Tyson Fury ist derzeit die Schlüsselfigur im Schwergewichtsboxen. Ein Duell zwischen ihm und Anthony Joshua oder Oleksandr Ussyk würde die Massen elektrisieren. Doch darauf müssen die Fans weiter warten, der Brite verteidigt seinen Titel zunächst gegen einen alten Bekannten.
Mahmoud Charr hat schon reichlich folgenschwere und skurrile Auftritte hingelegt. Der Boxprofi kam mit dem Gesetz in Konflikt: Er wurde selbst in einem Döner-Imbiss angeschossen und dabei schwer verletzt. Er log bezüglich seiner Staatszugehörigkeit. Er änderte seinen Vornamen von „Manuel“ in „Mahmoud“. Er erhöhte in der TV-Show „Promi Big Brother“ den Fremdschäm-Faktor und und und. Doch diese Nummer war selbst für seine Verhältnisse verrückt. In einem Video für seinen Instagram-Account spazierte Charr nur in roter Badehose gekleidet durch einen Garten, doch am Ende der Leine, die er in seiner rechten Hand hielt, war nicht etwa ein Hund befestigt – sondern ein weißer Löwe. Mit dem wilden Tier lief er scheinbar gelassen herum. Im Text neben dem Video verriet er auch, was es damit auf sich hatte: „Der Löwe ist hungrig. Ich komme nach England und ich will dich, du lange Giraffe.“
Wer damit gemeint war, zeigte der in dem Text verlinkte Name: Tyson Fury. „Unterschreib’ endlich den Vertrag und zeig’ der Welt, dass du der Gypsy King bist und bereit bist, gegen den arabischen König zu kämpfen“, schrieb Charr weiter. Der Wahl-Kölner mit syrisch-libanesischen Wurzeln hatte so sehr auf einen WM-Kampf gegen den britischen WBC-Weltmeister gehofft. Fury selbst hatte den früheren Gegner von Vitali Klitschko als nächsten Gegner ins Spiel gebracht. Nachdem der in der Szene herbeigesehnte Mega-Fight zwischen Fury und Ex-Weltmeister Anthony Joshua endgültig geplatzt war, schrieb Fury in einer Instagram-Story: „Ich freue mich darauf, gegen einen Mann zu kämpfen, der kämpfen will und Feuer und Verlangen hat.“ Das sei eine „gute Entscheidung“, antwortete Charr darauf, „Bruder, wir werden unseren Fans die beste Show liefern.“
Doch Charr freute sich zu früh. Der „Diamond Boy“ schien nie wirklich in den Planungen des Fury-Lagers eine ernsthafte Rolle gespielt zu haben. Dafür ist der Linksausleger auf der Insel viel zu unbekannt, außerdem hätte der Kampf auch sportlich betrachtet so gut wie keinen Reiz gehabt. Charr bestritt nur zwei Profikämpfe in den vergangenen fünf Jahren, hinter seiner Form stehen gleich mehrere Fragezeichen. Da er beim Weltverband WBC auch nicht mehr unter den Top 15 rangiert, fiel zudem ein Kriterium für die freiwillige Titelverteidigung des Weltmeisters weg. Stattdessen steigt Fury am 3. Dezember in London gegen Landsmann Dereck Chisora in den Ring. Das dritte Duell der beiden Briten ist aber auch nur eine Notlösung, schließlich hatte Fury den iN Simbabwe geborenen Boxer bereits zweimal besiegt: 2011 einstimmig nach Punkten und 2014 durch eine Aufgabe Chisoras.
