Ausrichtung und Einsätze der Bundeswehr haben sich seit der Wende deutlich verändert. Paradigmenwechsel prägen die Entwicklung. Über die Situation in den 90er-Jahren sollte man sich heute aber keine Illusionen machen, warnen zwei Militärhistoriker der Bundeswehr.
Die Bundeswehr gibt derzeit kein gutes Bild ab. Tausende wichtiger Stellen sind nicht besetzt, viele Panzer und Schiffe nicht einsatzbereit. Am 16. April musste ein Flieger der Luftwaffe in Berlin-Schönefeld notlanden, die Besatzung habe es geschafft, ihn „unter schwierigsten Bedingungen zu Boden zu bringen und damit Schlimmeres verhindert", lobte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) die Soldaten.
Die Bundeswehr sei im „schlechtesten Zustand seit 1990", sagte der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, Anfang des Jahres. Der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe sagte im Interview, sein Nachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg habe die Bundeswehr „zerstört". Dessen Hauptfehler sei gewesen, die Wehrpflicht überhastet abgeschafft zu haben, ohne ein Konzept, wie man auf dem freien Arbeitsmarkt genügend gutes Personal bekommen könne.
Das klingt, als ob die Bundeswehr früher top in Schuss gewesen und seither kaputtgespart worden wäre. Was daran stimmt ist, dass bis 1990 Deutschland anteilmäßig sehr viel mehr für seine Verteidigungsbereitschaft ausgegeben hat als heute. Waren es in den 70er- und 80er-Jahren sehr stabil etwa 20 Prozent des Bundeshaushaltes, sank dieser Anteil um die Wendezeit drastisch auf etwa zehn Prozent des Bundeshaushaltes. Auf diesem Niveau sind die Ausgaben auch in etwa geblieben, erst seit ein paar Jahren steigt der Betrag an. In Euro gerechnet lagen die Verteidigungsausgaben 2014 noch bei 32,4 Milliarden Euro. 2019 werden es laut Plan 43,2 Milliarden Euro sein.
Umwandlung in „Neue Bundeswehr" dauert an
Für die Bundeswehr waren die 90er-Jahre daher zu allererst die Zeit eines harten Sparkurses. „Im Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990 hatte sich Deutschland verpflichtet, seine Bundeswehr drastisch zu reduzieren: von insgesamt 600.000 Soldaten von Bundeswehr und NVA zusammen auf 370.000", sagt Oberstleutnant Rudolf Josef Schlaffer vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in Potsdam. Neben der radikalen Schrumpfung war die Integration von Teilen der aufgelösten NVA der DDR die zweite große Herausforderung. Die Bundeswehr war damals in einer tiefen Transformation.

Gleichzeitig gab es vollkommen neue Aufgaben. „Die weltpolitische Situation hatte sich nach dem Ende des Kalten Kriegs vollkommen gewandelt. Über Jahrzehnte hatte die Bundeswehr allein die Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung im Verteidigungsfall", sagt Schlaffer. Das fiel praktisch über Nacht weg, aber die Bundeswehr ließ sich eben nicht über Nacht auf neue Aufgaben umstellen. Zunächst war nicht einmal klar, worin die neuen Aufgaben bestehen würden. Dieser Prozess der Umwandlung in eine „neue Bundeswehr" und ihre Vorbereitung auf neue Aufgaben dauerte im Grunde die ganzen 90er-Jahre. In bestimmter Hinsicht ist er sogar bis heute nicht abgeschlossen.
Die Bevölkerung in beiden Teilen des wiedervereinigten Deutschlands erwartete 1990 nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs vor allem eine Friedensdividende. Die hohen Ausgaben für Verteidigung waren nicht mehr vermittelbar.
Doch schon 1991 kam mit dem zweiten Golfkrieg die Frage, welche Rolle die Bundeswehr nun spielen könne und solle. Zunächst war ein Einsatz außerhalb der deutschen Grenzen ein Tabu: Das Grundgesetz verbietet einen Angriffskrieg. Aber ist jeder Krieg außerhalb der deutschen Grenzen aus deutscher Sicht ein Angriffskrieg? „Eine Beteiligung der Bundeswehr am Irakkrieg war hoch umstritten, der Riss ging durch alle damaligen Fraktionen im Bundestag, auch durch die der Union und der FDP", sagt Hans-Peter Kriemann, Oberstleutnant und Historiker am ZMSBw.
Erst mit den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien ab 1991 änderte sich die Stimmung in der deutschen Bevölkerung langsam. Die Intensität der Beteiligung der Bundeswehr nahm während der 90er-Jahre bis zum Afghanistan-Einsatz ab 2001 Schritt für Schritt zu. Historiker Kriemann hat sich in einem in wenigen Tagen erscheinenden Buch über den Kosovo-Krieg gründlich mit der Situation der Bundeswehr in den 90er-Jahren befasst.
