Mit seinen neun Etappen im gepunkteten Trikot des besten Bergfahrers rettete Simon Geschke die Bilanz der deutschen Radprofis bei der Tour de France. Die Mühen für den Rekord waren enorm – der Lohn ist viel Aufmerksamkeit.
Mit einem Blumenstrauß in der Hand winkte Simon Geschke dankbar vom Siegerpodest in die Menge, der große Jubel der Fans zauberte ein breites Lächeln ins Gesicht des Radprofis. Doch es waren seine Augen, die ihn verrieten. Geschke war unendlich müde. „Ich bin gestern noch Rennen in Spanien gefahren, heute Morgen war der Flug nach Frankfurt", sagte der 36-Jährige nach seinem Sieg beim Kurparkrennen in Bad Homburg, wo ihm Hunderte Radsportfans wie einem Tour-Sieger zujubelten. Zuvor war er beim schweren Klassiker in San Sebastian früh abgehängt worden – auch wegen einer Panne. „Ein platter Reifen hat mich den Kontakt zum Hauptfeld gekostet, und so war mein Rennen früher beendet als geplant", schrieb Geschke auf seinem Instagram-Account. Und dann ließ er seine Follower wissen, nach was ihm nach Wochen der Torturen nun am meisten der Sinn steht: „Bin jetzt bereit für eine kleine Erholungsphase."
Die hat er sich mehr als verdient. Nach seinem Husarenritt bei der Tour de France „gönnte" sich der Fahrer des französischen Rennstalls Cofidis zwar noch ein paar Profirennen, um seine gestiegene Popularität auszukosten und sicher auch den ein oder anderen Euro einzunehmen. Doch mit jedem Tag mehr merkte er: Der Tank ist leer. Die selbstverordnete Pause ist allerdings nicht besonders lang, schon am 24. August will der gebürtige Berliner wieder kräftig in die Pedale treten, bei der Deutschland-Tour (bis 28. August) ist Geschke mit dem Nationalteam am Start. Und diesmal nicht als irgendein Profi, sondern als eines der Zugpferde schlechthin. Seit seinen triumphalen Tagen von Frankreich, bei denen er insgesamt neun Tage das gepunktete Trikot des besten Bergfahrers der Tour de France getragen hatte, ist Simon Geschke so etwas wie ein Radsport-Held in Deutschland. Entsprechend stimmungsvoll war der Empfang in seiner Wahlheimat Freiburg, wo er sich ins goldene Buch eintrug und von den wichtigsten Politikern der Stadt begrüßt wurde.
Stimmungsvoller Empfang in seiner Wahlheimat
„Ich war überrascht, wieviel Euphorie das tatsächlich ausgelöst hat in Radsport-Deutschland", sagte er: „Da bin ich natürlich stolz und froh drüber." Und ganz Radsport-Deutschland war und ist stolz auf Simon Geschke. Einen „gepunkteten Kämpfer am Berg" nannte ihn die „Süddeutsche Zeitung", die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" adelte ihn als „Meisterstrategen", und nicht nur für Landsmann Nils Politt war er der „Sieger der Herzen". Er habe „eine schöne Show abgeliefert", sagte Geschke mit einem breiten Grinsen im Gesicht, „es scheint, dass ich eine Menge Fans dazugewonnen habe. Ich habe offenbar die letzten Wochen nicht alles falsch gemacht." Im Gegenteil: Der Mann mit dem markanten Vollbart hatte mit seiner bravourösen Leistung bei der Großen Schleife die Herzen der Fans erobert und ein Stück deutsche Sportgeschichte geschrieben. Auf der ersten Alpenetappe setzte der ausgebuffte Profi auf das richtige Pferd, als er sich einer großen Ausreißer-Gruppe am Genfer See mit dem Ziel anschloss, bei den vier Bergwertungen möglichst viele Punkte einzusammeln. Der Plan ging trotz Platz 33 auf, am Ende des harten Tages hatte er 19 Zähler eingesammelt und durfte sich erstmals in seiner Karriere das Bergtrikot der Tour de France auf dem Podest überstreifen. Als erst siebter deutscher Fahrer der Geschichte. Doch der Preis dafür war enorm.
