Traditionell wird das Rennen der Männer den Höhepunkt der Straßenrad-WM darstellen. Sprinter dürften auf der anspruchsvollen Strecke keine Chance haben, Klassiker-Spezialisten wie Van Aert, Evenepoel oder van der Poel werden am höchsten gehandelt.
Das spektakuläre landschaftliche Umfeld, die Traumstrände am Pazifik oder die Sehenswürdigkeiten der mit etwa 260.000 Einwohnern drittgrößten und von der Stahlindustrie geprägten Stadt des australischen Bundesstaats New South Wales dürften die rund 1.000 Sportler aus 70 Ländern in den kommenden Tagen kaum eines Blickes würdigen können. Schließlich haben alle im rund 85 Kilometer südlich von Sydney gelegenen Wollongong nur das begehrte Regenbogentrikot des Weltmeisters im Sinn, das bei der 89. Auflage der UCI-Straßenrad-WM innerhalb von acht Tagen, zwischen dem 18. und 25. September, gleich in elf Wettbewerben (darunter auch die Titelkämpfe der Junioren und der Klasse U23) gewonnen werden kann.
Dem vom Bund Deutscher Radfahrer (BDR) nominierten 29-köpfigen Teilnehmerfeld dürfte heuer bei den alljährlich stattfindenden Titelkämpfen, die von der Union Cycliste Internationale schon seit 1921 durchgeführt und erst zum zweiten Mal überhaupt in der südlichen Hemisphäre über die Bühne gehen werden, kaum mehr als eine Statistenrolle zuzutrauen sein. Was vorwiegend für die Männer gilt. Weil sämtliche Stars aus der ersten Reihe, vorrangig das bei Bora-hansgrohe angestellte Quartett mit Nils Politt, Lennard Kämna, Maximilian Schachmann und Emanuel Buchmann, dem BDR eine Absage erteilt hatten. Insofern ruhen die deutschen Hoffnungen beim prestigeträchtigsten Straßenrennen der Profis, bei dem das deutsche Team sechs Startplätze und damit zwei weniger als die Top-nationen Belgien, Dänemark, Großbritannien, die Niederlande und Gastgeber Australien erhalten hat, primär auf dem ehemaligen Giro- und Vuelta-Etappensieger Nikias Arndt und auf Georg Zimmermann, der jüngst mit dem vierten Platz bei der Deutschland-Tour 2022 seine gute Form bewiesen hatte.
Deutsche Asse bleiben WM fern
Auch wenn sich der BDR mit der Vergabe einer offiziellen Kapitänsrolle noch bedeckt gehalten hatte, so ist doch davon auszugehen, dass Nico Denz, Miguel Heidemann, Jonas Koch und Jannik Steimle wohl nur für Helferdienste vorgesehen sind. Bei den deutschen Frauen sieht es trotz des Rücktritts von Lisa Brennauer dank der deutschen Straßenmeisterin Liane Lippert etwas besser aus. Doch käme es einer Sensation gleich, wenn Lippert im Kampf um die vorderen Plätze tatsächlich würde eingreifen können, was in gleichem Maße auch für ihre Kolleginnen Mieke Kröger, Romy Kasper, Lea Lin Teutenberg, Franziska Koch und Ricarda Bauernfeind gilt. Der erste Wettkampftag am 18. September bietet gleich ein Novum. Weil erstmals im professionellen Einzelzeitfahren Damen und Herren die gleiche Strecke am gleichen Tag bewältigen müssen. „Das ist eine Premiere in der Geschichte der UCI-Straßenweltmeisterschaften", so der ausrichtende Weltverband, „und steht im Einklang mit der Priorität der UCI, die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern." Die Streckenlänge des durch das Zentrum von Wollongong führenden Kurses beträgt 34,2 Kilometer. Der Parcours ist zwar völlig eben, aber durch die Vielzahl von Kurven technisch sehr anspruchsvoll. Bei den Männern gibt es im Kampf gegen die Uhr eine ganze Reihe von Titelanwärtern, obwohl der belgische Zeitfahrkünstler Wout Van Aert freiwillig auf einen Start verzichtet hat. Er musste sich in den vergangenen beiden Jahren jeweils mit der Silbermedaille begnügen und sich dabei jeweils dem Italiener Filippo Ganna geschlagen geben.
Eine weitere Niederlage wollte sich Van Aert auch mit Blick auf das folgende Straßenrennen nicht antun. „Das ist ein mentales Ding", so der belgische Teamchef Sven Vanthourenhout: „Wenn Wout im Zeitfahren startet, lädt er viel Druck auf seine Schultern. Denn für einen Fahrer wie ihn ist nur das allerbeste Ergebnis gut genug. Für jemand anderen kann eine Silbermedaille fantastisch sein, aber nicht für ihn." Van Aerts belgischen Teamkollegen Remco Evenepoel wird es freuen, weil dadurch seine eigenen Siegchancen deutlich steigen dürften. Seine Topverfassung in dieser Disziplin hatte Evenepoel erst jüngst bei seinem Triumph im Einzelzeitfahren bei der von ihm dominierten Spanien-Rundfahrt bestätigen können. Aber Titelverteidiger Filippo Ganna ist schon eine harte Nuss. Und dann gibt es ja auch noch die starken Schweizer Stefan Küng und Stefan Bissegger, den Niederländer Bauke Mollema, den Briten Ethan Hayter oder auch den belgischen Landsmann Yves Lampaert. Ein sicherer Siegestipp im Herren-Einzelzeit-Fahren ist daher kaum möglich. Bei den Profi-Damen sieht es da schon anders aus. Weil die Niederländerinnen hier seit einigen Jahren das Maß der Dinge sind. Offen dürfte nur sein, welche von ihnen den obersten Platz des Podiums besteigen wird. Zur Wahl stehen die Titelverteidigerin Ellen van Dijk oder ihre teaminterne Hauptkonkurrentin Annemiek van Vleuten.
