Fünf Jahre nach dem Ende der Gothic-Rocker HIM präsentiert deren ehemaliger Frontmann sein Solodebüt „Neon Noir“. Wir sprachen mit Ville Valo (47) über Melancholie als Triebkraft und Finnlands Nachbarn Russland.
Herr Valo, Finnland gehörte zu den Ländern mit den strengsten Corona-Einreiseregelungen. Wie sind Sie als Finne zurechtgekommen?
Weltweit war es für alle ziemlich hart, aber hier war es nicht so streng wie zum Beispiel in Frankreich, wo man mit einem Bußgeld belegt wurde, wenn man nachts auf die Straße ging. Ziemlich verrückt! Die Estländer, unsere Nachbarn, scherzten, sie können es kaum erwarten, die zwei Meter Abstand zu einer Person abzuschaffen und zu den üblichen vier Metern zurückzukehren. So sind wir Finnen auch. Menschen in diesem Teil der Welt genießen ihre Einsamkeit. Natürlich war es seltsam, denn während des Lockdowns konnte ich meine Eltern nicht sehen. Eine Pandemie ist ziemlich deprimierend für Künstler, die ihre Arbeit für längere Zeit verlieren. Es ist übrigens ein interessantes Gefühl, sich vom Einsiedlerdasein der Pandemiezeit zu verabschieden und so langsam wieder in die reale Welt mit echten Menschen hineinzugleiten.
Sie haben sich zwei Jahre lang in Ihrem eigenen Studio eingesperrt und jedes Instrument auf Ihrem Solodebüt „Neo Noir“ selbst gespielt. Brachte das Struktur in den Alltag?
Ich bin ein Mensch, der Deadlines braucht, etwas, worauf er sich fokussieren kann. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich so lange in einer Band war. Bands haben immer einen Zeitplan für die kommenden eineinhalb Jahre. Als die Coronaseuche ausbrach und niemand etwas über die Zukunft wusste, wurde es für Bands sehr schwer zu funktionieren, weil es keine Struktur mehr gab. Ich musste mir also etwas einfallen lassen. Ich glaube, die Musik hat mir einmal mehr das Leben gerettet. Menschen wie ich versuchen immer, aus dem Negativen das Positive zu machen. Das hat es mir ermöglicht, mich voll und ganz auf die Aufnahme meines ersten Soloalbums zu konzentrieren. Ich habe versucht, im Angesicht der Pandemie ruhig und gelassen zu bleiben und an der Musik zu arbeiten.
2017 hat sich Ihre langjährige, weltweit erfolgreiche Band HIM aufgelöst. Haben Sie sich damals ausgebrannt gefühlt?
Ehrlich gesagt fühlte ich mich mehr oder weniger seit dem Jahr 2000 ausgebrannt. Natürlich war ich traurig und wehmütig wegen des Band-Splits. Vielleicht auch ein bisschen besorgt darüber, was danach passieren wird. Aber bereits am ersten Tag nach unserem Abschiedskonzert hatte ich das Gefühl, dass eine Last von meinen Schultern gefallen ist. Zu dieser Zeit hatte ich keine Ahnung, ob es jemals neue Musik von mir geben würde. Aber die findet eigentlich immer ihren Weg zu mir. Das ist ja nichts, was man erzwingen kann. Für mich ist das Wichtigste, mein Leben zu leben und zu versuchen, neue Dinge zu erfahren. Und dann kommt die Musik nach einer Weile automatisch. Es ist wichtig, dass man bei einer Platte das Gefühl hat, alles gegeben zu haben. Ich bin ein bisschen ein Drama-King. Meine Sachen müssen extreme Schattierungen von Hell und Dunkel haben und nicht viel dazwischen. Ich war schon immer ein launischer Bastard.
Sind Sie heute kein bisschen nahÂbarer als früher?
Ich glaube, ich war schon immer zugänglich. Ich treffe gern Leute. Aber wenn ich allein bin, werde ich zum Einsiedler. Normalerweise bin ich nicht so sehr in Kontakt mit der Welt und lebe in meinen Tagträumen. Das ist ein Überlebensmechanismus. Wenn ich mit meiner eigenen Band auf Tournee bin, gibt es aber ein Wiedersehen nach dem anderen mit Freunden auf der ganzen Welt. Es wird verdammt nostalgisch sein und drunter und drüber gehen.
