Die Stadt Bielefeld startete 2021 das Projekt „Autofrei in Bielefeld“. Wer für drei Jahre auf ein Auto verzichtete, bekam bis zu 1.000 Euro für ein ÖPNV-Abo oder alternatives Fortbewegungsmittel. Nach Projektende zeigt sich: Erstaunlich viele bleiben beim Leben ohne Auto.
Leonidas findet’s gut. Der selbstbewusste Achtjährige sitzt vor dem Haus seiner Eltern auf seinem Kinderrad und wartet dick eingepackt an einem trüben Novembermorgen auf Papa. Der schnallt gerade Leos dreijährigen Bruder Jonaël auf dem Kindersitz fest. Gleich geht es zum Schwimmkurs in die Stadt. Während sich die Menschen in Deutschland immer mehr und immer größere Autos anschaffen, hat die fünfköpfige Familie Rüßler ihres verkauft.
Die Deutschen lieben ihre Autos. 2022 legten die Bundesbürgerinnen und -bürger 81 Prozent ihrer Wege nach Angaben von Statista mit dem Auto zurück. Auf Platz zwei kam der „Schienenpersonenverkehr“ mit neun Prozent. Entsprechend steigt die Zahl der in Deutschland zugelassenen Autos immer weiter. Anfang 2023 waren es 48,8 Millionen, 16,8 Prozent mehr als 2010 und rund zehn Mal so viele wie vor 60 Jahren. Die Zahl der Pkw pro Einwohnerinnen und Einwohnern ist seit 2010 um 12,2 Prozent gestiegen. Gefragt sind vor allem große schwere Autos, die sogenannten SUV, und Vans. Ihre Zahl stieg in den vergangenen zehn Jahren nach Angaben des Umweltbundesamts um 80 Prozent.
Autofreies Leben entschleunigt
Martin Rüßler und seine Frau Esther haben beim Projekt „Autofrei in Bielefeld“ mitgemacht. Der Deal: Wer sein Auto für mindestens drei Monate abmeldet, dem erstattet die Stadt bis zu 400 Euro für Zugtickets, Carsharing-Abos und andere autofreie Mobilitätsausgaben. „Wir haben mit dem Geld Fahrradreparaturen und Zugfahrkarten bezahlt“, erzählt Esther Rüßler. Sie hat die Quittungen eingereicht und das Geld direkt ausgezahlt bekommen.
Gleichzeitig verbringen Autofahrende nach einem Bericht der Zeitschrift „National Geographic“ durchschnittlich 41 Stunden pro Jahr mit der Suche nach einem Parkplatz. Städte und Gemeinden versuchen meist wenig erfolgreich, Autos zumindest aus den Zentren zu verdrängen. Wien zum Beispiel hat an immer mehr Straßen Parkgebühren eingeführt und erhöht. Aus den Einnahmen finanziert Österreichs Hauptstadt das 365-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr. Ein Parkplatz am Straßenrand beansprucht etwa 12,5 Quadratmeter Fläche, so viel wie ein durchschnittliches Kinderzimmer.
Ihr Auto vermissen die Rüßlers nicht. Angeschafft hatten sie es, als Martin Rüßler bei einem IT-Dienstleister im knapp 40 Kilometer entfernten Herzebrock-Clarholz gearbeitet hat. „Ohne Auto kommt man da kaum hin.“ Inzwischen hat er eine Stelle in Melle. Dorthin nimmt Martin Rüßler den Zug. Das Fahrrad nimmt er in der Bahn mit, um damit das letzte Stück zur Firma zu fahren. Unterwegs liest der 38-Jährige „lieber ein Buch, als auf Verkehrsschilder zu achten“.
Das Auto war den Rüßlers eher eine Last: Parkplatzsuche, Papierkram, Versicherung, Werkstatt-Termine – zeitaufwendig und teuer. Obwohl sie auf einem steilen Berg wohnen, fahren sie jetzt meist mit dem Rad. Von der Haltestelle am Fuß des Hügels fährt tagsüber alle halbe Stunde ein Bus in die Stadt. Und wenn sie doch mal ein Auto brauchen, nutzt die Familie die beiden Bielefelder Carsharing-Anbieter.