Die Bundeswehr war zunächst auf Einsätze „out of area", also außerhalb des Nato-Gebiets, überhaupt nicht eingestellt. So gab es beispielsweise keine deutschen Blauhelme in Jugoslawien: An den Truppen der United Nations Protection Force (Unprofor) beteiligte sich die Bundeswehr nicht. Es galt damals noch die „Kohl-Kinkel-Doktrin", benannt nach Kanzler und Außenminister, wonach die Bundeswehr nirgends hingeht, wo die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ihre blutige Spur hinterlassen hatte.
Erst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 12. Juli 1994 änderte das grundlegend. Es erlaubte den aktiven Einsatz der Bundeswehr außerhalb Deutschlands. Vor allem Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) hatte vehement darauf gedrungen. Es folgte zunächst eine kaum sichtbare Beteiligung beim Nato-Einsatz zur Friedensimplementierung (IFOR) und schon sichtbarer im späteren SFOR-Einsatz in Bosnien-Herzegowina. Dabei kam es zwar nicht zu offenen Kampfhandlungen, der bosnische Friedensvertrag von Dayton im Jahr 1995 hielt glücklicherweise. Dennoch musste die Bundeswehr auch in diesem Friedenseinsatz zunächst noch sehr viel improvisieren und auf die Hilfe der Verbündeten, vor allem Frankeichs, zurückgreifen.
Vieles wirkt sich erst nach Jahrzehnten aus
Im Kosovo-Krieg 1999 galt dann die „Schröder-Fischer-Doktrin". Sie lautete in etwa: Wo Völkermord droht, muss die Bundeswehr eingreifen. Schlüssel-ereignisse waren die Kriegsverbrechen der Belagerung des bosnischen Sarajevo 1992 bis 1995 und das Massaker im bosnischen Srebrenica 1995. Erst danach war die deutsche Öffentlichkeit bereit für einen Einsatz der Bundeswehr, wie Winfried Nachtwei bestätigt. Nachtwei war in den 90er-Jahren Bundestagsabgeordneter der Grünen, Mitglied des Verteidigungsausschusses und als Fraktionskollege des späteren Außenministers Joschka Fischer damals einer der Befürworter von Bundeswehreinsätzen zum Schutz der Zivilbevölkerung.

Für den Einsatz im Kosovo 1999 waren die Bundeswehrtruppen erstmals gründlich für einen „richtigen" Kriegseinsatz vorbereitet worden. Schlaffer, der als Soldat damals im Kosovo dabei war, sagt: „Für das Kosovo waren wir extrem gut vorbereitet gewesen – für alle möglichen Szenarien, auch die schlimmsten. Das Kosovo war für die Bundeswehr wirklich der Paradigmenwechsel. Davor war sie nicht wirklich ‚out of area‘ einsatzbereit. Mit dem Kosovo änderte sich das grundlegend."
Der Kosovo-Einsatz stehe heute zu Unrecht im Schatten des zwei Jahre später folgenden Afghanistan-Einsatzes, meint Schlaffer. Dieser dominiert heute zwar in der öffentlichen Wahrnehmung, weil hier die Bundeswehr zum ersten Mal in schwere Gefechte verwickelt wurde und erstmals Zinksärge zurückkamen. Dabei schien der dortige Einsatz zunächst ein kleiner Einsatz und ein „harmloser" zu werden. Tatsächlich drehte sich die Situation dort aber etwa 2003 plötzlich und wurde erst dann richtig gefährlich.
„Ich bin sehr vorsichtig, die Lage der Bundeswehr einzelnen Politikern zuzuschreiben", sagt Schlaffer. Die Zyklen von Strategie und darauf aufbauender Ausrüstung seien sehr, sehr langfristig. „Vieles wirkt sich erst Jahrzehnte später aus." Bestes Beispiel ist der Schützenpanzer Marder. Dessen Entwicklung begann im tiefsten Kalten Krieg Ende der 50er-Jahre, ausgeliefert wurden die Serienmodelle erstmals 1971. Er wurde dann 1999 mit ein paar Exemplaren erstmals im Kosovo eingesetzt. 2006 wurden zudem einige nach Afghanistan verlegt. 2009 wurde der „Marder" erstmals im Gefechte eingesetzt, 2011 brannte einer vollkommen aus. Erst seit 2015 wird er langsam durch seinen Nachfolger, den „Puma", ersetzt, wobei dieser noch nicht richtig einsetzbar ist. Jetzt wird der „Marder" bald 50 und fährt noch immer. „Natürlich ohne Klimaanlage", sagt Schaffer. „Im Kalten Krieg für den Einsatz in Mitteleuropa brauchte man die ja nicht unbedingt."