„Ich bin an der letzten Bergwertung ein paar Tode gestorben", sagte der gebürtige Berliner, „aber die Chance wollte ich unbedingt nutzen." Denn die Möglichkeit, eine Trikotwertung anzuführen, „kommt nicht oft im Leben". Beim Giro d’Italia war ihm das bereits zweimal gelungen – doch die Tour ist halt die Tour. Auch Geschke überschlug sich mit Superlativen: „Das ist etwas extra Besonderes." An jenem 10. Juli sah es jedoch zunächst nach einem kurzen Vergnügen aus, zu große Anstrengungen hatte der Allrounder für das Bergtrikot aufwenden müssen, zu stark erschienen seine Konkurrenten. „Ich sehe mich jetzt nicht sehr lange im Bergtrikot", hatte Geschke damals selbst zugegeben: „Jeder Tag im Bergtrikot ist jetzt ein Bonus." Es wurden dann doch ein paar mehr Bonustage als gedacht.
Mit einem riesigen Kämpferherz, vorausschauendem Kalkül und etwas Glück konnte Geschke das weiße Trikot mit den roten Punkten neun Etappen lang verteidigen, so lange wie kein anderer deutsche Radprofi vor ihm. Sebastian Lang und Marcel Wüst durften sich beide jeweils „nur" vier Tage als Bergkönig der Tour de France fühlen. „Ich wusste nichts von dem Rekord", sagte Geschke, der mit purer Kraftanstrengung und eisernem Willen in den Bergen Punkt um Punkt hamsterte. Während ausgewiesene Kletterer wie Jonas Vingegaard oder Tadej Pogacar die Anstiege meist scheinbar mühelos meisterten, waren Geschke die Anstrengungen immer deutlich anzusehen. Fast schon verkrampft klammerte er sich an sein Lenkrad, er biss auf die Zähne und fuhr fast immer im roten Bereich.
Mit Erfolg. „Das Trikot zu haben, setzt unglaubliche Kräfte frei", beschrieb er. Sogar der Gesamtsieg in dieser Sonderwertung war zum Greifen nah. Doch auf der allerletzten Bergetappe musste Geschke den Anstrengungen Tribut zollen. Während der Deutsche keine Punkte einfuhr, entriss ihm ein wie entfesselt fahrender Vingegaard das liebgewonnene Trikot. Da der dänische Shootingstar aber die Gesamtwertung anführte und daher in Gelb startete, blieb Geschke als sein Stellvertreter „gepunktet".
Kämpferherz und Kalkül
Den Respekt im Fahrerfeld hatte er da schon längst sicher. Es gab sicher kaum einen Kollegen, der dem sympathischen „Simoni" die große Bühne und den Erfolg nicht gönnte. Als Geste der enormen Wertschätzung schenkten sie dem Cofidis-Profi die letzte Bergwertung der diesjährigen Tour, er durfte sich rund 20 Meter vor dem Feld allein vorausfahrend den letzten Punkt sichern, ohne dass ihn irgendwer attackierte. „Es war eine tolle Tour", sagte er, „so viel habe ich nicht falsch gemacht." Nach der Schlussetappe in Paris, die er auf der Champs-Élysées als Vingegaard-Stellvertreter mit dem Bergtrikot am Leib absolvierte, stieß Geschke mit seinen Teammitgliedern von Cofidis mit Champagner an.
Die Mannschaft habe „einen sensationellen Job" gemacht, lobte Geschke, dem für seine Mission von der Teamführung auch Helfer abgestellt worden waren. Der deutsche Profi profitierte dabei auch vom Pech seines Kapitäns Guillaume Martin, der wegen Corona zur neunten Etappe nicht mehr antreten konnte. Erst dadurch hatte Geschke die Chance auf einen Angriff aufs Bergtrikot und grünes Licht von seinen Bossen erhalten. „Es war immer schon ein kleiner Traum von mir, mal ein Trikot bei der Tour zu tragen", sagte Geschke. Eine Leaderrolle beim französischen Team, für das er seit 2021 fährt, beansprucht er nun aber nicht: „Ich mag meine Rolle als Helfer. Alles andere bedeutet mir zu viel Druck, zu viel Verantwortung."
