Unsere Autorin hat den Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar des vergangenen Jahres miterlebt. Zwei Tage später wurde sie evakuiert.
Als ich erwachte, war es gespenstisch ruhig. Normalerweise fuhren morgens um 7.30 Uhr vor meinem Wohnblock die letzten Autos weg und der Lärm einer nahen Großbaustelle begann. Ich sah aus dem Fenster und wunderte mich, dass der Parkplatz leer war. Noch dachte ich mir nichts dabei.
Es war der Morgen des 24. Februar 2022 in Chernivtsi, Westukraine. Die Hauptstadt der Region Bukowina ist auch als Czernowitz bekannt. Ich arbeitete als Beobachterin für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Täglich hatten wir um 9 Uhr eine kurze Online-Zusammenkunft, bevor wir im Büro in der Innenstadt unsere Arbeit begannen und auf Patrouille fuhren.
Ich saß zu Hause vor meinem Laptop und sah zu, wie sich alle Kolleginnen und Kollegen zuschalteten. Normalerweise ähnelten sich diese Briefings mit der Aussage, dass unser Einsatzgebiet ruhig und sicher sei und wir mit der Arbeit beginnen könnten. Diesmal jedoch sah ich unseren nationalen Sicherheitsberater mit ernster Miene hinter seinem Schreibtisch sitzen. „Vor vier Stunden hat der Krieg begonnen.“ Wir erfuhren, dass Kyjiw am frühen Morgen von mehreren Explosionen erschüttert worden war.
Keiner von uns sagte ein Wort. Weniger als drei Monate vorher war ich noch selbst in der Hauptstadt gewesen. Ich klappte den Laptop zu und machte mich auf den Weg hinunter in die Stadt. Der Krieg war nicht einmal 400 Kilometer von uns entfernt. Es war ein sonniger Vorfrühlingstag, als ich von den Hügeln, auf denen mein Appartement lag, durch den Shevchenko-Park hindurch und vorbei an der orthodoxen Kirche lief. Ich erreichte die herausgeputzte Kobylianska-Straße mit dem jüdischen Kulturzentrum, den vielen Cafés und Restaurants und den prachtvollen habsburgischen Bauten. Diese stammen noch aus der Zeit, als Czernowitz zu Österreich-Ungarn gehörte. Zum wiederholten Male fiel mein Blick auf die Inschrift an der Hausmauer, die erzählt, dass Rose Ausländer und Paul Celan sowie viele andere Schriftsteller und Dichter in Czernowitz geboren und aufgewachsen sind. Noch heute atmet die Stadt Kultur und Historie. Ich nahm die Abkürzung hinunter zum Rathausplatz und vorbei am Gefallenen-Denkmal und traf schließlich im Büro meine Kolleginnen und Kollegen mit sorgenvollen Gesichtern an.
„Beim Aufwachen gespenstische Stille“
Niemand von uns – nicht einmal unser nationaler Sicherheitsberater – hatte mit diesem überraschenden Kriegsausbruch gerechnet. Obwohl schon zehn Tage vorher Amerikaner und Briten ihr Personal aus Sicherheitsgründen aus der Mission abgezogen hatten. Damals mussten unsere US-Kollegen innerhalb von 24 Stunden das Land verlassen, nahmen nur das Nötigste mit. Seitdem wuchs auch unsere Anspannung von Tag zu Tag. Zu dieser Zeit bekamen wir ein Funkgerät, das wir mit nach Hause nahmen. Nachrichten über mögliche Strom- und Internetausfälle häuften sich. Wir mussten 24 Stunden täglich erreichbar sein. Für uns Kolleginnen und Kollegen gab es die Vereinbarung, dass wir uns alle zwei Stunden via Anruf oder Whatsapp melden mussten. Falls das nicht geschah, traten Sicherheitsvorkehrungen in Kraft. Unser letzter Melderuf war abends um 23 Uhr, und der erste früh um 8 Uhr. So wussten wir, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohlauf sind. Das Funkgerät hatten wir nachts neben dem Bett stehen. Unser Sicherheitskonzept sah auch vor, so viel Nahrung und Trinkwasser zu bunkern, dass wir damit mindestens eine Woche über die Runden kamen. Auch besorgten wir uns zusätzliche Decken und Steppbetten, um einen möglichen Heizungsausfall zu überbrücken.
Wir trafen uns im Konferenzraum. Unsere lokalen Mitarbeiter starrten unentwegt auf ihre Handys. Natalia hatte Familie in Odessa und war besorgt, dass die Russen über die Krim einmarschieren. Dina weinte, ihre Eltern lebten in Cherson, und sie hörte von ersten Raketeneinschlägen in ihrer Heimatstadt.
„Wir bleiben!“, sagte unser Teamleiter. „Arbeit wie immer!“ Ich war als politische Beobachterin für „Human Dimensions“ eingesetzt. Dieser Begriff umfasste Menschenrechte, Minderheiten, Pressefreiheit, Gender und Religion. Dazu gehörten tägliche Patrouillen, Gespräche mit Betroffenen mithilfe unserer nationalen Übersetzer und Faktensicherung. Täglich schickten wir unsere Berichte nach Kyjiw. Von dort aus wurden sie nach Wien übermittelt, dem Hauptsitz der OSZE, wo sie auf der Homepage für alle einsehbar veröffentlicht wurden. Unsere Arbeit war transparent und wurde lückenlos dokumentiert.
