Die Ausstellung „Der Deutsche Film 1895 bis Heute“ ist in der historischen Gebläsehalle des Weltkulturerbes Völklinger Hütte zu sehen. Auf Großleinwänden und Monitoren werden die Filmfiguren lebendig – und nicht nur dort.

Stellen wir uns kurz vor, wir wären in einem Film. In einem deutschen Remake der Hollywood-Filmkomödie „Nachts im Museum“. Wir befinden uns nicht, wie 2006 von Regisseur Shawn Levy inszeniert, im New Yorker Museum of Natural History, sondern im Weltkulturerbe Völklinger Hütte. Draußen hat sich die Finsternis über die Stadt gesenkt, drinnen klingt aus einer Ecke ein Trommelwirbel. Der kleine Oskar Matzerath schlägt die Blechtrommel und weckt die Exponate auf, die von 128 Jahren deutscher Filmkunst künden.
Mehr als 350 Ausstellungsstücke, neun Stunden Filmmaterial auf 100 Großleinwänden – das alles wurde aus der Deutschen Kinemathek Berlin nach Völklingen gebracht. Die Hütte steht seit 150 Jahren hier, eingekeilt zwischen der Saar auf der einen und der einst wachsenden Stadt auf der anderen Seite. Zu diesem Jubiläum sollte es für Generaldirektor Ralf Beil etwas Besonders sein: die größte Ausstellung, die es an diesem Ort je gab; einem der „spannendsten Orte der Welt“, wie sein Vorgänger Meinrad Maria Grewenig immer wieder mal sagte.
Diese Superlative dürften einem derer, die durch den Klang der Blechtrommel geweckt aus einem der Filmplakate steigen, gut gefallen: Hans Albers fliegt im Kostüm des Barons Münchhausen auf einer Kanonenkugel durch die ehemalige Gebläsehalle. Er ist so schnell, dass Lola zwar rennt, aber Franka Potente, die sie mit roten Haaren verkörpert, nicht mithalten kann. Fast hätte Hans Albers den Ski gerammt, der von der Decke baumelt und auf dem die Kamera montiert ist, mit der 1929 „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ gefilmt wurde.
Filmkunst als Spiegel der Zeit ihres Entstehens
Als es mit dieser Kamera durch den Schnee ging, war der deutsche Film bereits erwachsen. Am 1. November 1895 hatten die Brüder Skladanowsky im Berliner „Wintergartenprogramm“ ihren ersten Stummfilm gezeigt – zwei Monate vor den Gebrüdern Lumière in Paris. Auch das dokumentiert die Ausstellung über den deutschen Film.

Die Maschinen-Maria, die nun ihre metallenen Glieder reckt und vom Sockel steigt, belächelt den alten Filmprojektor der Skladanowskys. Historisch wertvoll, ja, aber langweilig. Sie ist hier einer der großen Stars. Und sie kommt sich an diesem Ort mit den mächtigen Turbinen vor wie zu Hause in Metropolis. Dem gleichnamigen Film aus dem Jahr 1927 gibt die Ausstellung viel Raum. Brigitte Helm spielte die Rolle der Maschinen-Maria. Ein Highlight sei das Kapitel über Fritz Langs wegweisenden Film, hatte das Weltkulturerbe Völklinger Hütte schon vor der Ausstellungseröffnung, zu der sogar der Bundespräsident anreiste, mitgeteilt. Mit einem Modell der Metropolis-Unterstadt, Original-Masken, vielen Filmausschnitten, den Architekturzeichnungen und Kostümentwürfen von Erich Kettelhut und Aenne Willkomm hat die Ausstellung auch einiges zu bieten.
Die Maschinen-Maria, die so ähnlich aussieht wie C-3PO, der goldglänzende humanoide Robotergefährte von R2D2 aus „Star Wars“, kennt die Exponate zu gut, um den Requisiten noch Beachtung zu schenken. Sie stakst durch die Halle, bleibt vor einem Plakat stehen und fragt sich, was damit gemeint ist: „Angst essen Seele auf“.
Hat Klaus Kinski im hellen Fitzcarraldo-Anzug neben einem Grammophon stehend nicht gerade „C-3PO-Verschnitt“ gemurmelt, als er sie sah? Die Maschinen-Maria ignoriert ihn. Der Krieg der Sterne begann erst 50 Jahre nach ihrem Auftritt in „Metropolis“. Aber mit Kinski zu streiten bringt nichts, denkt sie und geht weiter. Sie will sich diesen „KaLeu“ mal anschauen. Der steigt gerade von der Leinwand: Jürgen Prochnow, der Kapitänleutnant aus Wolfgang Petersens „Das Boot“.

Günter Rohrbach hat den Film produziert, der gebürtige Neunkircher, der gerade 95 geworden ist. Unter anderem hat er auch Helmut Dietls „Schtonk!“, Joseph Vilsmaiers „Stalingrad“ und Rainer Werner Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ produziert. „Wolfgang Staudte, der 1906 in Saarbrücken geborene Regisseur, ist mit zwei Filmen vertreten“, sagt jemand, den sie nicht kennt, zur Maschinen-Maria und schiebt in einer Frau-Lehrerin-Frau-Lehrerin-ich-weiß-was-Attitüde hinterher: „Die Mörder sind unter uns“ und „Rosen für den Staatsanwalt“.
Aber da hört die Maschinen-Maria schon nicht mehr hin. Sie geht in die Verdichterhalle, die neben der Gebläsehalle ist. Dort haben die Ausstellungsmacher das Filmstudio nachgebaut, in dem Géza von Radványi 1958 den Film „Mädchen in Uniform“ gedreht hat. An Géza von Radványi erinnert sich kaum jemand, aber an Romy Schneider und Lilli Palmer. Die beiden haben sich in einem Klassenzimmer geküsst – als Lehrerin und Schülerin. Die Szene flimmert über die Leinwand in der Halle. Vor 65 Jahren war das in Deutschland ein Skandal.

