2022 leisteten trotz der Corona-Pandemie mehr als 3.000 junge Leute aus sogenannten Entwicklungsländern einen Freiwilligendienst in Deutschland. So servieren Ehrenamtliche aus Südamerika lernbehinderten Menschen in Ostwestfalen das Mittagessen und spielen mit Kita-Kindern im Teutoburger Wald.
Ana aus Mexiko lauscht, wie einer der Erzieher im Waldkindergarten Bielefeld den Kindern von lauernden Wanzen vorsingt. So ganz versteht sie den Text noch nicht, vor allem wenn immer mehr Wörter fehlen. Ana López spricht Spanisch mit den Kindern, immer öfter aber auch Deutsch. Die Sprache ist für die Kinder gar nicht so entscheidend. Die 27-Jährige nimmt ein weinendes Mädchen auf den Arm und tröstet sie, bis endlich die Mama kommt. Dann ist alles wieder gut.
Die Kinder sind den ganzen Tag draußen, entweder auf dem riesigen Grundstück unter alten Bäumen oder im nahen Teutoburger Wald. Naturpädagogik kennt Ana aus Mexiko nicht. Dort, sagt sie, seien die wenigen Erzieherinnen und Erzieher mit vielen, vielen Kindern nur drinnen – oft alle zusammen in einem Raum. Die Ideen der Natur- und Waldpädagogik will die junge Frau nach ihrem Freiwilligenjahr mit nach Mexiko nehmen, ebenso den sorgsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen, zum Beispiel mit Lebensmitteln. Kindergarten-Leiterin Angela Brinkmann erlebt die Freiwilligen aus Übersee als große Bereicherung. Sie vermitteln den Kindern automatisch und nebenbei, dass Menschen unterschiedlich aussehen, verschiedene Sprachen sprechen und niemand deswegen Angst vor ihnen haben muss.
Ideen für Kitas in Mexiko
Ana López ist im Rahmen des „Weltwärts“-Programms nach Bielefeld gekommen. Junge Leute aus Lateinamerika und Afrika reisen für einen Bundesfreiwilligendienst nach Deutschland. Umgekehrt gehen junge Deutsche zum Freiwilligendienst in Länder des Südens. Finanziert wird das Programm hauptsächlich vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Manche Fachleute kritisieren das Programm als zu einseitig. Es gehen viel mehr Deutsche ins Ausland, als junge Freiwillige von dort nach Deutschland kommen.
Dennoch sind die Plätze im Süd-Nord-Programm von „Weltwärts“ gefragt. 2021 zählten die mehr als 70 Trägerorganisationen rund 25.000 Anfragen für nur etwa 3.500 Plätze. Weltwärts hat jedes Jahr etwa 800 Plätze. Der Rest verteilt sich auf andere Incoming-Programme. Heiner Wild koordiniert bei der Bielefelder Bildungseinrichtung Welthaus das Weltwärts-Programm. Er würde gern mehr Freiwillige aus Übersee nach Deutschland einladen. Doch es gibt zu wenige Unterkünfte. Gastfamilien bekommen kein Geld dafür, dass sie Freiwillige aus dem Ausland aufnehmen. Für viele sei es ein großer Schritt, einen wildfremden Menschen in ihrem Haus zu beherbergen.
Der Lehrer und Gastvater Thomas Freiwald kennt diese Probleme. Er betreut die Ehrenamtlichen aus dem globalen Süden, die in Nordrhein-Westfalen in Waldorfschulen und -kindergärten arbeiten. Um nach Deutschland zu kommen, müssen sie viele Hindernisse überwinden:
Allein der Deutschkurs – Voraussetzung für die Einreiseerlaubnis – kostet zum Beispiel im westafrikanischen Gambia rund drei Monatsgehälter. Dazu kommt die Tagesreise nach Dakar im benachbarten Senegal, um dort beim Goethe-Institut für weitere 150 Euro die Prüfung abzulegen. Das durchschnittliche Monatsgehalt in Gambia liege, so Freiwald, bei umgerechnet etwa 75 Euro. Ein deutsches Visum bekommt für den Freiwilligendienst zudem nur, wer sich zu Hause schon ehrenamtlich engagiert hat und ein regelmäßiges Einkommen im Heimatland nachweist. Dies führt dazu, dass sich fast nur gut ausgebildete junge Leute aus dem Globalen Süden bewerben. Ärmere Menschen mit geringem Bildungsstand haben kaum eine Chance. Von 17 Bewerbern aus dem südlichen Mosambik haben 2017 nur zwei einen Platz im „Weltwärts”-Programm ergattert. Einer von ihnen ist Edmercio Ricardo. Der 27-Jährige hat für eine Kinderhilfsorganisation gearbeitet. Nur so hat er überhaupt vom Weltwärts-Programm erfahren.
