Seit mehr als vier Wochen streiken in Berlin Pflegekräfte von Vivantes und der Charité für bessere Arbeitsbedingungen. Die Ursachen für die schwierige Situation sind vielschichtig.
Bei ihr sei die letzte brenzlige Situation noch gar nicht lange her. Sie hatte Nachtdienst von Samstag auf Sonntag und sei mit einer Kollegin auf der Station gewesen. Alle vier Kreißsäle seien mit Frauen in den Wehen belegt gewesen. „Vor der Tür warteten drei Frauen, die wir noch nicht kannten, zwei mit Wehen und eine mit einer Blutung." So beschreibt die Hebamme Coline Sénac eine Situation aus ihrem Arbeitsalltag beim Berliner Klinikkonzern Vivantes gegenüber „Zeit Online".
Während ihrer Schicht habe am Ende eine Hochschwangere in einem Durchgangszimmer ihr Kind gekriegt, ganz ohne Herztonüberwachung des Kindes. Das sei ein „ein Albtraum" für die erfahrene Geburtshelferin, die immerhin seit sechs Jahren im Beruf steht. Auch wenn am Ende alles gut ausgegangen ist. Die 32-Jährige ist eine der vielen Pflegekräfte, die seit mehr als vier Wochen in der Hauptstadt für bessere Arbeitsbedingungen bei Vivantes und der Charité streiken. Obwohl sie eigentlich streikt, übernimmt Coline Sénac nach eigenen Angaben immer noch Dienste im Kreißsaal, auch nachts sowie am Wochenende.
In der vergangenen Woche haben sich die Gewerkschaft Verdi und die Charité auf ein Eckpunktepapier geeinigt. Es gilt als Grundlage für eine Einigung in der Tarifauseinandersetzung. Die Gewerkschaft möchte einen Entlastungstarifvertrag mit besseren Arbeitsbedingungen erreichen. Dabei geht es etwa um einen Überstundenausgleich, die Verbesserung der Ausbildungsqualität und eine Mindestpersonalbesetzung auf den Stationen. Mit dem Klinikkonzern Vivantes hingegen war vergangene Woche noch keine Vereinbarung zu erreichen.
Haben wir zu viele Krankenhäuser?
Damit verständlich wird, was dem Streik eigentlich zugrunde liegt, muss man sich die gesamte Kliniklandschaft vornehmen. So haben bereits vor der Corona-Krise Verdi, der Deutsche Pflegerat und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) gemeinsam ein Bemessungsinstrument entwickelt, das den Einsatz des Pflegepersonals regeln soll. Diese aktualisierte Pflegepersonalregelung, kurz auch PPR 2.0 genannt, liegt seit Anfang 2020 dem Bundesgesundheitsministerium vor. Passiert ist seitens der Politik nichts.
Deshalb appelliert zum Beispiel Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der DKG, an die kommende Bundesregierung, die PPR 2.0 endlich einzuführen. „Wir brauchen ein klares Zeichen an die Pflegenden, dass ihre Arbeitsbelastung wahr- und ernst genommen wird und die Politik konkret und kurzfristig Schritte ergreift, um dem Personalmangel entgegenzuwirken." Aber es geht noch um mehr, so Gaß, wie etwa „das Zusammenspiel aus Zentralisierung komplexer Behandlungen und wohnortnaher Gesundheitsversorgung". Auch die dringend notwendige Reform der ambulanten Notfallversorgung müsse über Sektorengrenzen hinweg gedacht und umgesetzt werden, so der DKG-Chef.
Obwohl sich das Gesundheitssystem während der Corona-Krise nach dem Dafürhalten vieler bewährt hat, steht die gesamte Krankenhauslandschaft auf eher wackeligen Beinen. Vor gut zwei Jahren kam eine Bertelsmann-Studie zu dem Ergebnis, dass die Patientenversorgung sich verbessern würde, wenn 800 von deutschlandweit 1.400 allgemeinen Krankenhäusern geschlossen würden. Selbst im Corona-Jahr 2000 wurden 20 Kliniken ganz oder teilweise im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen geschlossen. Zudem ist die Anzahl verfügbarer Krankenhausbetten seit dem Jahr 2000 um über zehn Prozent auf bundesweit rund 494.300 Betten zurückgegangen. Momentan sei jedes achte Krankenhaus in Deutschland akut insolvenzgefährdet, heißt es im „Krankenhaus Rating Report 2021" des Essener Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI). „Die wirtschaftliche Lage deutscher Krankenhäuser hat sich im Jahr 2019 weiter verschlechtert."
