Vor dem Start der diesjährigen Tour de France erschüttert der Tod von Gino Mäder den Radsport. Es wird wieder über die Sicherheit diskutiert. Sportlich deutet alles auf ein erneutes Duell der Topstars Vingegaard gegen Pogacar hin.
Auch der Radsport setzt auf einen Schub durch Netflix. Kurz vor dem Start der diesjährigen Großen Schleife lief auf dem Streamingdienst-Giganten die Doku-Serie „Tour de France: Unchained“ an, die im besten Fall einen Hype um den Sport auslösen soll. Das hatte zuvor schließlich in der Formel 1 mit „Drive to Survive“ und in Ansätzen auch im Tennis mit „Break Point“ funktioniert. Zu sehen sind Radsport-Helden, die sich während der strapaziösen Rundfahrt alles abverlangen und scheinbar furchtlos jeder Situation stellen. In einer Episode wird gezeigt, wie sich der junge Brite Tom Pidcock mit über 100 km/h vom Col du Galibier in die Tiefe stürzt – und dafür belohnt wird. Er holt mit dem waghalsigen Manöver den Führenden ein und sichert sich im Anstieg auf Alpe d’Huez den Triumph auf der Prestigeetappe. Rasante Abfahrten versprechen spektakuläre Bilder – das Risiko tragen die Fahrer. Es brauche „offenbar immer noch mehr Spektakel“, kritisierte Belgiens Radstar Remco Evenepoel, „es muss wohl einfach etwas passieren, damit man reagiert“.
Das Risiko tragen am Ende die Fahrer
Und dann passierte tatsächlich etwas Schreckliches. Bei der Tour de Suisse stürzte Lokalmatador Gino Mäder auf der Abfahrt vom Albula-Pass zum Zielort La Punt bei hohem Tempo in eine Schlucht. Einen Tag nach dem Unfall erlag der 26-Jährige im Krankenhaus seinen Verletzungen. Der genaue Unfallhergang war auch Tage danach nicht vollständig geklärt, doch für viele Profis stand fest: Die Veranstalter trugen mit der riskanten Streckenführung zur Tragödie bei. Es sei „keine gute Entscheidung“ gewesen, „uns die Etappe mit dieser gefährlichen Abfahrt beenden zu lassen“, sagte Weltmeister Evenepoel. Er hoffe, dass der Unfall „sowohl für die Organisatoren als auch für uns selbst als Fahrer ein Denkanstoß“ sei. Wohlgemerkt: Zum Zeitpunkt dieser Aussagen war Mäder noch am Leben. Nach dem Tod des verunglückten Bahrain-Victorious-Profis nahmen auch die Diskussionen um die Sicherheit der Fahrer im Rennradsport zu. Der tödliche Unfall im Triathlon bei der Ironman-Europameisterschaft Anfang Juni in Hamburg, als auf der Radstrecke ein Motorrad mit einem Radfahrer kollidierte und der Pilot starb, dürfte die Verantwortlichen der anstehenden Tour de France aufgeschreckt haben. Klar ist: Das Risiko fährt im Radrennsport immer mit. Aber die Veranstalter können dieses durch Streckenführung, Verkehrsabsicherung und Kontrolle durchaus steuern.
Auch bei der Tour de France gab es immer wieder Unfälle, zum Teil mit dramatischen Folgen. „Die Tour ist nicht gefährlicher als in der Vergangenheit“, behauptet Tour-Direktor Christian Prudhomme. Beim Kampf um das Gelbe, Grüne und Gepunktete Trikot schonen die Fahrer bei rasanten Abfahrten und steilen Rampen weder sich noch das Material. Stürze hätten in den vergangenen Jahren aber aufgrund der Fahrweise im Feld zugenommen. Die Bedeutung der wichtigsten Rundfahrt im Radrennsport erhöhe die Risikobereitschaft und Aggressivität. „Alle Fahrer von einem Team versammeln sich um den Kapitän und kämpfen darum, an der Spitze des Felds zu sein. Aus der Helikopterperspektive sieht man, dass oft vier oder fünf Teams die ersten 30 Plätze besetzen. Die Fahrer dahinter sind oft in einem Chaos.“
Ein ähnliches Bild wird sich wohl auch bei der diesjährigen Ausgabe der Tour vom 1. bis 23. Juli ergeben. Vor allem die beiden Top-Favoriten auf den Triumph dürften ihre Teams gebündelt an die Spitze beordern: Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar. Im Duell der beiden Ausnahmekönner geht der Vorjahressieger Vingegaard als Favorit ins Rennen, zumal seinen Widersacher Verletzungssorgen plagen. „Die Tour de France ist etwas ganz Besonderes. Das Gefühl, das ich hatte, als ich ganz oben auf dem Podium stand, war fantastisch“, sagte Vingegaard. Sein Ziel sei es, „noch viele Siege zu holen – bei der Tour, aber auch bei anderen Rennen“. Der souveräne Sieg bei der Generalprobe, dem 75. Critérium du Dauphiné, war eine klare Kampfansage an Pogacar und Co. „Ich kann mit dieser Woche sehr zufrieden sein. Ich bin in guter Form, und auch das Team ist großartig gefahren. Ich bin etwas überrascht, dass die Abstände im Klassement so groß sind, aber ich weiß, dass ich im Moment in einer guten Verfassung bin“, sagte der 26-Jährige. Der Kapitän von Jumbo-Visma wollte nach dem Triumph „ein paar Tage entspannen“ und sich dann den Feinschliff für die Tour holen. Generell fühlt sich Vingegaard für die Titelverteidigung bereit: „Ich habe noch einiges zu tun, aber nicht viel mehr.“
