Das 2011 in Berlin gegründete Unternehmen Auticon ist das erste in Deutschland, das ausschließlich Menschen im Autismus-Spektrum für die Umsetzung seiner IT-Services beschäftigt. Das sind 70 Prozent von den weltweit 370 Mitarbeitenden.
Der Berliner Martin Neumann studierte Informatik und Bauwesen und ist Diplom-Ingenieur. Er arbeitete als Entwickler, Bauleiter und Sachverständiger und machte sich mit einer Firma selbstständig. Die Arbeitsbelastung führte bei ihm zu einem Burn-out. „Das war genau zu der Zeit, als Auticon gegründet wurde", erzählt er. „Meine Frau sagte, ich soll mal da hingehen. Das war im November 2012. Seitdem arbeite ich hier als IT-Consultant und bin sehr zufrieden. Verglichen mit dem, was ich vorher hatte, ist der Stresslevel viel geringer. Wenn er sich doch mal erhöht, habe ich sofort einen Ansprechpartner, so etwas wie einen persönlichen Assistenten. Meines Wissens gibt es das nirgends sonst."
„Ich mache mir eine Spickliste"
Für ihn und andere ist das Job Coach Christian Quincke. Der Architekt und Ergotherapeut hat Erfahrungen bei verschiedenen medizinischen, sozialen Einrichtungen und Trägern der beruflichen Rehabilitation gesammelt und ist auch bei den Auswahlverfahren für neue Mitarbeitende dabei. „Autisten haben genauso wie andere auch Lebensläufe mit Brüchen, allerdings unter schwierigeren Bedingungen, weil sie durch ihr Anderssein viel Ablehnung erfahren. In Gesprächen versuchen wir herauszufinden, in welchen Bereichen eine Zusammenarbeit möglich ist. Natürlich müssen bestimmte fachliche Grundlagen da sein, aber auch ein gewisses Maß an Soft Skills wie Teamfähigkeit, soziale Kompetenz, Konfliktfähigkeit und Belastbarkeit. Das lässt sich gut im Rahmen unseres Kennenlernprozesses erkennen, der bei uns intensiver ist als in anderen Firmen. Wir nehmen uns Zeit, denn es muss passen."
Bei Martin Neumann passte es. „Ich habe im Kundenkontakt vergleichsweise wenige Probleme zu reden, eher damit, aufzuhören. Seit 30 Jahren schraubt meine Frau an mir herum, um mich sozial kompatibel zu machen. Das ist harte Arbeit, aber wichtig, um in einer Welt zu leben, die nicht für mich gemacht ist." Er hat sich verschiedene Strategien angeeignet, die ihm im Alltag und im Beruf helfen. „Ich muss Name, Gesicht und Funktion zusammenbekommen, dafür mache ich mir eine Spickliste. Dann frage ich, wer ist wofür zuständig, wie läuft der Prozess ab, bei dem ich mitarbeite, und wie soll das Ergebnis aussehen?" Für ihn wie auch die anderen autistischen Mitarbeitenden ist Struktur ganz wichtig. Deshalb werden die Kunden auf die allgemeinen Besonderheiten der Wahrnehmung und der Kommunikation von Menschen mit Autismus-Spektrum vorbereitet und die individuellen Erfordernisse für einen Mitarbeiter besprochen. Ein wichtiger Punkt ist die Klärung von Zuständigkeiten und Ansprechpartnern. Die Kunden kennen auch die Stärken und Schwächen der Auticon-Mitarbeitenden. Für Martin Neumann eine Win-win-Situation. „Ich habe bei meinen Projekten oft die Rückmeldung bekommen, dass mit der Lösung eines Problems auch eine neue Struktur geschaffen wurde. Die Wertschöpfung, die ich bringe, ist mehr als das, was der Kunde auf seinem Auftragszettel zu stehen hat."
Das wissen inzwischen immer mehr Unternehmen zu schätzen. „Wir haben mittlerweile eine sehr gute, etablierte Kundenstruktur und sind stark in den Branchen Bank- und Versicherungswesen, Luft- und Raumfahrt sowie der Autoindustrie vertreten. Mit vielen Kunden arbeiten wir schon lange zusammen", erklärt Dieter Hahn, Managing Director der Auticon GmbH. „Es kommen aber auch Firmen und speziell Diversity Manager auf uns zu, die unser Modell interessant finden, Kontakte knüpfen oder von unseren Erfahrungen lernen wollen. Wir bieten deshalb Workshops zur ‚gelebten Inklusion vor Ort‘ an oder Training von Mitarbeitenden zum Thema Autismus."
