3,1 Prozent Inflation und weiter steigende Lebensmittelpreise – die Aufwärtsspirale nimmt vorläufig kein Ende. Besonders leiden darunter die Armen – weltweit, aber auch hierzulande.
Mittwochmittag in Berlin- Pankow. Vor der kleinen, alteingesessenen Bäckerei an der Kissingenstraße hat sich wieder einmal eine Warteschlange gebildet. Michaela Kramer (Name von der Redaktion geändert) kommt heraus, sie hält das frisch gekaufte Mischbrot in der Hand und schüttelt ungläubig mit dem Kopf. „Das kann doch nicht wahr sein", sagt die Berlinerin, „dasselbe Brot ist jetzt doppelt so teuer wie vor wenigen Wochen". Preissteigerung um 100 Prozent?
Nach einer ersten Schätzung des Statistischen Bundesamtes ist die Inflationsrate im vergangenen Jahr auf 3,1 Prozent angestiegen – ein Rekordwert. Nur vor 30 Jahren war sie mit 4,5 Prozent höher. Im Jahr 2020 lag die Jahresteuerung noch bei 0,5 Prozent. Nun ist die Inflation auch bei Brot und Brötchen angekommen. Ursachen gibt es viele. Innerhalb der vergangenen beiden Quartale sind allein schon die Preise für Weizen sprunghaft um ein Viertel gestiegen. Ein weiterer Aspekt der steigenden Preise für Grundnahrungsmittel sind die Herstellungskosten, die Bäckereibetriebe stemmen müssen: Auch Strompreise und Transportkosten sind rasant gestiegen. Auch andere Lebensmittel wie Eier, Fett und Milch oder Zucker sind teurer geworden. Dabei sei die Entwicklung in der Bundesrepublik noch vergleichsweise moderat, schreibt das Nachrichtenmagazin „Spiegel". Einer ersten Schätzung der amtlichen Statistiker zufolge hätten sich die Nahrungsmittel im vergangenen Jahr um sechs Prozent verteuert. Viel stärker angezogen hätten da die Weltmarktpreise für Lebensmittel. Tatsächlich lag der Lebensmittelpreisindex (FFPI) nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO (Food and Agricultural Organisation of the United Nations) bei 28 Prozent. Gründe dafür seien laut der zur Uno gehörenden Organisation Ernteeinbußen, teure Düngemittel und eine insgesamt hohe Nachfrage.
Hierzulande wurde die Teuerung im vergangenen Jahr vor allem von rasant gestiegenen Energiepreisen angeheizt. Zugleich schlug die Rücknahme der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung zu. Denn seit einem Jahr gelten wieder die regulären Steuersätze, Waren und Dienstleistungen wurden im Jahresvergleich also tendenziell teurer. Hinzu kamen Materialmangel und Lieferengpässe sowie die Einführung der CO2-Abgabe Anfang 2021 von 25 Euro je Tonne Kohlendioxid, das beim Verbrennen von Diesel, Benzin, Heizöl und Erdgas entsteht. Seit Beginn des laufenden Jahres sollen jetzt 30 Euro je Tonne fällig werden. Nach Einschätzung der Europäischen Zentralbank (EZB) werden die Menschen wahrscheinlich noch eine Zeit lang mit den höheren Teuerungsraten leben müssen. „Wir wissen, dass die Inflation eine gewisse Zeitlang hoch sein wird, aber auch, dass sie im Laufe des nächsten Jahres zurückgehen wird", sagte Mitte Dezember ein EZB-Direktoriumsmitglied gegenüber der französischen Zeitung „Le Monde". Weniger sicher sei man darüber, wie schnell und wie stark der Rückgang sein werde. „Es besteht ein Aufwärtsrisiko".

Dass eine höhere Inflation Kaufkraft und damit die Volkswirtschaft schwächt, liegt auf der Hand. Doch der Teuerungstrend in puncto Lebensmitteln macht die Sache besonders heikel. Er bedeutet, dass sich hierzulande mehr als elf Millionen Menschen in diesem Jahr noch weniger Essen von ihrem knappen Einkommen kaufen können. Das trifft etwa Menschen wie Michaela Kramer besonders, die derzeit als arbeitslose Künstlerin von Hartz IV lebt. Aber auch Migranten, von Altersarmut Betroffene und Kinder aus einkommensschwachen Familien gehören zu den Leidtragenden. Im Regelbedarf der Grundsicherung etwa sind für einen Erwachsenen aktuell für Getränke, Lebensmittel und Tabak zusammen 155,82 Euro vorgesehen. Pro Monat wohlgemerkt.
Strafe fürs „Containern" sei ziemlich absurd
„Wenn der Sozialstaat nicht eingreift, wird es für die Ärmsten der Armen fast unmöglich, die steigenden Lebensmittelpreise noch irgendwie zu kompensieren", kritisiert die Armutsforscherin Irene Becker in einem Interview mit dem Onlineportal web.de. „Theoretisch können Betroffene ihre Ernährung nur auf weniger oder anderes umstellen – heißt zum Beispiel: Sie müssen mehr Brot und weniger frisches Gemüse kaufen", so die Wissenschaftlerin weiter. Ein anderer Effekt könnte sein, dass die Menschen im Hartz-IV-Bezug in anderen Bereichen sparen müssen. „Etwa in den Bereichen Mobilität, Kleidung, Bildung oder Freizeit." Die Preise stiegen aber allgemein, sodass dies kaum möglich erscheint.
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, kritisiert dass der Koalitionsvertrag für „Menschen in Hartz IV und der Altersgrundsicherung" keine „nennenswerte finanzielle Entlastung" vorsieht. „Das ist „eine armutspolitische Enttäuschung", so Schneider.
Während der neue Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir „Ramschpreisen für Lebensmittel" den Kampf angesagt hat, forderten Verbraucherzentralen bereits im vergangenen Sommer einen Ausgleich. Demnach sollten Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte mit einem noch geringeren Mehrwertsteuersatz unter sieben Prozent belegt werden. Özdemir will Abhilfe schaffen, indem er Einrichtungen wie die Tafeln stärkt. Er möchte dem Handel erleichtern, unverkaufte Lebensmittel zu spenden, sodass nicht so viel weggeworfen wird. Bislang sei es für die Händler steuerlich günstiger, Lebensmittel wegzuwerfen, statt sie zu spenden, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Der Minister räumte außerdem ein, dass die Strafbarkeit des Containerns, also der eigenmächtigen „Rettung" weggeworfener Lebensmittel aus den Mülltonnen von Supermärkten „schon ziemlich absurd" sei.
Die Unterstützung von Sozialeinrichtungen wie etwa der Tafel wird aber die soziale Spaltung zwischen Arm und Reich nicht aufhalten können. Denn „qualitative Untersuchungen hätten ergeben", so die Expertin Becker, dass sich die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft dadurch ausgegrenzt fühlen, dass sie immer das Günstigste kaufen und zur Tafel gehen müssten, um über die Runden zu kommen.