaufseinnahmen – zuletzt 1,1 Millionen Dollar – fließen in die Forschung.
Doch alles, was über symbolische Gesten hinausgeht, hat es im republikanisch regierten Florida schwer: Schärfere Umweltgesetze stehen eher nicht auf der Agenda von Gouverneur Ron de Santis. Bei den Zwischenwahlen im November 2022 (bei denen er im Amt bestätigt wurde) warb er mit dem Slogan „Keep Florida Free“. Als mehrere Gemeinden in seinem Bundesstaat oxybenzonhaltige Sonnencremes verbieten wollten, um Korallenriffe besser zu schützen, schritt er persönlich ein und verhinderte ein entsprechendes Gesetz. Der Schutz der Menschen gehe vor, lautete die Begründung – dabei gibt es längst umweltfreundlichere Alternativen.
Da auf politischer Ebene kaum Unterstützung zu erwarten ist, müssen sich die Umweltverbände in Florida mit Symptombekämpfung begnügen. Also pflanzen sie Seegras in mühevoller Handarbeit neu an oder drängen Bootsführer dazu, entspiegelte Sonnenbrillen zu tragen, um die behäbigen Manatis im Wasser besser zu sehen. Die bislang kühnste Rettungsaktion stammt dann aber doch von einer staatlichen Behörde: Im Dezember 2021 verkündete die Fish and Wildlife Conservation Commission, man werde die Tiere erstmalig füttern – eigentlich ein No-Go, das sogar gesetzlich verboten ist. Schließlich sollen die Tiere sich nicht an Menschen gewöhnen und von ihnen abhängig werden. Doch dieses Mal war alles anders. Letztlich kippten die staatlichen Meeresschützer fast 92.000 Kilo Salat in die Lagune. Anfangs zögerten die Tiere noch, dann schlugen sie sich die Bäuche voll.
Aber haben diese „nie dagewesenen Taten“ auch etwas gebracht? Auf Nachfrage bei der Fish and Wildlife Conservation Commission antwortet eine Sprecherin, es handle sich um ein „immer noch stattfindendes Ereignis“. Die aktuelle Sterblichkeitsstatistik der Manatis reicht vom 1. Januar 2022 bis zum 18. November 2022. In diesem Zeitraum sind 745 Seekühe gestorben – weniger als im Jahr zuvor, aber immer noch eine beträchtliche Menge. Ob es ohne die zusätzliche Fütterung noch schlimmer gekommen wäre? „Das ist Gegenstand laufender Untersuchungen“, heißt es vonseiten der Behörde.
Die schnelle Lösung, nach der sich viele Menschen in Florida sehnen, wird es vermutlich nicht geben. So sieht es Quinton White, Direktor des Marine Research Institute an der Universität von Jacksonville. Seit 35 Jahren forscht der Meeresbiologe zu Manatis und hat an mehreren Zählungen mitgewirkt. „Hier liebt jeder diese Tiere“, sagt er. „Sie sind hässlich und doch hübsch, superlieb und sehr charismatisch.“ Ihren Fortbestand zu sichern sei trotzdem nicht einfach. „Wir haben es hier mit einem sehr komplexen Problem zu tun. Es wird Jahre dauern, bis sich die Bestände erholen.“ Neben zu kaltem Wasser und fehlendem Futter bereite Meeresplastik den Manatis große Probleme: „Sie fressen das jeden Tag, und wir können noch gar nicht absehen, wie sich das langfristig auswirkt“, erklärt White. „Da gibt es keine Lösung von heute auf morgen.“
Er ist aber schon der Ansicht, dass sich die Situation durch die Fütterungsaktion verbessert hat. Zumindest ein wenig. „Die Behörden haben da einen guten Job gemacht. Sie haben sogar das Futter hinter einer Plane hervorgeworfen, damit die Manatis die Menschen nicht sehen.“ Auf diese Weise wollten die Tierschützer verhindern, dass die Seekühe zu sehr auf Menschen geprägt werden – und es in Zukunft zu noch mehr Bootsunfällen kommt. Denn während in den Wintermonaten die meisten Manatis an Unterernährung starben, waren Bootsunfälle von Juli bis September 2022 wieder die häufigste Todesursache. Das geht aus der Obduktionsstatistik der Fish and Wildlife Convervation Commission hervor.
„Je mehr Menschen, desto weniger Manatis“
Die Tiere dieses Jahr noch einmal zu füttern, ist nicht vorgesehen. White geht davon aus, dass das vorhandene Seegras in diesem Winter ausreicht. Schon vor 35 Jahren waren die Manatis einmal fast ausgestorben. Dank zahlreicher Umweltinitiativen, besserer Bildung und größerer Schutzzonen habe sich die Population aber unerwartet gut entwickelt. „Warum sollte uns diese Wende nicht noch einmal gelingen?“

Auch Umweltschützer Wayne Hartley hofft, dass sich die Seekühe noch einmal als widerstandsfähig erweisen werden. „Je mehr Menschen, desto weniger Manatis“, lautet seine Rechnung. Auch im Blue-Spring-Schutzgebiet dürfen Besucherinnen und Besucher schwimmen, tauchen, angeln und paddeln – es gibt nur einige gesperrte Bereiche, die für Manatis und Forschende wie Wayne Hartley reserviert sind. Trotzdem biete das warme Wasser der Quellen vielen Seekühen noch immer einen sicheren Zufluchtsort: „Wir haben hier über 800 Manatis“, sagt Wayne. Leider seien die putzigen Tierchen nicht die Klügsten: „In der Lagune sind manche wenige Meter neben einem Kraftwerk erfroren, das das Wasser aufgeheizt hat. Sie wussten einfach nicht, wo der warme Bereich ist.“
Je länger der 79-Jährige durch den feuchtwarmen State Park paddelt, desto mehr wird er selbst zur Attraktion. Vom Ufer aus machen Touristen Fotos, bauen Stative auf, um die kolossalen Meeressäuger bestmöglich einzufangen. Doch Manatis zeigen sich nicht – und das ist ein gutes Zeichen. „Es ist an der Ostküste noch nicht so kalt, dass sie hierher schwimmen müssten“, sagt Hartley.
Insgeheim kann er es aber kaum erwarten, „seine“ Manatis wiederzusehen. „Am meisten vermisse ich Cleburne“, sagt er, während er in seinem Notizbuch blättert. „Er ist sehr klein, zeigt sich meist nur eine Woche, kommt aber immer wieder.“ Genau wie Wayne Hartley selbst. Wie lange er diesen Job noch machen will? „Ich weiß nicht“, sagt der Rentner. „Es gibt einfach noch so viel zu tun.“