Die Kunden sind extrem neugierig, aber Dieter Hahn spürt auch, zumindest anfangs, immer wieder Berührungsängste. Die meisten hätten bei Autisten so einen „Rain Man" aus dem gleichnamigen Film im Kopf, und der würde so gar nicht zu ihnen passen. „Dabei sind die IT-Spezialisten bei Auticon oft sogar überdurchschnittlich intelligent", betont er. Sie haben besondere Begabungen in Logik, Detailgenauigkeit und Mustererkennung und eine enorme Konzentrationsfähigkeit. Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem, so das Credo.
Bewährt haben sich die Vorgespräche der Kunden mit den Job Coaches und die Aufklärung über Autismus. Zur Vorbereitung eines Projektes gehört auch, für die Mitarbeitenden eine entsprechende Arbeitsumgebung zu schaffen, denn Großraumbüros sind für Autisten nicht gerade geeignet. „Früher waren unsere Kolleginnen und Kollegen zu 80 bis 90 Prozent vor Ort beim Kunden. Da haben sie schon auf dem Weg dorthin viel Energie verloren, die dann bei der Arbeit fehlte. Seit Corona hat sich das genau umgekehrt, und es funktioniert wirklich super. Gearbeitet wird im Homeoffice oder von unseren Büros aus. Weil viele Stressfaktoren wegfallen, haben wir jetzt fünf Prozent weniger Krankentage." Ein weiterer Vorteil sei die nun wesentlich höhere Flexibilität. „Bei einem großen Automobilhersteller haben wir ein fast zehnköpfiges Projektteam in fünf verschiedenen Städten. So ein Projekt anzunehmen wäre vorher gar nicht möglich gewesen, weil unsere autistischen Kollegen nicht sehr reisefreudig sind. Viele Kunden denken nun auch um in Richtung hybride Arbeitsmodelle."
Autisten mit Spezialbegabungen
Wie andere Unternehmen auch muss sich Auticon um neue Arbeitskräfte kümmern. In einem breiten Netzwerk sind Autismus- und Sozialverbände sowie Arbeitsagenturen und Jobcenter vertreten, und es gibt Kontakte zu Reha-Einrichtungen. Nach der Beteiligung an einer virtuellen Jobmesse, die für viele Autisten angenehmer ist als eine Präsenzveranstaltung, gab es sechs Bewerbungen. „Wir versuchen, neue Wege zu gehen, so wie in der Zusammenarbeit mit Diagnostikzentren. Auf Empfehlungen von dort haben wir viele Mitarbeitende gewonnen. Zudem gibt es Überlegungen, um Spezialisten über die verschiedenen Jobbörsen im Internet zu finden."
Was sich in Deutschland inzwischen herumgesprochen hat, ist am anderen Ende der Welt noch Neuland. Auticon hat eine Niederlassung in Sydney, Australien, die von Bodo Mann geleitet wird. „Hier wird Integration von Autisten in die Arbeitswelt in erster Linie als Aufgabe des Staates oder gemeinnütziger Vereinigungen gesehen. Deshalb betreiben wir ganz aktiv Kundenakquise und sind im Social-Media-Bereich und in den anderen Medien unterwegs, um unser Modell vorzustellen. Wir arbeiten mit Psychologen und Psychiatern und auch mit Universitäten zusammen, unsere Mitarbeitenden sind selbst vernetzt und empfehlen uns weiter." Das Interesse ist groß, aber Bodo Mann muss Firmenchefs immer wieder erklären, welch enormer Mehrwert durch die Stärken und Fähigkeiten der Autisten generiert wird. „Die positiven Erfahrungen sprechen sich sehr schnell herum. Wir haben demnächst bei einem neuen Kunden eine Veranstaltung mit 150 Führungskräften, die sich über unsere Angebote informieren wollen."
Die Auticon GmbH wurde für ihr Geschäftsmodell vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2014 mit dem Deichmann Förderpreis für Integration und 2018 mit dem Innovationspreis-IT.