In dieser Saison könnten so wenige Treffer wie nie zuvor ausreichend sein, um Torschützenkönig der Fußball-Bundesliga zu werden. Das hat mannigfaltige Gründe.
Dass die Bundesliga in Robert Lewandowski und Erling Haaland zwei der weltweit besten Stürmer verliert, war im vergangenen Sommer schon allen Beobachtern klar. Doch wie groß der Aderlass dieser beiden sein würde, hätte wohl damals kaum jemand in diesem Ausmaß für möglich gehalten.
Der Pole Lewandowski, der in seiner Zeit beim FC Bayern München zuletzt fünfmal hintereinander Torschützenkönig der Bundesliga geworden war und mit 312 Treffern Zweiter der ewigen Bestenliste hinter Gerd Müller (365) ist, führte Mitte Mai mit 21 Treffern die Torschützenliste in Spanien an und hat für den FC Barcelona 31 Treffer in 42 Pflichtspielen erzielt. Noch extremer fällt die Bilanz bei Haaland aus: Der von Borussia Dortmund zu Manchester City gewechselte Norweger hat in 48 Pflichtspielen 52 Tore erzielte. Und lag sowohl in der Schützenliste der Premier League mit 36 Treffern als auch in der der Champions League mit zwölf Toren meilenweit vorne.
Und die Bundesliga? Da droht in 60 Jahren Liga-Geschichte ein Rekord. Ein Minus-Rekord genauer gesagt. Denn in diesem Jahr könnte die Torjäger-Kanone für so wenig Treffer wie noch nie zuvor weggehen. Seine zwölf Champions-League-Treffer hatte Haaland in neun Spielen erzielt. Nicht viel mehr Tore werden nötig sein, um sich am Ende einer gesamten Bundesliga-Saison mit 34 Spielen die Krone aufsetzen zu dürfen.
Am billigsten weg ging die Kanone bisher in den Spielzeiten 1988/89, als Thomas Allofs und Roland Wohlfahrt 17 Treffer genügten, und 1995/96, als Fredi Bobic ebenfalls 17 Tore reichten. Dieser Rekord könnte nun fallen. Einen Spieltag vor Saisonschluss führte der Bremer Niclas Füllkrug das Klassement mit 16 Treffern an, was aber auch auf seine Verletzungspause zurückzuführen ist. Ihm folgten der Freiburger Vincenzo Grifo – nicht einmal Stürmer – und Frankfurts Randal Kolo Muani mit je 14 Toren in dieser Saison.
Dass die Führenden so wenige Treffer auf dem Konto haben, wird noch erschreckender, wenn man bedenkt, dass sie alle auch zeitgleich die Elfmeterschützen ihrer Teams sind. Füllkrug hat nur elf Tore aus dem Spiel heraus erzielt, Kolo Muani zwölf und Grifo gar nur sieben. Zum Vergleich: Im Vorjahr erzielte Lewandowski 30 Tore aus dem Spiel heraus, dazu kamen noch fünf Elfmeter. Leverkusens Patrik Schick brachte es auf 24 Treffer, darunter nur ein Elfmeter. Haaland hatte von seinen 22 Toren sechs per Strafstoß markiert, aber er war verletzungsbedingt auch nur 24-mal zum Einsatz gekommen.
Seit 2002 nur einmal weniger als 20 Tore
Überhaupt waren die Zahlen in den vergangenen Jahren sehr hoch. Vor allem durch Lewandowski, aber nicht nur. Seit 2002 hatten nur einmal weniger als 20 Tore in einer Spielzeit zum Titel gereicht, bei Frankfurts Alex Meier 2014 waren es 19. Dagegen haben in den vergangenen Jahren manchmal selbst überragende Zahlen nicht zur Krone gereicht. 2020 wurde Timo Werner mit 28 Toren nur Zweiter, weil Lewandowski 34-mal getroffen hatte. Ein Jahr darauf hatte André Silva mit seinen 28 Toren unglaubliche 13 Treffer Rückstand auf Lewandowski, der mit 41 Saisontoren den Rekord von Gerd Müller gebrochen hatte. Und 2017 reichten Lewandowski selbst sogar keine 30, weil Dortmunds Pierre-Emerick Aubameyang 31 Tore vorweisen konnte. Es ist also nicht nur in der Spitze ein krasser Absturz. Sondern fast logischerweise auch einer in der Breite.
Einer schaut durchaus auch mit einem lachenden Auge auf die Entwicklung. „Ich bin nicht erpicht darauf, den Rekord für immer zu behalten“, sagte Fredi Bobic, einer der drei Könige mit der 17 mit einem Schmunzeln: „Rekorde sollen ja auch gebrochen werden.“ Bobic, der übrigens damals kein Elfmeter-Tor in der Bilanz hatte, empfand diesen seltsamen Rekord nie als Schande: „Ich habe damals wegen einer Knieoperation nur 26 Spiele gemacht und konnte ja nichts dafür, dass die anderen auch nicht mehr getroffen haben“, sagte er, findet die aktuelle Entwicklung aber auch bedenklich. „Die Bundesliga hat keinen Weltklasse-Stürmer mehr, das muss man so klar sagen.“
Damit wären wir schon bei der Kernfrage: Was sind die Gründe für die Entwicklung in diesem Jahr. Den einen, vielleicht gravierendsten, haben wir mit den Abgängen von Lewandowski und Haaland schon beleuchtet. Aber es gibt noch andere.