Die Krux liegt im Finanzierungssystem. Kleinere Kliniken sind wichtig für die Daseinsvorsorge, für Menschen jenseits der deutschen Großstädte und vor allem auf dem sind sie oft leichter erreichbar. Allerdings haben sie kaum eine Chance, kostendeckend zu arbeiten. Denn jedes Klinikum hat bestimmte Vorhaltekosten für seine medizinisch-technische Ausstattung, wie zum Beispiel Röntgen und CT-Geräte und Labore. Die Finanzierung erfolgt zur Hälfte über die Krankenkassen (Fallpauschalen) und aus den Budgets der Bundesländer. Weil kleine Kliniken weniger Patienten haben, kommen sie schneller in die finanzielle Bredouille. Und weil auch in den öffentlichen Kassen das Geld knapp wird, geraten die Häuser schnell in eine wirtschaftliche Schieflage. Das hat natürlich weitreichende Folgen für die Menschen und ihre Gesundheitsversorgung. DKG-Chef Gaß spricht vom einem „kalten Strukturwandel", der vorhandenes Potential vernichte. Es ginge nicht darum, „jedes Krankenhaus, jeden Standort und jedes Bett" zu erhalten, sondern vielmehr um aktive Steuerung und Planung. „Wir benötigen das Zusammenspiel aus Zentralisierung komplexer Behandlungen und wohnortnaher Gesundheitsversorgung", so Gaß. Auch das sei eine dringende Aufgabe der nächsten Bundesregierung.
Mehr als 30 Prozent wollen hinschmeißen
Kein Wunder, dass in dieser unsicheren Situation mehr als 30 Prozent der nichtärztlichen Mitarbeiter auf den Intensivstationen, in den Notaufnahmen und im Rettungsdienst ihren Beruf in den nächsten zwölf Monaten verlassen möchten. Das geht zumindest aus einer Online-Befragung der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) zum „Belastungserleben der Mitarbeitenden während der dritten Welle der Corona-Pandemie" hervor. Fast die Hälfte der befragten nicht-ärztlichen Mitarbeiter möchte ihren Stellenanteil reduzieren. Gründe dafür seien, so die Studie, dass sich 72 Prozent des Pflegepersonals in der dritten Welle überlastet fühlten. In Hinblick auf die Zukunft glauben 97 Prozent der Pfleger, dass der Pflegepersonal- und Ärztemangel nach Corona noch ausgeprägter sein wird. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung fehlen jetzt schon in deutschen Kliniken mindestens 100.000 Pflegekräfte. „Personal ist unsere wichtigste Ressource", sagt denn auch Gaß. Während der Corona-Pandemie sei allen vor Augen geführt worden, dass ein Bett alleine keine Patienten versorgt. „Wir als Träger der Krankenhäuser müssen unseren Anteil beitragen, attraktive Arbeitsbedingungen schaffen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleisten und verlässliche gute Arbeitgeber sein, die natürlich auch gut bezahlen."
Den Blick auf notwendige Veränderungsprozesse der Kliniken richtet auch der Zukunftsforscher Daniel Dettling gemeinsam mit dem Universitätsprofessoren, Chirurgen und Geschäftsführer des Unfallkrankenhauses Berlin, Axel Ekkernkamp. In der „Welt" plädieren sie für multiprofessionelle Teams, regionale und überregionale Netzwerke und mehr Digitalisierung. Mit Letzterem, so die Autoren, könnten „Leben und Gesundheit der Menschen besser geschützt sein". Doch „im internationalen Vergleich glänzen die deutschen Kliniken im Hinblick auf den digitalen Reifegrad lediglich beim Datenschutz". Für die notwendige Umgestaltung müsse sich die Kommunikation zwischen Medizinern und Pflegekräften ändern. Sie solle auf Augenhöhe stattfinden. „Digital vernetztes Arbeiten benötigt eine andere Kultur der Interaktion und Kooperation als die alte Verwaltungswelt der Kliniken".