Jan Ullrich ist wieder aufgetaucht. Der frühere Tour-de-France-Gewinner sucht mit einer Doku über sein Leben bewusst den Weg in die Öffentlichkeit. Er will mit seiner Vergangenheit Frieden schließen und auch beim Thema Doping reinen Tisch machen.
Um Jan Ullrich war es still geworden. Der tief gefallene Radsport-Star wollte sich mit einem Entzug, einer Therapie und vor allem viel Ruhe zurück ins normale Leben kämpfen. Wieder einmal. „Ich bin dem Tod mal wieder entronnen“, sagte Ullrich nach einem Rückfall Ende 2021.
Schon davor hatte er für viele Negativ-Schlagzeilen gesorgt: Nachbarschaftsstreit auf Mallorca mit Schauspieler Til Schweiger, Trink- und Drogen-Exzesse, Burn-out, Scheidung, Finanzprobleme, Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluss, Gerichtstermine wegen einer handfesten Auseinandersetzung mit einer Escort-Dame, verstörende Videobotschaften an Freunde. Das einstige Radsport-Idol bekam nach dem Ende seiner vielschichtigen Karriere sein Leben nicht in den Griff. Die Sportwelt konnte beim Absturz quasi zusehen, Freunde und Familie standen dem oft hilflos gegenüber. Ullrich wollte sich eine Zeit lang wohl auch gar nicht helfen lassen. Doch jetzt habe er es verstanden, versicherte der gebürtige Rostocker: „Ich habe es geschafft, wieder ein stabiles Umfeld um mich zu bauen.“ Der Sport sei dabei „ein wichtiger Teil“ seiner Therapie, aber auch die Gespräche mit Psychologen hätten ihm bei seinem steinigen Weg zurück zu einer körperlichen und mentalen Gesundheit geholfen.
Nach dem Erfolg folgte der Absturz
Und so fühlt sich Jan Ullrich bereit, sich wieder der Öffentlichkeit zu stellen. Mehr noch: sich zu offenbaren. „Jetzt ist es an der Zeit, meine Geschichte zu erzählen. Die ganze Geschichte“, sagte er in einem 57-sekündigen Trailer zur Doku „Jan Ullrich – Der Gejagte“, die ab 28. November bei Amazon Prime Video zu sehen ist. Das kurze Video, in dem Interviewsituationen und Archivbilder zusammengeschnitten sind, lässt erahnen, dass Ullrich in der Serie Geständnisse über seine privaten und sportlichen Turbulenzen ablegen will. „Das Ziel war, mit meiner Vergangenheit Frieden zu schließen, dass sie mich nicht mehr einholen kann, meinen Mittelweg zu finden, damit offen und intensiv umzugehen“, sagte Ullrich bei einem Medientermin Anfang September in München. Er versprach, mit allen Themen „offen und ehrlich“ umzugehen.
Auch mit dem Doping-Vorwurf? In einem „Focus“-Interview 2013 hatte Ullrich zwar zugegeben, Behandlungen beim umstrittenen spanischen Sportmediziner Eufemiano Fuentes in Anspruch genommen zu haben. Im Unrecht sah er sich deswegen lange Zeit aber nicht. „Fast jeder hat damals leistungssteigernde Substanzen genommen. Ich habe nichts genommen, was die anderen nicht auch genommen haben. Betrug fängt für mich dann an, wenn ich mir einen Vorteil verschaffe. Dem war nicht so. Ich wollte für Chancengleichheit sorgen.“ Doch der Internationale Sportgerichtshof (CAS) sah das anders: Ullrich wurde 2012 für zwei Jahre gesperrt, all seine Ergebnisse seit dem 1. Mai 2005 annulliert. Darunter auch Platz drei bei der Tour de France 2005 und der Gesamtsieg bei der Tour de Suisse 2006.