„Wir haben gekämpft, um einen Gegner zu finden. Jetzt haben wir den am höchsten gesetzten Gegner – und das ist Derek Chisora“ – selbst aus den Worten von Furys Promoter Frank Warren lässt sich keine große Vorfreude ableiten. Keine Frage: Die Enttäuschung über das nicht zustande gekommene Topduell Fury vs. Joshua ist groß. „Ich denke, es wäre eine absolute Farce, wenn wir in dieser Ära nicht kämpfen würden“, sagte Fury. „Ich kann nicht aufhören“, ergänzte der 34-Jährige, „denn ich muss gegen Joshua kämpfen. Wir versuchen seit Jahren, diesen Fight klarzumachen.“
Joshua ging Fury lieber aus dem Weg
So dicht vor dem Abschluss wie im vergangenen Spätsommer stand das „Battle of Britain“ aber noch nie. „Wenn Du interessiert bist, schicke ich Dir einen Termin, und wir treten gegeneinander an“ – mit diesen Worten hatte Fury seinen ein Jahr jüngeren Konkurrenten in einem Instagram-Video herausgefordert. Und Joshua war interessiert, so viel steht fest. Nach zwei Niederlagen gegen den dreifachen Weltmeister Oleksandr Ussyk aus der Ukraine ist der Modellathlet nicht mehr die allergrößte Nummer im Profiboxen, Fury als Gegner ist plötzlich reizvoll. Es bestand angeblich eine mündliche Vereinbarung zwischen den Managements, das Fury-Lager frohlockte bereits, dass „alle Bedingungen“ von der anderen Seite akzeptiert worden seien.
Auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft, als manche Experten gar von einer ähnlich dominanten Ära wie bei den Klitschko-Brüdern ausgegangen waren, ging Joshua seinem Landsmann Fury lieber aus dem Weg. Der selbst ernannte Gypsy King ist mit seinem unkonventionellen Boxstil ein unangenehmer Gegner, vor allem für einen technisch eher eindimensionalen Fighter wie Joshua. Vielleicht machte der frühere Weltmeister auch aus Angst vor einer erneuten Niederlage, die vielleicht schon sein Karriereende bedeuten könnte, im letzten Moment doch noch einen Rückzieher. Das jedenfalls glaubt Fury, der seinen Frust über den geplatzten Kampf in einem Video voller Beschimpfungen freien Lauf ließ. „Idiot! Feigling! Scheißhaus! Bodybuilder! Ich wusste es immer, du bist nicht Manns genug, um gegen den Gypsy King zu kämpfen“, schimpfte Fury über Joshua: „Was du jetzt sagst, interessiert mich nicht. Viel Glück für deine Karriere und dein Leben.“ Schon vorher hatte der WBC-Champion betont, „nicht ewig auf diesen Kerl warten“ zu wollen, „der drei seiner letzten fünf Kämpfe verloren“ habe. „Er hat schon Glück, dass ich ihm eine Weltmeisterschafts-Chance biete.“
Fakt ist: Das Joshua-Lager war von Tysons Ballyhoo und der Deadline für die Vertragsunterschrift genervt. Promoter Eddie Hearn deutete gar an, Fury sei nie wirklich an einem Duell gegen Joshua interessiert gewesen, sondern habe aus dem ganzen Theater nur Profit schlagen wollen. Denn an dem Tag, „als wir unsere finale Version des Vertrags zurückgeschickt haben, hat er bekannt gegeben, dass der Kampf geplatzt ist“, behauptete Hearn: „Das Einzige, was ich uns ankreiden kann, ist, dass wir nicht wissen, wo wir stehen. In einer Minute steht der Kampf, in der nächsten wird er abgesagt. In der einen Minute ist er zurückgetreten, in der nächsten kämpft er gegen Mahmoud Charr.“
