Mit einer umfassenden Ausstellung ehrt das Georg Kolbe Museum in Berlin Tilla Durieux und zeichnet dabei auch ein bewegtes Jahrhundert (Theater-)Geschichte nach.
Am Ende der Zusammenschau stößt man auf eine Fernsehaufzeichnung. Im kleinen Kabinett des Untergeschosses spielt Tilla Durieux den Part der Marie Bornemann in Fred Dengers Ein-Personen-Stück „Langusten“. Sie ist darin Reinigungskraft in einem Feinkostladen, deren Chef sie zum 60. Geburtstag mit einer Languste beschenkt. Allein begeht sie in bescheidenem Heim ihren Ehrentag, imaginiert sich Gäste, rechnet mit ihnen ab, steigert sich hysterisch in Schuldgefühle. Eine ganze Stunde zeichnet Durieux mit Stimme, Geste, Körperhaltung das Porträt einer einfachen Frau mit wütenden Ausbrüchen, einer Herbheit und Güte des gefurchten Gesichts, die bisweilen an Käthe Kollwitz erinnert. Bereits 80 Jahre zählt Tilla Durieux da, bringt in die Rolle die ganze Erfahrung und Bandbreite einer langen Schauspielerinkarriere ein. Nichts mehr deutet in dieser volkstheaterhaften, punktgenauen Gestaltung auf die Anfänge als Darstellerin mondäner, extravaganter Figuren etwa antiker oder alttestamentarischer Herkunft hin.
Flucht mit dem Nachtzug nach Prag
Es ist kein besonderes Jubiläum, das den Anlass für die aus Wien übernommene Ausstellung im Georg Kolbe Museum bietet: Sie ehrt schlichtweg eine der großen Heroinen des vergangenen Jahrhunderts und trägt ihrer Bedeutung auch für Berlins Theaterleben Rechnung. Als Ottilie Angela Godeffroy wird sie 1880 in Wien geboren, will entgegen den mütterlichen Absichten früh zum Theater, absolviert eine Schauspielausbildung, muss sich Durieux als Künstlernamen zulegen. Olmütz und Breslau, wo sie ihren Ehemann kennenlernt, werden die ersten Stationen, ehe Max Reinhardt sie ans Deutsche Theater holt. Der Zufall hilft ihr: Als Star Gertrud Eysoldt erkrankt, übernimmt Durieux kurzfristig die Rolle der Salome in Oscar Wildes gleichnamigem Stück und wird mit ihrer sinnlichen Interpretation über Nacht selbst zum Star. Paul Cassirer, einer der großen Kunsthändler jener Ära, wird ihr zweiter Ehemann. Er bringt sie in Kontakt mit „seinen“ Künstlern, von denen viele, ob als Auftrag oder in Faszination von ihrem Spiel, sie in verschiedenen Genres porträtieren. Im Ersten Weltkrieg dient sie als Krankenschwester, geht mit Cassirer vorübergehend ins Schweizer Exil. Im März 1933 flieht sie mit ihrem dritten Ehemann, auch er jüdischer Abstammung, noch vor dem Schlussapplaus der Vorstellung per Nachtzug nach Prag. Ascona, Zagreb, schließlich Opatija, wo das Paar ein Hotel leiten wird, sind weitere Stationen in einer unsteten Zeit. Ihr Mann wird von den Nazis deportiert, sie bleibt in Opatija, verdichtet ihre Erlebnisse zu einem Theaterstück, entwirft, in Handarbeiten geschickt, Kostüme fürs Puppentheater. Zwei ihrer Marionetten zeigt die Ausstellung.
Erst 1952, mit 72, fasst sie zaghaft wieder Fuß im Berliner Theater, kehrt 1955 in die Stadt ihrer frühen Triumphe zurück. Es beginnt die fast zwei Jahrzehnte währende Phase ihrer Alterstriumphe. In Ost und West wird sie gleichermaßen gefeiert, ist in Theater, Funk, TV präsent, gastiert, geht auf Tournee, hält Lesungen und Vorträge, nimmt hohe Ehrungen entgegen und stiftet für besondere schauspielerische Leistungen den alle zehn Jahre weitergereichten Tilla-Durieux-Schmuck, ein edles Art-déco-Collier. 1991, im 90. Lebensjahr, endet eine beeindruckende Reise durch die Welt des Theaters und der Fährnisse nahezu eines ganzen Jahrhunderts. Ihr Grab liegt nahe dem Georg Kolbe Museum, vielleicht ein weiterer Grund für die umfassende Schau im angestammten Künstlerhaus.