Trotzdem: Die zehnte Tour-Teilnahme wird für ihn unvergessen bleiben, auch wenn er seinen Etappensieg 2015 in Pra-Loup ebenfalls ganz oben bei den Karriere-Erfolgen einordnet. Die Heimreise trat Geschke mit Übergepäck an, von den Veranstaltern hatte er für jeden Tag im Bergtrikot mindestens fünf Jerseys erhalten. „In meinen Koffer gehen die gar nicht alle rein", berichtete er. Probleme, die Trikots in seiner Familie und im Freundeskreis zu verteilen, habe er aber keine: „Gemeldet haben sich genug, die gern eines hätten." Er selbst wird es wohl eher an die Wand hängen als privat überzustreifen. Denn optisch sagt ihm das Bergtrikot überhaupt nicht zu. „Ich würde mir kein T-Shirt kaufen, das so aussieht", meinte Geschke. Aber: „Es hat einen Prestigewert im Radsport."
Zahlreiche Glückwünsche
Und deswegen war die diesjährige Tour aus deutscher Sicht auch kein Reinfall. Zwar blieb die kleine deutsche Fraktion ohne Etappensieg, was zuletzt 2019 der Fall gewesen war, aber Geschkes Kampf um die Sonderwertung war ein Highlight. Genauso wie die Dramen um Lennard Kämna. Dem Profi vom deutschen Team Bora-hansgrohe fehlten nur elf Sekunden zur zwischenzeitlichen Gesamtführung und dem Gelben Trikot, bei der Etappe nach Planche des Belles Filles fehlten ihm nur rund hundert Meter zum Tagessieg. Womöglich kehrt der 25-Jährige, dem Experten das Potenzial für einen erfolgreichen Rundfahrer nachsagen, im nächsten Jahr als Teamkapitän für das Gesamtklassement zur Tour zurück. Die Teamleitung will das in Ruhe mit Kämna besprechen. Auch Geschke will im nächsten Sommer wieder in Frankreich aufschlagen und seine elfte Tour fahren – im Alter von dann 37 Jahren. Doch nach der kommenden Saison soll seine Profikarriere beendet sein. „Am 31. Dezember 2023 ist Schluss", hatte Geschke schon vor der Tour der „Bild" gesagt: „Bis 40 will ich nicht fahren. Das Level im Radsport ist sehr hoch gerade." In Frankreich hat er zwar gesehen, dass er noch vorne mithalten kann. Doch der Aufwand dafür war riesig. Auch auf Erfahrungen wie bei Olympia in Tokio, als er nach einem positiven Test nach der Einreise zehn Tage in Quarantäne verbringen musste, unter Bedingungen, die er als „halb Psychiatrie, halb Gefängnis" beschrieb, kann Geschke gut und gerne verzichten. „Olympia habe ich inzwischen unter ‚dumm gelaufen‘ abgehakt", sagte der Radprofi, auch wenn er in der Tour-Vorbereitung erneut durch eine Corona-Erkrankung zurückgeworfen wurde.
All das spielt nach den fantastischen Tour-Tagen keine Rolle mehr. Anfangs sei er „kaum hinterhergekommen", alle Glückwunsch-Nachrichten zu lesen, verriet Geschke: „Da merkt man, was für eine Größe die Tour hat." Dass ein Radfahrer Geschke auf seine alten Tage noch zu Höchstleistungen imstande ist, ist übrigens nichts Neues. Schon sein Vater Jürgen „Tutti" Geschke hatte als 34-Jähriger einen WM-Titel im Bahnrad-Sprint (1977) geholt.