Die fehlende Neun in Deutschland
Da hören wir gleich wieder Bobic, ehemaliger Nationalstürmer und Bundesliga-Manager in Stuttgart, Frankfurt und bei der Hertha. „Wir sollten in Deutschland mal wieder echte Neuner ausbilden – und nicht nur falsche Neuner“, sagte dieser: „Diese Entwicklung, dass in den vergangenen Jahren nicht mehr auf echte Mittelstürmer gesetzt wurde, macht sich jetzt bemerkbar.“ Das ist natürlich bei einer Liga nur die halbe Wahrheit. Lewandowski und Haaland sind schließlich auch keine Deutschen. Aber durch eine bestimmte Philosophie ändern sich die Spielweise und auch das Profil potenzieller Neuzugänge. Klassische Neuner haben es hier vielleicht auch schwer, wenn sie von außen kommen. Und zu den Deutschen: Da gibt es viele klassische Stürmer, denen man nachsagt, dass sie gut genug sind für die Zweite Liga, aber nicht gut genug für die erste: Simon Terodde, Marvin Duksch, Sebastian Polter oder Philip Hofmann seien hier genannt, jahrelang auch Füllkrug. Sie alle haben es auch teilweise schon nachgewiesen, dass sie es können. Doch sie werden nicht von den großen Vereinen geholt, weil man ihre technischen Unzulänglichkeiten bemängelt oder ihre Defizite im Kombinationsspiel. So spielen sie bei kleinen Vereinen, die ihre Spielweise nicht auf ihre Mittelstürmer ausrichten und sie auch nicht oft mit Flanken bedienen. Werder hat es in diesem Jahr vorgemacht. Hat Füllkrug und Duksch, wann immer sie fit waren, zusammen spielen lassen und die offensive Ausrichtung gewählt. Das Ergebnis: Beide haben den Durchbruch geschafft – und Werder als Aufsteiger den Klassenerhalt.
Der fehlende Mittelstürmer beim FC Bayern
Normalerweise braucht man für den Favoriten im Rennen um die Torjäger-Kanone gar keinen Namen. Es ist eigentlich immer der Mittelstürmer des FC Bayern. Das Problem: Die Münchner haben nach dem Abgang von Lewandowski gar keinen neuen Neuner geholt. Wohl das Hauptversäumnis und der Hauptgrund, dass die Meisterschaft ausgerechnet im elften Jahr der bayerischen Dauer-Herrschaft in Fußball-Deutschland so spannend wurde wie ewig nicht. Eric Maxim Choupo-Moting, einst eigentlich geholt als Back-up für Lewandowski, der ihm gleichzeitig nicht gefährlich wird, hatte ein ordentliches Zwischenhoch mit acht Toren in acht Spielen. Doch der 34-Jährige ist kein Lewandowski und war zudem einige Male verletzt. „Wir sind es gewöhnt, dass ein Bayern-Spieler die Torschützenliste anführt“, sagte der neue Münchner Trainer Thomas Tuchel, der im gleichen Atemzug auch eine große Baustelle ausmachte: „Die großen Teams, die gerade dominieren, haben natürlich diese verlässliche Nummer neun, die Bayern auch hatte mit einem Robert Lewandowski auf absolutem Weltklasse-Niveau“, sagte er, weiß aber, wie schwer die Suche ist: „Alle suchen diese Neun, jeder will sie haben.“ Klar ist: Auch, wenn Choupo-Moting verlängerte, die Bayern werden sicher einen Neuner holen. Gleichzeitig kurios übrigens: So, wie sich auch die Gesamtzahl der Tore in der Liga kaum verändert hat, gilt das auch für die Gesamtausbeute des FC Bayern. Im Vorjahr waren es nach 32 Spieltagen 93 Tore, in Lewandowskis 41-Tore-Jahr davor 92, aktuell sind es 89.
Verletzungen
Fast alle Anwärter auf die Kanone hatten in dieser Saison mit ihren Problemen zu kämpfen. Allen voran Schick, der nach den 24 Treffern im Vorjahr und Rang zwei noch vor Haaland eigentlich als Lewandowskis Kronprinz auserkoren schien. Doch der Tscheche schlug sich mit ständigen Leistenproblemen herum. Seit September hat er kein Spiel über 90 Minuten absolviert, er brachte es auf ganze drei Saisontore. Christopher Nkunku, aktueller Fußballer des Jahres hierzulande, verpasste neun Spiele komplett und konnte in vielen weiteren nur über kurze Distanz gehen, deshalb hatte er nach 32 Spielen nur 23 Einsätze und 13 Treffer. Choupo-Moting spielte bei den Bayern sogar nur 18-mal und war zehnmal erfolgreich. In Dortmund verpasste der als Haaland-Nachfolger verpflichtete Sébastien Haller wegen seiner Hodenkrebs-Erkrankung den kompletten ersten Saisonabschnitt bis zur WM.
Einige kleinere Gründe
Hinzu kommen viele kleinere Dinge, die etwas in der Statistik ausmachen. Die Taktik haben wir bereits beleuchtet, doch auch die neuerdings fünf Wechsel machen wohl etwas aus. Stürmer werden in der Regel eher vom Feld genommen als Abwehrspieler. Vielleicht spielt letztlich sogar der Videobeweis eine Rolle. Denn beim Abseits funktioniert er sehr gut, und vorher galt die Regel „Im Zweifel für den Stürmer“. Nun sind schon wenige Millimeter „klar Abseits“, und das kostet die klassischen Stürmer, die steil geschickt werden, vielleicht dann doch das eine oder andere Tor über das Jahr gesehen.