Sind Sie heute – in Ihrer mittleren Lebensphase – ein gesund lebender, durchtrainierter Mann?
(lacht) Mittleres Alter – das ist eine interessante Sichtweise! Ich bin heute viel gesünder, zumindest körperlich gesehen. Ich habe auch mit meiner Mutter über das Älterwerden gesprochen. Wir haben ähnliche Gedanken und den gleichen Sinn für Humor. Auch wenn man ein bisschen weiser wird, heißt das nicht, dass man seinen kindlichen Sinn für Albernheiten verliert. Der ganze Alterungsprozess ist ja ein schmaler Grat. Ja, ich versuche, mich ein bisschen besser zu benehmen.
Was heißt das?
Ich habe schon lange nicht mehr den Rock‘n‘Roll-Lebensstil gelebt, weil ich irgendwann gemerkt habe, dass ich entweder nur Musiker und Songschreiber oder nur Alkoholiker sein kann. Ich kann keinen gesunden Mittelweg finden. Denn ich mag meinen Drink und das Leben in einer Bar zu sehr. Ich fand mich irgendwann in einer Situation wieder, in der ich nicht mehr beides tun konnte. Also habe ich mich für eines entschieden. Musik ist für mich ein bisschen spezieller als Bier. (lacht)
Kann eine Bar ein inspirierender Ort sein?
Ja, sie kann etwas Besonderes sein. Zumindest gibt es in Berlin noch einige Bars, in denen man rauchen darf. Früher konnte man alleine in eine Kneipe gehen und dort stundenlang mit dem Barkeeper quatschen. Sich hinsetzen, eine Zigarette rauchen, Lebensgeschichten erzählen. Das ist eine tolle Art der Kommunikation. Es gibt nichts Ernsteres, es ist wie ein vorbeifahrendes Schiff in der Nacht. Das ist etwas wirklich Schönes, und man lernt dabei Dinge, die man nie in einer Zeitung oder so erfahren würde. Ich bin heute froh, dass ich das für eine lange Zeit zu meiner Leidenschaft und meinem Hobby gemacht hatte. Aber wenn Alkohol im Spiel ist und man feiert und die Hände zittern stark, ist es schwer, Gitarre zu spielen. Es ist auch schwer zu singen, wenn man sich auskotzen muss und die Stimme heiser ist. Ich kenne einige Leute, die beides können, aber ich bin nicht gut im Multitasking.
Wie viel haben Sie zu Ihren Hochzeiten getrunken?
Ich war kein Typ, der sich jeden Tag eine Flasche Wodka genehmigt hat. Ich habe vielleicht 15 Jahre lang fünf bis 15 Pints fast täglich getrunken. Ich ging nicht so oft in Rockclubs oder hippe Bars. Mich faszinierten eher diese alten, ranzigen Bukowski-Spelunken. Ich liebte diese Welt.
Die Grundstimmung auf Ihrem Album „Neon Noir“ ist düster. Ist das ein Ausdruck von Sorge? Und was genau macht Ihnen Sorgen?
Vielleicht sorge ich mich ja um das Wohl der gesamten Menschheit, um unsere Spezies. Es gibt so viele Dinge, über die man traurig sein kann. Aber es gibt auch eine hoffnungsfrohe, schöne Düsternis mit dem Beigeschmack von Nostalgie und Wehmut. Dieses schöne Gefühl der bittersüßen Melancholie steht im Gegensatz zur Depression über den Klimawandel oder die Situation in der Welt. Es gibt so viele Dinge, über die man wirklich traurig sein kann. Und das war schon immer so. Für mich ist Musik eine Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen. Die Welt, in die ich eintauche, wenn es mir schlecht geht, ist eine traumhafte wie in David Lynchs TV-Serie „Twin Peaks“. Ich hoffe, das kommt in meiner Musik auch rüber.
In knapp acht Jahren will Finnlands Hauptstadt Helsinki klimaneutral sein. Gibt Ihnen das Hoffnung?