20 Jahre später räumte er Fehler ein
Sein größter Erfolg steht aber weiter in den Geschichtsbüchern. Sein historischer Triumph 1997 bei der Tour de France, dem größten und wichtigsten Radrennen der Welt, ist noch nicht aus den Ergebnislisten gestrichen. Weil Ullrich in Bezug auf die Große Schleife in diesem Zeitraum noch kein klares Doping-Geständnis abgelegt hat. Seine damaligen Kollegen beim Team Telekom wie Erik Zabel, Rolf Aldag oder Bjarne Riis hatten später die Einnahme verbotener Substanzen zugegeben. „Ich habe nie jemanden betrogen“ – so lautete Ullrichs standardisierte Aussage in diesem Zusammenhang. So auch bei seinem fast schon legendären TV-Auftritt 2007 in der TV-Sendung „Beckmann“. „20 Jahre danach erkennt man die Fehler, die man gemacht hat“, sagt Ullrich heute und deutet zumindest ein Doping-Geständnis an: „Dass ich niemanden betrogen habe, war falsch. Für mich war das auf meine Gegner getrimmt, aber die Fans gehören natürlich auch dazu.“
In dieser Hinsicht hat Ullrich in der Tat einiges gutzumachen. In besagtem Sommer 1997, als Ullrich als 23-Jähriger die Radsport-Welt aus den Angeln hob und als neuer deutscher Sportheld gefeiert wurde, stellte kaum jemand die Frage, ob es bei diesem sensationellen Erfolg mit rechten Dingen zugegangen sei. Nicht nur Sportfans in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt waren begeistert vom nahbaren „Ulle“, der mit einem herausragenden Talent gesegnet war. Und der dennoch das Unausweichliche, die Ablösung seines schwächelnden Kapitäns Bjarne Riis, so lange es ging hinauszögerte. Immer wieder stopfte der loyale Helfer für den Dänen Löcher, er kontrollierte das Tempo und konterte Angriffe von Virenque und Pantani. Bis zum schweren Anstieg auf den Andorra Arcalis auf der zehnten Etappe. Der junge Deutsche blickte immer wieder zurück auf Riis, der am Ende der Favoritengruppe schwer atmend nur mit viel Mühe den Anschluss halten konnte. Aus seinem fahrenden Begleitwagen gab ihm der damalige Telekom-Sportchef Walter Godefroot grünes Licht für die Attacke, seine Worte an Ullrich sind ebenfalls ein Stück Tour-Geschichte: „Der König ist tot. Schauen Sie sich nicht um und geben Sie alles.“
Wie von allen Fesseln befreit lieferte Ullrich daraufhin sein Meisterstück ab. Den Oberkörper ergonomisch perfekt über den Lenker gebeugt, zermürbte Ullrich mit seinem gleichmäßigen Monstertritt, bei dem er trotz extremer Steigung fast nie aus dem Sattel stieg, die leichtere Konkurrenz. Die Kletterkünstler versuchten mit ihrem Wiegetritt Schritt zu halten – keine Chance. Im Ziel hatte der deutsche Meister 68 Sekunden Vorsprung auf die entzauberten Richard Virenque und Marco Pantani, seinen einstigen Chef Riis deklassierte er gar um dreieinhalb Minuten. „Der neue Riese“, wie Ullrich von der französischen Sportzeitung „L’Équipe“ danach getauft wurde, streifte sich das Gelbe Trikot des Gesamtführenden über und gab es bis Paris nicht mehr ab.