Über die Deutschen hat sich Edmercio anfangs gewundert, zum Beispiel im Bus: Wie er es aus Mosambik gewohnt war, grüßte er seinen Sitznachbarn. Der reagierte erst gar nicht und fragte dann pampig: „Kennen wir uns?“ Heute lacht der fröhliche junge Mann über die Begebenheit. Gearbeitet hat er in der Sonnenhellwegschule – eine berufsvorbereitende Schule für lernbehinderte Jugendliche, an der Thomas Freiwald unterrichtet. Edmercio hat fließend Deutsch gelernt und ist geblieben. Inzwischen hat er seine Pflege-Ausbildung abgeschlossen und arbeitet als Krankenpfleger in einem Bielefelder Krankenhaus.
Auch als Gasteltern empfinden Thomas Freiwald und Mechthild Schmidt die jungen Leute aus Afrika als Bereicherung. „Dinge, die man jahrelang für selbstverständlich gehalten hat, stellen die neuen Mitbewohner infrage – weil sie sie noch nie gesehen haben“, sagt Thomas Freiwald. Er erinnert sich, wie Edmercio in den ersten Tagen einiges im Haus des Paares wiedererkannte: Er hatte in Mosambik eine Vorabendserie aus Deutschland gesehen. „Es ist genauso wie in der Telenovela“, sagt er zu seinen Gasteltern, die doch nie wie Klischeefiguren in einer Seifenoper sein wollten.
Zu wenige Freiwillige aus dem Ausland im Programm „Weltwärts“
Mechthild Schmidt und Thomas Freiwald sehen die Freiwilligen privat wie beruflich „als unglaubliches Geschenk“. Pädagoge Freiwald liebt seinen Beruf, der seine Kreativität „immer wieder neu herausfordert“. Zu den angeblich so schwierigen Schülerinnen und Schülern muss er immer wieder neue Zugänge finden. Ähnlich geht es ihm mit den Freiwilligen aus anderen Kulturen. Auch die meisten Dienststellen erleben die Freiwilligen aus Übersee als große Hilfe – so auch das Berufsbildungszentrum Schopf in Bielefeld. Hier bereiten sich Jugendliche mit Lernproblemen auf eine Berufsausbildung vor.
Lehrerin Heike Drost kümmert sich hier um die Freiwilligen. Lachend erzählt sie, wie sie Anaïs aus Peru erklärt haben, was eine „Götterspeise mit Waldmeister“ ist. Weil niemand im Team oder von den Schülern Spanisch spricht, versuchten sie es auf Englisch mit „Forest Master“. Damit kamen sie auch nicht weiter. Im Zweifel helfen Humor, Hände, Füße und der Google-Übersetzer. „Die Freiwilligen wie Anaïs bringen Lockerheit und Spaß in den Alltag“, sagt Drost. Dies sei für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten mindestens so wichtig wie der Schulstoff.
Inzwischen zeigt Anaïs in der Küche neuen Schülern, wie man die Puddingspeise anrührt. In ihrem Viertel in Lima hat die 26-Jährige in einer gemeinnützigen Hilfsorganisation mitgearbeitet. Dort erfuhr sie von Weltwärts. Als sich ihr die Möglichkeit bot, in Deutschland einen Bundesfreiwilligendienst zu machen, war sie sofort dabei. Die Deutschen, die mit dem Programm in ihr Viertel gekommen waren, hatten schon ihre Neugier auf das ferne Land geweckt.
Im Bildungszentrum Schopf kocht Anaïs manchmal auch peruanische Spezialitäten wie Maíz Morado, ein Gericht der Inka aus lilafarbenem Mais. Den Schülerinnen und Schülern schmeckt’s. Einige hätten jetzt auch mehr Englisch gelernt, um mit Anaïs sprechen zu können, erzählt Lehrerin Drost. Gekommen war die junge Peruanerin, um Neues zu entdecken, das sie mit nach Hause nehmen kann. „Pünktlicher“ will sie in Zukunft sein, besser organisiert, und ihren Müll trennen, erzählt die junge Frau lachend.