„Die meisten Geschäfte blieben geschlossen“
Täglich fuhren wir zu zweit oder zu dritt in unseren „normalen“ Geländewagen, die anders als im Osten nicht gepanzert waren, in Dörfer und Städte in der Umgebung. Auch mussten wir keine kugelsicheren Westen tragen oder Atemschutzmasken dabei haben wie unsere Kollegen im Donbas. Mehrtägige Dienstreisen in weiter entfernte Gebiete konnten wir aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr durchführen. Wir erfuhren, dass sich an der rund 25 Kilometer entfernten Grenze zu Rumänien Wagenkolonnen stauten. In Czernowitz blieb alles ruhig, die meisten Geschäfte waren zwar geschlossen und vereinzelt sah man Schlangen an den Kassen der Lebensmittelläden, wo man sich durch Hamsterkäufe für das Eventuelle wappnete. Ansonsten war es auf den Straßen gespenstisch still.
Die mittlerweile heftigen Angriffe an der Ostfront, die meine Kollegen in Donezk, Mariupol und Luhansk dokumentierten, waren von uns mehr als 1.000 Kilometer entfernt. Zurück im Büro beratschlagten wir wieder, was zu tun sei. Einige meiner Kollegen wollten raus aus dem Land, die Mehrzahl aber wollte bleiben. Vielleicht sei der Konflikt ja doch nur vorübergehend. Schließlich wurde die Westukraine weder angegriffen noch bedroht, und wir rechneten zu diesem Zeitpunkt auch nicht mit Raketenbeschuss.
Es gab auch immer noch keine offizielle Anordnung unserer Arbeitgeber, die Ukraine zu verlassen. Immer mehr Staaten hatten ihr Botschaftspersonal und im Land verbliebene Touristen aufgefordert, dringend auszureisen. Die OSZE-Beobachter sollten bleiben, denn aufgrund unseres neutralen Status bot unsere Anwesenheit auch einen gewissen Schutz für die Bevölkerung.
Aufgabe der Beobachter an der sogenannten Kontaktlinie im Osten war nicht nur die Überwachung des Abzugs schwerer Waffen nach dem Minsk-Abkommen, sondern auch örtlich und zeitlich begrenzter Waffenstillstandsvereinbarungen, damit zerstörte Infrastruktur repariert und Tausende Menschen auf beiden Seiten wieder mit Wasser, Strom und Wärme versorgt werden konnten. Diese Patrouillen wurden ausnahmslos in gepanzerten Wagen durchgeführt, das Tragen von Helmen und schusssicheren Westen gehörte zur „Dienstkleidung“. Ihre Arbeit war wesentlich gefährlicher als unsere im westlichen Teil des Landes.
Am frühen Morgen des 26. Februar bekamen wir die Anweisung, dass unsere Evakuierung noch am selben Tag durchgeführt werde. Die Nachrichten aus Kyjiw und dem Osten hatten sich dermaßen zugespitzt, dass unsere Sicherheit von Tag zu Tag mehr in Gefahr war. Schon seit Wochen hatten wir unser sogenanntes „Grab Bag“ gepackt, das die wichtigsten Dokumente, Kleidungsstücke, Medikamente, Waschutensilien et cetera enthielt, also alles, das man für eine überstürzte „Flucht“ benötigt. Bis zu 15 Kilo durfte jeder von uns mitnehmen. Nicht viel, wenn man bedenkt, dass wir alle einen Hausstand vor Ort hatten.
„Zwei Tage Wartezeit an der Grenze“
Wir sammelten uns an einem zentralen Punkt in Chernivtsi. Dort warteten wir auf die Wagenkolonne der Kollegen aus Lemberg (Lwiw) und Ivano-Frankivsk, die genau wie wir nach Rumänien, dem nächstgelegenen sicheren Staat, evakuiert werden sollten. Mittlerweile dauerte die Wartezeit an der Grenze zwei Tage. Es war kein Durchkommen mehr möglich.
Doch unser nationaler Sicherheitsberater hatte für uns alles perfekt organisiert: Eine ukrainische Polizeieskorte traf uns kurz vor der Grenze, und mit Blaulicht konnte unsere OSZE-Wagenkolonne ohne Kontrolle auf der linken Spur die Grenze überqueren. Das Ganze dauerte nicht einmal drei Stunden. Dankbar winkten wir unserem ukrainischen Kollegen zu, durch dessen Hilfe die Evakuierung problemlos möglich war. Wir sahen ihm nach, als er seinen Wagen wendete und zurück nach Chernivtsi fuhr – und in eine ungewisse Zukunft.
Unsere Kolleginnen und Kollegen im Osten wurden über Russland oder über die Republik Moldau evakuiert. Tagelanges Fahren durch Kriegsgebiet, Todesangst und komplette Übermüdung waren ihre ständigen Begleiter. Wenige Wochen später bot uns unser Arbeitgeber, das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), an, über das Erlebte in psychologisch begleiteten Sitzungen zu sprechen, es aufzuarbeiten, uns dabei wiederzusehen und auszutauschen.
Fazit: Auf ukrainischer Seite starb eine Kollegin im Kugelhagel. Drei nationale Kollegen, Übersetzer, wurden von russischen Truppen verhaftet. Zwei von ihnen wurden aufgrund ihrer Tätigkeit für die OSZE wegen Spionage und Hochverrat zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Am 31. März 2022 beendete Russland mit seinem Veto die Arbeit der OSZE-Mission in der Ukraine.