Doping-Arzt Fuentes kommt zu Wort
„Jan war das Wunderkind, der Gesalbte.“ Das sagt Lance Armstrong in der Doku über seinen einstigen sportlichen Hauptkonkurrenten, mit dem er mehr gemein hat, als es die ersten Jahre ihrer Rivalität vermuten ließen. Dass Armstrong, der 2013 ein umfassendes Doping-Geständnis abgelegt hat und dadurch unter anderem seine sieben Tour-Siege verlor, als Zeitzeuge in der Dokumentation auftaucht, überrascht nicht wirklich. Der US-Amerikaner war für Ullrich auch in einer Zeit da, in der sich selbst viele seiner Freunde von ihm abgewendet hatten. Er besuchte ihn während einer Entziehungskur 2018 und wandte sich mit eindringlichen Worten an die Öffentlichkeit: „Bitte behaltet Jan in all euren Gedanken und Gebeten. Er braucht jetzt eure Hilfe.“ Ullrich bedeutet die Freundschaft zu seinem Ex-Rivalen viel. Armstrong kommt in der Doku genauso zu Wort wie unter anderem Eufemiano Fuentes. Der spanische Sportarzt, der durch den Dopingskandal kurz vor Beginn der Tour de France 2006 bekannt wurde, sagt: „Sie fragten mich nach der Wunderformel, um Sieger zu werden.“ Tour-Sieger wurde Ullrich aber nie wieder, 2006 durfte er nicht einmal antreten. Bei einer Razzia der Polizei Guardia Civil wurden zahlreiche Blutbeutel, Dopingmittel und eine Liste mit Codenamen von Leistungssportlern beschlagnahmt.
Von dieser wurden dann am nächsten Tag 58 Namen veröffentlicht – was dem Radsport einen schweren Schlag versetzte. Unter anderem wurden Jan Ullrich und Óscar Sevilla vom Team Telekom als Fuentes-Kunden entlarvt, beide Topfahrer wurden suspendiert. „Ich bin in einem absoluten Schockzustand. Das ist das Schlimmste, was mir bisher in meiner Karriere passiert ist. Ich kann nur sagen, dass ich nach wie vor nichts mit der Sache zu tun habe“, sagte der damals 32-Jährige. Er fühle sich als „Opfer“ und kündigte an: „Jetzt bin ich am Boden, aber ich werde weiterhin kämpfen.“
Flucht in Alkohol und Drogen
Doch ab diesem Zeitpunkt ging es nur noch bergab mit Jan Ullrich. „Ich hatte fast alles verloren, auch mein Leben“, sagt er: „Ich konnte meine Vergangenheit selbst nicht ertragen.“ Seine Lösung? Die Flucht in Alkohol und Drogen. Der von allen stets geliebte Leistungssportler, dem man seine Schwächen für Süßes und Rotwein leicht verzeihen konnte, verlor in den Jahren danach jegliches Maß. „Mir ging es richtig scheiße“, gibt Ullrich in der Doku zu: „Ich habe Kokain in Massen genommen. Ich habe Whiskey wie Wasser getrunken. Bis kurz vor Exitus.“ Der Mann, der auf einer Stufe mit Sporthelden wie Michael Schumacher und Boris Becker stand, war plötzlich eine Gefahr für sich selbst und andere. Freunde und Wegbegleiter fühlten sich machtlos. „Ulle muss sofort in eine geschlossene Anstalt, damit er nicht mehr frei draußen rumläuft“, forderte in Ullrichs schlimmster Phase der ehemalige Radstar Dietrich Thurau. Ansonsten nehme das ein „böses Ende“.
Er habe sich „mit letzter Kraft da rausgekämpft“, sagt Ullrich nun. Doch Abstinenz sei nur ein Teil davon. „Die große Aufgabe war dann: Du musst dein Leben ändern. Nicht nur den Alkohol und die Drogen weglassen“, erklärte Ullrich. Er habe mit seiner Vergangenheit endlich zurechtkommen müssen. „Vorher hatte ich verdrängt, wollte es mit mir ausmachen, hatte keinen Gesprächspartner.“ Die Doku über sein Leben war für ihn also auch eine Therapie. „Mit der Doku und mit der Verarbeitung meines Lebens, meiner Vergangenheit geht’s mir viel besser, viel leichter“, verrät er: „Ich habe den Rucksack für mich abwerfen können und habe Frieden geschlossen mit meiner Vergangenheit.“ Im Dezember feiert Ullrich seinen 50. Geburtstag.