Ihr Geschmack seien sie nicht, kommentiert Durieux, was Franz von Stuck an Postkarten aus seinen malerischen Fixierungen ihrer „Circe“ im Münchener Künstlertheater 1912 kommerzialisiert. Und doch geben die teils goldgerahmten Vorlagen mit hochgestecktem Haar, erhobenem Haupt und rotem Mund einen lebhaften Eindruck von der erotischen Rollengestaltung. Dass Durieux als eine der meistporträtierten Aktricen ihrer Ära gilt, davon zeugen zahlreiche Plastiken. August Gaul, eher durch Tierskulpturen bekannt, hält sie in Bronze nackt auf einem Schwein fest. Von Ernst Barlach, dem sich die Schauspielerin zeitlebens verbunden fühlt, stammen 1912 gleich vier Figuren jeweils mit strengem Dutt: so ein Bronzekopf; fein und markant eine Büste; eine Art Herme aus getöntem Gips. Auch eine Illustration und die Plastik eines Buchlesenden, beides in Barlachs bewegter Verarbeitung, scheinen von Durieux inspiriert.
Als repräsentative Büste in weißem Marmor drückt Arnold Rechberg 1917 seine Bewunderung für die Schauspielerin aus; als Lady Macbeth hat sie Mary Duras 1937 in Prag Modell gesessen: mit der lastenden Krone und geblähten Nüstern von starker Wirkung. Ihr erster Mann, Eugen Spiro, malt sie mit Hündchen, strahlend hingelagert auf einem Sofa, dessen Muster effektvoll mit dem des Kleides kontrastiert. Ganz Schönheit ist sie auf der Titelseite der Zeitschrift „Jugend“ als Salome, mit weitem Dekolleté, Perlenschnüre um Haar und Hals. Ganz unterschiedlich sehen sie weitere Künstler in ihren Porträts: Bei Max Slevogt ist sie 1907 lasziv lässig hingestreckte Kleopatra, später bedrohlich schmeichlerische Joseph-Versucherin; bei Lovis Corinth glutvoll spanische Tänzerin im floral applizierten Langkleid. Für andere Sichtweisen auf sie stehen etwa – von ihr weniger gemocht – Oskar Kokoschka, Emil Nolde und in Paris Auguste Renoir. Ein wandhoch reproduziertes Foto zeigt Durieux für damalige Verhältnisse gewagt bauchfrei als Salome.
Als Tänzerin und Darstellerin umjubelt
Sie spielt querbeet Wilde und Wedekind, Shakespeare, Schiller und Strindberg, Calderón de la Barca, Kleist und Gorki, ist die erste deutsche Eliza Doolittle in Shaws „Pygmalion“. Als Tänzerin und Darstellerin gleichermaßen umjubelt wird sie 1921 an der Berliner Staatsoper als Potiphars Weib in „Josephs Legende“ von Richard Strauss, damals von ihm selbst dirigiert. Emil Pirchan stattet das Ballett opulent aus, Emil Orlik zeichnet, Slevogt malt die ausdrucksintensive Protagonistin. Die Potiphar-Gattin empfindet Durieux als eine der interessantesten Rollen, die ihr je angeboten wurden. Auch in die Modefotografie findet sie elegant Eingang, posiert vor Auto, Heißluftballon, Sportflieger, entspricht dem zeitgemäßen Typus der „modernen“ Frau. Dennoch gibt es auch eine andere Tilla Durieux, die sich für Gleichberechtigung einsetzt, in München dem bedrohten Schriftsteller Ernst Toller zur Flucht verhilft, in Berliner Arbeitervierteln Lesungen und Konzerte veranstaltet, dabei Rosa Luxemburg kennenlernt, sie finanziell unterstützt. Später in Zagreb, nach der Flucht aus Deutschland, beteiligt sie sich an der Widerstandsbewegung, hat zuvor den Suizid von Cassirer, danach den Tod ihres dritten Mannes zu verkraften. In der Autobiografie „Eine Tür steht offen“ berichtet sie darüber. Wie sehr sie dann ihre Alterserfolge, auch im Film, und die zahllosen Ehrungen in beiden Deutschland genießt, ist mehr als verdient. Bis Mitte 1970 spielt sie in Wiesbaden, dem letzten Engagement, ehe ihr nur Monate später eine Oberschenkelhalsfraktur zum Verhängnis wird. Was bleibt, sind neben dem in der Akademie der Künste Berlin bewahrten Teilnachlass auch berührende Greisinnenfotos. Stefan Moses fixiert sie 1963 wach mit Lorgnon zwischen kahlem Geäst. Bei Axel Benzmann taxiert sie daheim im April 1970 so liebevoll wie skeptisch ihre porzellanene Darstellung als Anitra von 1914. Ein Kreis schließt sich.