Ich halte es für wichtig, dass sich die Menschen heutzutage so gut wie möglich informieren, denn es gibt eine große Übersättigung an Nachrichten und so viele Dinge, um die wir uns kümmern sollten. Die Menschen brauchen Rat. Helsinki und unsere Ministerpräsidentin Sanna Marin setzen sich für sie ein. Das ist großartig. Ich glaube nicht, dass wir dem Planeten gegenüber fair sind, denn er hat uns bisher recht gut behandelt. Wir hingegen haben ihn nicht gerade freundlich behandelt. Jetzt merken wir, dass wir es viel besser hätten machen können. Die Zeit läuft uns davon, also ist es ein guter Zeitpunkt, etwas zu tun. Hoffentlich werden wir auch in der Zukunft einen Ort haben, an dem wir leben können. Das ist jetzt natürlich eine sehr optimische Weltsicht. Das hängt bei mir immer von der Tagesverfassung ab.
Heute sind Sie jedenfalls Optimist.
Ich bin fast mein ganzes Leben lang Vegetarier. Vegane Lebensmittel werden immer häufiger angeboten, die Menschen machen sich mehr Gedanken über das Tierwohl. Das ist großartig. Niemand will sich schlecht fühlen, verletzt werden oder in Sklaverei aufwachsen. Das ist nicht respektvoll dem Leben gegenüber. In Finnland haben wir eine Regierungschefin, in Amerika gab es den farbigen Präsidenten Obama – die Welt verändert sich zum Positiven, aber langsam.
Finnland hat einen gefährlichen Nachbarn: Russland. Deshalb will es Hunderte Kilometer der Grenze zu Russland mit einem hohen Zaun schützen. Wie fühlt es sich an, in diesen Zeiten in Finnland zu leben?
Für einen Moment dachte ich, Donald Trump zieht nach Finnland, als ich hörte, dass sie über den Bau einer Mauer sprechen. Für mich als Musiker ist das sehr schade. Ich hatte gehofft, mit meinem Soloalbum auch in Kyjiw und ein paar Orten in Russland spielen zu können. Mit HIM hatten wir vor allem in Russland viel Spaß. Das Publikum dort ist fantastisch. Wahrscheinlich haben diese Leute gerade nicht die beste Zeit ihres Lebens. Es ist ziemlich verwirrend, aber nichts Neues.
In der Geschichte zwischen Russland und Finnland gab es viele Feindseligkeiten. Wir haben aber versucht, Zäune abzureißen und keine neuen zu errichten. Ich bin selbst kein Politiker und nicht qualifiziert, politische Stellungnahmen abzugeben. Aber als Musiker und Mensch hoffe ich, dass diese Dinge bald besser werden. Abgesehen von dem Ukraine-Krieg haben viele Russen nicht die Möglichkeit, so zu leben, wie sie es eigentlich sollten. Sie sollten Redefreiheit haben und lieben dürfen, wen sie wollen. Dass dem nicht so ist, ist ziemlich traurig. Aber vieles ist auch kulturell bedingt. Man kann ja nicht den Samen oben in Lappland sagen, sie sollten jetzt gefälligst Veganer werden. Die leben ja seit Zehntausenden von Jahren von der Rentierjagd. Ich glaube, HIM-Fans in Russland würden es lieben, wenn ich dort wieder auftreten würde. Drücken wir die Daumen, dass es wieder möglich sein wird.
Sind Sie wegen Ihrer ersten Solo-Tour eigentlich nervös?
Ich werde wahrscheinlich kotzen und mir in die Hose scheißen auf dieser Tour, es ist aber eine positive Aufregung. Ich bin auf der Bühne immer nervös, man braucht diese Schmetterlinge im Bauch auch. Es bedeutet ja, dass man wirklich für das brennt, was man da tut.
Wie präsentieren Sie die alten HIM-Hymnen live?
Die Setlist ist etwa fifty-fifty. Ich weiß, dass eine Menge Leute nicht nur meine neuen Songs hören wollen. Die HIM-Stücke sind für mich persönlich auch sehr wichtig; auf einer künstlerischen Ebene sowieso. Das war ja mein Leben in den letzten 25, 30 Jahren.
Wir spielen sie sehr respektvoll gegenüber den Originalen. Ich hoffe, wir können ihnen eine andere Perspektive und das Flair von meinem Soloalbum verleihen. Für mich ist es wirklich sehr schön zu sehen, wie ein 25 Jahre alter Song wie „When Love and Death embrace“ zu meinen Solosachen passt.
Ich habe neue Ideen und Inspirationen, aber der Kern hat noch denselben augenzwinkernden, melancholisch-düsteren Finnisch-Vibe.