Nun aber kämpft Fury gegen Chisora. Eigentlich wollte der WBC-Champion gar nicht mehr in den Ring steigen, in den letzten Jahren hat er gleich mehrfach öffentlich seinen Rücktritt erklärt. Zuletzt an seinem Geburtstag am 12. August. „Ein großes Dankeschön an alle, die im Laufe der Jahre an meiner Karriere mitgewirkt haben. Nach langen, harten Gesprächen habe ich mich schließlich entschlossen zu gehen und zu meinem 34. Geburtstag sage ich: „Gute Reise“, schrieb Fury in den sozialen Medien. Doch in der Boxszene wurden seine Ankündigungen kaum ernst genommen, denn alle wissen: Fury, der in der Vergangenheit für reichlich Skandale, erschütternde Enthüllungen und bizarre Auftritte gesorgte hatte, braucht das Rampenlicht. Er braucht die große Bühne, er braucht das Adrenalin. Und so brachte er sich vor dem Duell gegen den 38-jährigen Chisora verbal schon mal in Stimmung: „Schade für ihn, dass ich ihm heftig die Zähne einschlagen muss.“
„Er weiß, was im Ring zu tun ist“
Klar ist, dass Fury nicht mit einem Kampf gegen Chisora, der seine beste Zeit bereits hinter sich hat, abtritt. In den letzten fünf Jahren sei „ein dreiköpfiges Monster“ in seinem Kopf herumgespukt, sagte Fury zuletzt, „ich, Wilder, Joshua“. Die letzteren beiden seien „getötet“ worden, „ich bin der Letzte, der noch steht“. Das ist nicht ganz richtig, denn der im Moment größte Champion im Schwergewicht ist ein anderer: Oleksandr Ussyk. Der Ukrainer hält die WM-Gürtel der Boxverbände IBF, WBA und WBO. Er hat Joshua in zwei Titelkämpfen besiegt, im ersten Duell sogar gedemütigt. Will Fury wirklich beweisen, dass er die Nummer eins im Schwergewichtsboxen ist, muss er jenen Ussyk in die Knie zwingen. „Jetzt gibt es eine Menge neues Blut, das vor fünf Jahren noch nicht da war“, sagte Fury, „und ich frage mich: ‚Kannst du diese Person schlagen?‘“
Alles nur Gerede – behauptet Ussyk. „Im Moment ist es lächerlich“, sagte der 35-Jährige über die dritte Ansetzung von Fury gegen Chisora: „Warum tut er das? Ich habe gedacht, wir waren uns über einen Kampf einig, und nun läuft er weg und sagt, dass ich nicht kämpfen will. Ich weiß, dass er Angst vor mir hat.“ Furys gepfefferte Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Ich bin mir sicher, dass ich ihn in vier Runden zerschmettern werde.“ Insider sind sich einig, dass der Vereinigungskampf zustande kommen könnte, wenn beide Weltmeister den Mut haben, ihre WM-Titel zu riskieren. Öffentlich behaupten sie dies zu jeder Gelegenheit, doch die Verhandlungen stocken. Es gibt Spekulationen über einen Zeitpunkt Ende Februar oder Anfang März. Saudi-Arabien soll mit vielen Millionen Dollar locken, um sich die Gastgeber-Rolle des aktuell größten Prestigekampfes zu sichern.
„Er ist gefährlich“, sagte Ussyk über Fury, „er ist ein Riese, er ist sehr schlau, er weiß, was er im Ring tun muss.“ Trotzdem ist der Ukrainer, der sich angesichts des russischen Angriffskrieges auch als sportlicher Botschafter seiner gebeutelten Heimat sieht, heiß auf den Briten: „Ich will diesen Kampf, wir müssen alle Titel vereinen.“ Ein Boxer, der die Gürtel der vier wichtigsten Verbände WBA, WBO, IBF und WBC auf sich vereint, wird als „Undisputed Champion“ bezeichnet, als unumstrittener Weltmeister. Im Schwergewicht gelang das noch niemandem, der Amerikaner Riddick Bowe war zwar in allen vier Verbänden die Nummer eins – aber nicht zur gleichen Zeit. Ussyk gelang das Kunststück zwar, allerdings im Cruisergewicht eine Gewichtsklasse tiefer.
Fury vs. Ussyk? Oder Fury vs. Joshua? Die Chancen stehen gut, dass 2023 einer dieser beiden Mega-Kämpfe zustande kommt. Denn viele Jahre haben die alternden Boxer dafür nicht mehr – und das Interesse nimmt auch eher ab als zu. Doch zunächst muss Fury seine Pflichtaufgabe Chisora lösen.