Wie der Hosenanzug von Marlene Dietrich, der hier einer Schaufensterpuppe angezogen wurde. Marlene selbst sitzt im „Lola Lola“-Outfit auf ihrem „Blonder Engel“-Fass und winkt der Maschinen-Maria vom Plakat aus zu. „Neben filmischen Inkunabeln wie Volker Schlöndorffs ,Blechtrommel‘ oder Rainer Werner Fassbinders ,Angst essen Seele auf‘ werden auch weithin unbekannte Raritäten wie Veit Harlans ,Der Herrscher‘ mit drastischen Stahlwerk-Bildern in Schwarz-weiß aus dem Jahr 1937 oder Ula Stöckls sinnlich-befreiender Farbrausch ,Neun Leben hat die Katze‘ von 1968 präsentiert“, liest Hildegard Knef, die sich entschlossen hat, heute Nacht nicht wie tagsüber in der Ausstellung „Die Sünderin“ zu sein, aus einer Mitteilung des Weltkulturerbes vor.
Einzigartige Filmlandschaft
Die Maschinen-Maria interessiert auch das nicht. Sie hakt sich bei Werner Krauß ein, dem Schauspieler, der dem Publikum am Tag als Dr. Caligari präsentiert wird. Die beiden schlendern in ein bunkerartiges Tiefgeschoss unter der ehemaligen Gebläsehalle. Dort ist ein Ausschnitt des kommerziell erfolgreichsten Films des Dritten Reiches zu sehen, des NS-Durchhaltefilms „Die Große Liebe“ mit Zarah Leander (1942). Und weil das alleine vielleicht zu gruselig wäre, haben die Ausstellungskuratoren aus Berlin und Völklingen auch die Flügelfiguren aus Wim Wenders’ „Himmel über Berlin“ hier platziert.

Beim Anblick der Flügel kommt beiden aus ihrer Erinnerung die wundervolle Stimme von Bruno Ganz ins Ohr: „Wie kann es sein, dass ich, der ich bin, bevor ich wurde, nicht war, und dass einmal ich, der ich bin, nicht mehr ‚Der-ich-bin‘ sein werde?“ „Der Engel Damiel“, seufzt Dr. Caligari, „das wäre eine Rolle gewesen, die ich auch gerne gespielt hätte.“ Die Maschinen-Maria nickt. Sie wirkt verträumt.
Dr. Caligari schaut sie an und versteht in diesem Moment in einem Kellerraum eines alten Eisenwerks am Rande der Republik plötzlich die Frage, die der amerikanische Schriftsteller Philip K. Dick 1968 zum Titel eines seiner Romane gemacht hat: „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“ 1982 hat Ridley Scott aus dem Buch seinen Film „Blade Runner“ gemacht. Dabei hat er sich bei Fritz Langs „Metropolis“-Ästhetik bedient. Das will Dr. Caligari der Maschinen-Maria gerade sagen, als oben in der Halle das Geschrei losgeht.
Erste Gesamtschau des deutschen Films

Dr. Caligari seufzt: „Ach ja, die Geschichte des deutschen Films endete ja nicht mit den Männern im U-Boot und den Kindern vom Bahnhof Zoo.“ Die neunjährige Bernadette, genannt Benni, hat sich auch entschieden, die Nacht nicht auf der Leinwand und auf einem Filmplakat zu verbringen. Sie bleibt aber in der Rolle, die ihr die Regisseurin und Drehbuchautorin Nora Fingscheidt gegeben hat: „Systemsprenger“, ein oft wütendes, schreiendes Kind, das durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe zu fallen droht. „Systemsprenger“ gewann den Silbernen Bären auf der Berlinale 2019.
Die Maschinen-Maria und Dr. Caligari gehen wieder nach oben. Der Zauber aus dem Himmel über Berlin ist verflogen. Und draußen wird es auch schon wieder hell. Dr. Caligari verabschiedet sich. Gleich müssen alle wieder an ihren Plätzen sein. Die Maschinen-Maria hätte sich gern noch mit Asta Nielsen getroffen. Die war eine Ikone des deutschen Films – so wie sie. Sie hätte gern gewusst, wie es war, der erste weibliche deutsche Stummfilmstar zu sein, dabei kam Asta doch aus Dänemark.
Ausgerechnet Toni Erdmann (Spielfilm der deutschen Regisseurin und Drehbuchautorin Maren Ade aus dem Jahr 2016, Peter Simonischek spielt die Titelrolle; Anm. d. Red.) mahnt zu Disziplin, denn das nächtliche Treiben soll ja nicht auffliegen. Asta Nielsen geht gerade auf ihre Filmleinwand zurück. Schade, denkt Maschinen-Maria, aber für einen Plausch ist ja noch Zeit. Die Ausstellung läuft noch bis zum 18. August kommenden Jahres.