Sachverständige haben ihr Gutachten vorgelegt. Aber wie sich Deutschland auf die nächste erwartbare Pandemiewelle vorbereiten will, bleibt undeutlich. Der Wegfall der Bürgertests sorgt für massiven Ärger. Impfstoffe gegen neue Corona-Varianten gehen in die Zulassung.
Es war ein großer Aufschlag, als der Sachverständigenrat der Bundesregierung seinen lange erwarteten Bericht vorgelegt hat. Monatelang haben sich die Mitglieder, allesamt mit großer Expertise ausgezeichnet, die Corona-Maßnahmen der letzten beiden Jahre angesehen und auf ihre Wirksamkeit hin analysiert. Es sollte Grundlage sein, um sich auf den kommenden Herbst und Winter vorzubereiten. Die aktuellen Regelungen im Infektionsschutzgesetz laufen in der zweiten Septemberhälfte ab. Spätestens dann muss klar sein, wie Bund und Länder einer erwarteten neuen Welle begegnen wollen.
Wie weit dabei das Gutachten hilft, war kurz nach der Veröffentlichung noch nicht wirklich zu sagen. Dafür waren die Ergebnisse im Kern zu ernüchternd. Ein ums andere Mal betonten die Experten, dass für bessere Antworten die vorliegenden Datenbasis in vielen Fällen zu schwachbrüstig sei.
Soweit möglich, befand der Sachverständigenrat die bisherigen Maßnahmen durchaus als hilfreich, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. 2G- beziehungsweise 3G-Regeln machen etwa insbesondere Sinn in den ersten Wochen nach Booster-Impfung oder Genesung. Aber deren immunisierende Wirkungen lassen mit der Zeit nach. Und offen ist dabei die Frage nach neuen Virus-Varianten. Für die Experten scheint es daher sinnvoll, auch künftig mit tagesaktuellen Tests zu arbeiten.
Tagesaktuelle Tests bringen besten Schutz
Eine Empfehlung, die zu diesem Zeitpunkt ziemlich irritierend daherkam. Denn ausgerechnet am Tag vor der Gutachtervorstellung trat das Aus für die bislang kostenfreien Bürgertests in Kraft. Das war zwar lange angekündigt, aber offensichtlich in der Umsetzung miserabel geplant. In Testzentren und Apotheken herrschte zum Teil völlige Unklarheit, wer denn nun zu den Ausnahmen gehört, wer nicht, wer was wie nachweisen oder erklären soll und muss. Ärztevertretungen erklärten, Tests nicht mehr abrechnen zu wollen, weil die Voraussetzungen für einen weiterhin kostenlosen Schnelltest nicht überprüft werden könnten.
Unverständlich bleibt auch, warum die kostenfreien Bürgertests ausgerechnet in einer Zeit beendet werden, über die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach selbst gesagt hat: „Die Sommerwelle ist Realität."
Bereits zuvor war immer wieder kritisiert worden, dass es keinen wirklich auch nur halbwegs vollständigen Überblick über die Pandemieentwicklung mehr gibt. Die hochschnellenden Inzidenzzahlen wurden gemeinhin als nur ein Teil der Entwicklung angesehen, mit einer naturgemäß nicht genau abzuschätzenden Dunkelziffer. Mit der neuen Test-Verunsicherung dürfte sich das noch verschärfen.
Das Robert Koch-Institut (RKI) wird zwar nicht müde, an die freiwillige Einhaltung von Grundhygieneregeln zu erinnern, aber die Bereitschaft hat erkennbar trotz der Entwicklung eher nachgelassen. Zumal bislang trotz Sommerwelle kaum noch verpflichtende Maßnahmen gelten. Das gilt im Grunde auch für Urlaubsländer. Seit 1. Juni ist die sogenannte Änderungsverordnung der Corona-Einreiseverordnung in Kraft. Demnach werden keine Hochrisikogebiete mehr ausgewiesen, sondern nur noch Virusvariantengebiete. Derzeit ist nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums „kein Staat als Virusvariantengebiet ausgewiesen". Dennoch hat sich die Europakarte der Neuinfektionen zunehmend rot eingefärbt. Spitzenreiter bei der Sieben-Tage-Inzidenz war zuletzt Frankreich (knapp unter 1.000), gefolgt von Griechenland (knapp 900), Italien und Österreich (jeweils rund 750) und eben Deutschland mit knapp 700. Deutschlandweit liegen Schleswig-Holstein und Niedersachsen (jeweils um 1.000) und dahinter das Saarland (das auf 900 zustrebt) an der Spitze.