Vingegaard will Titel verteidigen
Ein Wermutstropfen ist aber der Verlust von Edelhelfer Steven Kruijswijk. Der Niederländer war bei der Dauphiné gestürzt und fällt wegen eines Becken- und Schlüsselbeinbruchs für die Tour wohl aus. Nicht ideal, aber das Jumbo-Visma-Team ist qualitativ so stark besetzt, dass Vingegaard beim Tour-Startschuss im Baskenland immer noch eine erstklassige Helferriege zur Verfügung hat. Sein Vertrauen in die Kollegen und Teamführung ist so groß, dass der Däne kürzlich seinen Vertrag vorzeitig um gleich drei Jahre bis 2027 verlängerte. „Ich habe eine fantastische Reise mit dem Team hinter mir, das mich in jeder Hinsicht unterstützt hat, um der Fahrer zu werden, der ich heute bin“, sagte Vingegaard: „Ich fühle mich wie zu Hause.“
Vingegaards Tour-Bilanz ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Bei seinem Debüt 2021 schloss er die Frankreich-Rundfahrt auf einem famosen zweiten Platz ab, ein Jahr später entthronte er den zweimaligen Sieger Pogacar. Ein famoser Aufstieg für jemanden, der bis vor fünf Jahren noch halbtags in einer Fischfabrik gearbeitet und deswegen viel Training versäumt hatte. Vingegaard bereitete den bereits gefangenen Fisch für den Verkauf auf, „ich war der Typ, der ihn in Eis gelegt und fertiggemacht hat, damit sie ihn schneiden können“, berichtete er einmal.Damals war er Fahrer eines zweitklassigen dänischen Radrennstalls, doch als die Scouts von Jumbo-Visma auf den 1,75-m-Schlacks aufmerksam wurden, war es mit dem Nebenjob vorbei. Fortan arbeite Vingegaard unter Vollprofi-Bedingungen – und das schlug glänzend an. Doch so ein rasanter Aufstieg bringt natürlich auch Zweifel mit, ob dieser denn auch wirklich nur mit legalen Mitteln zustande kommt. Zumal Dänemarks letzter Tour-Held Bjarne Riis ein schlechter Leumund ist. „Wir sind alle absolut sauber. Ich kann das für jeden von uns sagen“, antwortete Vingegaard auf Doping-Fragen bei der Tour vor einem Jahr. „Wir machen Trainingslager in der Höhe, wir ernähren uns gut, wir machen alles bestmöglich. Deswegen haben wir gewonnen.“
Fragen, die Tadej Pogacar vor nicht allzu langer Zeit auch gestellt bekommen hat. Seine beiden Dominanzjahre 2020 und 2021, als der junge Slowene die Tour nach Belieben beherrschte, hatten Misstrauen geweckt. Doch das Vorjahr zeigte, dass auch Pogacar Schwächephasen durchlebt. Dass er einbrechen kann. Dass er nicht unfehlbar ist. In dieses Jahr startete er mit dem festen Ziel, auf den Tour-Thron zurückzukehren und die Machtverhältnisse im Radsport wieder zu seinen Gunsten zu ändern. Und der Saisonstart war verheißungsvoll, Pogacar kam mit zwölf Siegen deutlich besser aus den Startlöchern als Vingegaard. Beim bislang einzigen direkten Aufeinandertreffen düpierte Pogacar seinen Rivalen, als er diesem beim Frühjahrs-Klassiker Paris-Nizza als Gewinner eineinhalb Minuten abnahm.
„Wir haben um mehr Sicherheit gekämpft“
Doch beim Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich zog sich Tadej Pogacar einen Kahnbeinbruch zu. Die Folge: Eine Operation, bei der ihm eine Schraube in das Gelenk eingefügt wurde, und eine wochenlange Reha. Die Teilnahme an der Frankreich-Rundfahrt geriet zum Wettlauf mit der Zeit. Als unmittelbare Vorbereitung war nur ein Start bei den slowenischen Meisterschaften eingeplant. Über die genaue Form des Kapitäns von UAE Team Emirates darf also spekuliert werden. „Meine Form ist weniger schlecht als ich dachte“, sagte der 24-Jährige zuletzt selbst. Das Handgelenk werde „von Tag zu Tag besser und immer beweglicher“. Pogacar geht davon aus, die anstrengenden Tage der Tour mit einer Stütze um das Handgelenk absolvieren zu müssen, „nur, um ihm ein wenig Halt zu geben. Ich hoffe, dass ich dann soviel Beweglichkeit habe, um bei der Tour aus dem Sattel gehen und auch sprinten zu können“.
Passiert ist ihm die Verletzung bei einem Sturz. Auch deshalb fühlte Pogacar bei Mäders Tod mit. „Ruhe in Frieden, ich werde dich vermissen“, schrieb der Slowene in Social-Media. Auch Vingegaard drückte sein „tiefes Beileid an die Familie und Freunde von Gino“ aus. In Momenten wie diesen rückt die Radsportfamilie zusammen. Alle Fahrer wissen, dass niemand gefeit ist. Auch Ausnahmekönner nicht. Prellungen, Schürfungen, gebrochene Schlüsselbeine – fast schon Normalität bei großen Rundfahrten wie der Tour de France. Schlimmere Verletzungen oder gar Todesfälle konnten oft auch deswegen verhindert werden, weil 2003 die Helm-Pflicht eingeführt wurde. Vorausgegangen war aber eine achtjährige Debatte darüber. Doch der Helm bietet bei Unfällen auf Hochgeschwindigkeits-Abfahrten auch nur bedingt Schutz. „Wir haben um mehr Sicherheit gekämpft“, sagte der inzwischen zurückgetretene Ex-Weltmeister Tony Martin, „sind aber nicht einen Schritt vorwärtsgekommen“.