Van Aert meidet das Duell mit Ganna
Gewisse Siegchancen werden aber auch der Belgierin Lotte Kopecky oder der Schweizerin Marlen Reusser eingeräumt. Mit der auf den 21. September terminierten Mixed-Staffel bietet sich den Profis vor den wichtigsten Straßenrennen die nächste Chance auf Medaillen und Regenbogentrikots. In diesem Wettbewerb ist Deutschland zwar amtierender Titelträger, doch 2021 waren dafür noch Lisa Brennauer oder Toni Martin mitverantwortlich gewesen. In Australien werden sich wohl die Niederlande, Belgien oder Dänemark um den Sieg streiten, dürfte letztlich davon abhängig sein, welcher der Stars sich die Zusatzbelastung antun möchte. Wenn die Niederlande tatsächlich mit den gemeldeten van Dijk, van Vleuten, Mollema und Mathieu van der Poel an den Start gehen sollten, dürfte ihnen kein Kraut gewachsen sein.
Einen Tag vor den Herren werden die Damen am 24. September den Titelkampf im Straßenrennen aufnehmen. Wobei sich die extrem anspruchsvolle Streckenführung teilweise mit dem männlichen Kurs überschneidet, das Rennen mit 164,3 Kilometern aber doch etwas kürzer ist und auch mit zu bewältigenden 2.433 Höhenmetern etwas weniger Kletterkünste erfordert. Was hauptsächlich damit zusammenhängt, dass die Damen den Stadtkurs im zweiten Teil der Strecke mit dem 1,1 Kilometer langen, durchschnittlich 7,7 Prozent und in Spitzen sogar 14 Prozent Steigung aufweisenden Mount Pleasant nur sechsmal überqueren müssen, während die Herren das Hindernis gleich zwölfmal bewältigen müssen. Auf diesem beinharten Kurs, der nach dem Start in der nördlich von Wollongong gelegenen Stadt Helensburgh zunächst rund 40 Kilometer einschließlich mehrerer Anstiege in südlicher Richtung entlang der Küste führt, wobei der Mount Keira mit einer Länge von neun Kilometern, durchschnittlich 5,7 Prozent Steigung und Spitzen von bis 15 Prozent eine frühe Herausforderung für das Feld darstellen wird, wird sich wohl schnell die Spreu vom Weizen trennen. Nur wenn sich in der niederländischen Phalanx Unstimmigkeiten oder Neidereien einstellen sollten, werden Fahrerinnen aus anderen Nationen eine Chance bekommen. Ansonsten sollte die Siegerin wohl aus dem Oranje-Team kommen: Annemiek van Vleuten, Marianne Voss, Ellen van Dijk oder Demi Vollering. Aber vielleicht können doch die Belgierin Lotte Kopecky, die beiden Schweizerinnen Elise Chabbey und Marlen Reusser sowie an einem guten Tag auch Liane Lippert für eine Überraschung sorgen.
Oranje dominiert bei den Frauen
Am letzten WM-Tag steht am 25. September mit dem Herren-Profi-Straßenrennen über lange 266,9 Kilometer mit 3.945 zu bewältigenden Höhenmetern (fast schon vergleichbar mit Bergetappen der großen Rundfahrten) die Königsdisziplin an. Die Entscheidung wird spätestens nach der letzten Passage des Mount Pleasant fallen. Auch wenn es danach noch rund acht Kilometer bis zum Ziel sind, und es daher womöglich sogar zu einem harten Finale zwischen den besten Allroundern kommen könnte. Reine Sprinter dürften dabei keine Rolle mehr spielen, die Klassiker-Spezialisten werden unter sich sein. Mit dem Belgier Wout Van Aert als absolutem Topfavoriten, der den Kurs mit dem Amstel Gold Race verglichen hatte und der sich Ende August 2022 bei seinem Sieg im Rahmen der schweren Bretagne Classics in Topverfassung präsentiert hatte. Wo übrigens auch Tadej Pogačar die Vorbereitung für die WM nach langer Wettkampf-Pause aufgenommen und mit Rang 89 enttäuschend abgeschnitten hatte. Kaum zu erwarten, dass der Slowene noch in Sieg-Form kommen wird. Ebenso ungewiss ist, ob der französische Titelverteidiger Julian Alaphilippe nach seinem Sturz bei der jüngsten Spanien-Rundfahrt noch rechtzeitig fit werden wird, obwohl ihm der WM-Kurs eigentlich sehr zusagen dürfte. Was auch für den Belgier Remco Evenepoel, den Niederländer Mathieu van der Poel, den Briten Ethan Hayter (sein Landsmann Tom Pidcock hatte ebenso wie der spanische Altmeister Alejandro Valverde die Teilnahme abgesagt) oder den australischen Lokalmatador und Giro-Gewinner Jai Hindley gelten dürfte (auch wenn die Australier wahrscheinlich alle Karten auf Michael Matthews setzen werden).