Die Zahlen haben aber, wie beschrieben, nur noch bedingte Aussagekraft. Für politische Entscheidungen hatte zuletzt immer die Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems höchste Priorität. Die Omikron-Variante ist zwar deutlich ansteckender als Vorgänger, die Verläufe aber in der Regel nicht so dramatisch. Das RKI vermerkt in seiner wöchentlichen Risikoanalyse, dass die Gefährdung der Bevölkerung zwar weiterhin „hoch" ist, das Risiko schwerer Verläufe aber „durch Grundimmunisierung und insbesondere Auffrischung wesentlich reduziert sei. Insofern also im Grunde nichts wirklich Neues.
Die Omikron-Varianten BA.4 und BA.5 setzen sich, wie erwartet, offenbar weiter durch, sind auch für den Anstieg im Norden Deutschlands maßgeblich. Die steigende Zahl Infizierter macht sich auch an der Hospitalisierung bemerkbar, also den Corona-Fällen, die stationär behandelt werden müssen. Lag die Anfang Juni (bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von knapp über 200) noch bei 1,82 Fällen pro 100.000 Einwohner, ist die bis Ende Juni (Sieben-Tage-Inzidenz knapp 850) auf 5,54 gestiegen. Die Hospitalisierungsrate war im vergangenen Herbst zum entscheidenden Faktor für Einschränkungsmaßnahmen erklärt worden. Gleichzeitig wurde aber auch über deren Brauchbarkeit gestritten.
Hospitalisierungsrate steigt aktuell stark an
Insgesamt hat sich also auch nach dem Gutachten des Sachverständigenrates nicht wirklich viel von der Unübersichtlichkeit der Pandemieentwicklung und notwendiger Maßnahmen gelichtet. Entscheidend ist nun, welche Konsequenzen die Politik zur Vorbereitung auf den Herbst treffen wird.
Bei einer Maßnahme, die vielfach ewiesenermaßen Schutzwirkung entfaltet, nämlich das Impfen, bleibt es auch im Juni fast beim Stillstand. An der Zahl der Menschen, die zumindest eine Grundimmunisierung haben, hat sich kaum etwas bewegt, zugenommen hat aber die Zahl derer mit Auffrischungsimpfung. Von einer steigenden Impfbereitschaft ist Deutschland folglich noch ziemlich entfernt. Gesundheitsminister aus Bund und Ländern haben zwar für die Zeit nach den Sommerferien intensive Kampagnen angekündigt. Wie die aber aussehen, ist allenfalls in Konturen erkennbar.
Ein Stück weit setzt man dabei womöglich auch auf die Zulassung neuer, an Omikron-Varianten angepassten Impfstoffe. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat Hersteller aufgefordert, ihre bereits angepassten Impfstoffe noch mal auf die neuen Varianten BA.4 und BA.5 für eine Zulassung im Herbst zu modifizieren. Modifizierte Impfstoffe könnten dann als Booster eingesetzt werden. Biontech/Pfizer hatten bereits Untersuchungsdaten zur Zulassung eines an Omikron angepassten Impfstoffes eingereicht, der aber nach Berichten vor allem an der Subvariante BA.1 ausgerichtet war. Untersuchungen zeigten aber auch Wirksamkeit gegenüber den neueren Subvarianten. Dazu sollen nun weitere Daten folgen. Ein vergleichbares Verfahren wird auch von der Europäischen Arzneimittelstelle erwartet.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat bereits angekündigt, dass sich der ursprünglich vorgesehene Impfstart von September etwas verzögern könnte. Vorläufig bleibt es also bei den bekannten Empfehlungen der Stiko. Und bei der bekannten Impflücke in Deutschland. Deutschland ist da nach wie vor alles andere als weltmeisterlich, hinkt hinter allen anderen großen europäischen Nachbarn hinterher, und ein Blick auf weltweite Vergleichszahlen fällt erst recht alles andere als schmeichelhaft aus.