Sohn Leonidas fährt mit dem Rad zur Schule. „Auf unserem Weg gibt es immer so schöne Pfützen“, freut er sich. Da saust er gerne durch und rollt dann die zwei Kilometer den Berg hinunter zur Schule. Zurück sei es dann schon anstrengender, aber er habe sich „daran gewöhnt“. Dann schwärmt er vom letzten Urlaub. Mit der Bahn nach Sylt mit Zwischenstopp in einem norddeutschen Ferienhaus. Viel entspannter sei die Reise gewesen.
Papa Martin staunt, wie selbstständig sein Sohn geworden ist, seit ihn die Eltern nicht mehr mit dem Auto überall hinbringen können. „Die Orientierung und die körperliche Entwicklung machen enorme Fortschritte.“ Gleichzeitig beschleicht den Vater immer wieder ein mulmiges Gefühl, wenn der Junge allein mit dem Rad unterwegs ist. Auf dem Weg zur Schule muss er eine dicht befahrene Bundesstraße überqueren und auf der Straße zu ihrem Wohngebiet hielten sich längst nicht alle an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Die müsse gesenkt und vor allem auch durchgesetzt werden.
„Teurer ist das Leben ohne Auto nicht“, rechnet Martin Rüßler vor. Viele versteckte Pkw-Kosten mache man sich ja nicht bewusst. Mit der Benzinrechnung ist längst nicht alles bezahlt: Steuer, Versicherung, Reparaturen und mehr. Der gelernte Programmierer schätzt, dass seine Familie ohne eigenes Auto billiger lebt, trotz teurer Zugtickets und der gelegentlichen Miete für Carsharing-Wagen. Ein Problem ist allerdings: Carsharing kostet auch Geld, wenn das Auto steht. Deshalb wünscht sich Esther Rüßler auch in Bielefeld Freefloating-Angebote: Buchen, fahren, zahlen und sich ausloggen, sobald man das Auto abstellt. So funktionieren schon die Elektroroller oder Mieträder zahlreicher Anbieter. Außerdem vermisst sie ein dichteres Bahn- und Busnetz, zuverlässiger und mit engerer Taktung. Es müsse den Menschen leichter gemacht werden, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, ergänzt ihr Mann Martin.
„Wir sind alle Gewohnheitstiere“
Hier sieht auch Anna Christina Nowak das größte Problem. Die Wissenschaftlerin hat an der Uni Bielefeld das Projekt „Autofrei in Bielefeld“ evaluiert. Insgesamt habe es „gut funktioniert“. Viele Teilnehmende hätten berichtet, dass sie ihr Leben ohne Auto als „Entschleunigung“ wahrnähmen. Wer für Wege mehr Zeit einplanen muss, kann sich den Terminkalender nicht mehr so voll packen.
Kritik hat Nowak an der Auswahl der Teilnehmenden. Die Stadt hat nur wenig für das Projekt geworben. So hat das Angebot fast nur gut ausgebildete, umweltbewusste Menschen erreicht und kaum Leute mit geringer Bildung in benachteiligten Stadtteilen. „Das stimmt“, räumt Regine Thamm-Wind ein. Die Mitarbeiterin des städtischen Umweltamts hat das Projekt koordiniert. Für mehr Werbung fehlte ihr vor allem das Personal. Die Idee, solche Angebote zusätzlich in Stadtteilzentren, über „soziale Medien“ und zum Beispiel über Vereine und Migranten-Organisationen zu bewerben, will sie gerne aufgreifen. Auch sprachlich will sie in Zukunft nachlegen. Die Info-Flyer gab es nur auf Deutsch und sie seien „sehr textlastig“ gewesen.
Insgesamt ist sie – wie Familie Rüßler – mit den Erfahrungen zufrieden. Viele der 100 Teilnehmenden hätten ihr Auto dauerhaft abgeschafft. „Autofrei in Bielefeld“ habe ihnen die Möglichkeit gegeben, andere Wege der Mobilität auszuprobieren und sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. So konnten sich die Projektteilnehmenden gegenseitig beraten und stärken. „Wir sind doch alle Gewohnheitstiere“, sagt sie lachend, und um Gewohnheiten zu verändern, brauche es „ein bisschen Anschub und Unterstützung“.