In Deutschland nimmt die Zahl der Schuldner immer mehr zu. Längst sind nicht nur mehr Minijobber oder schlecht Ausgebildete davon betroffen, zunehmend können Arbeitnehmer ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen.
Wer einen Termin bei der Schuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in der Berliner Blücherstraße bekommen will, braucht Geduld. Das Telefon klingelt ununterbrochen, Termine können kurzfristig nicht mehr vergeben werden. Aber nicht nur die Schuldnerberatung der Awo in Berlin-Kreuzberg ist hoffnungslos überlastet. Es handelt sich hier tatsächlich um ein bundesweites Problem, so der Co-Präsident der Awo Michael Groß. Auch andere Wohlfahrtsorganisationen bestätigen diese Entwicklung. Die Anzahl der ratsuchenden Arbeitnehmer, die nicht mehr von ihren Einkünften leben können, hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt, so die neueste Awo-Studie aus diesem Herbst.
Das Stigma, die Scham darüber ist allgegenwärtig. Mit Rücksicht auf die Betroffenen, die ihre mittlerweile prekäre Finanzsituation nicht mit Klarnamen in der Zeitung lesen möchten, hier ein anonymes Beispiel aus der Arbeit der Schuldnerberatung: eine Familie, zwei Kinder, sieben und neun Jahre alt, beide Ehepartner gehen nach Eltern- und Erziehungszeit seit fünf Jahren wieder voll arbeiten. Diese typische Familie hat sich vor knapp zehn Jahren eine Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg gekauft. Dank einem Drittel Eigenkapital ist die Wohnung heute schon fast zur Hälfte bezahlt. Der damals nötige Kredit zur Restfinanzierung für die Eigentumswohnung wurde in der Nullzinsphase geschlossen, die nach den Auswirkungen einer Pandemie und eines Krieges auf europäischem Boden dahin ist. Damals jedoch beste Voraussetzungen für einen niedrigen Zinssatz.
Der Traum beider Ehepartner, in 15 Jahren die Wohnung abgezahlt zu haben, ist mittlerweile zerplatzt. Heute geht bei ihnen die Angst um, ob sie in einigen Jahren überhaupt noch Besitzer der Wohnung sein werden. Zugegeben, die Finanzierung war, wie bei Tausenden anderer Familien in Deutschland, auf Kante genäht. Der erste Schock kam vor einem Jahr, als die Energiepreise in die Höhe schnellten. Die Altbauwohnung wird mit einer Gasetagenheizung geheizt, auch das Warmwasser läuft über die Gastherme. Die monatliche Abschlagszahlung hatte sich fast verdreifacht, obwohl man versuchte weniger zu heizen und die Eltern kalt duschten. Hinzu kam dann noch die Strompreis-Nachforderung im Sommer. Mit einem Mal waren die Konten leer.
Warnung vor Überbrückungskredit
Im September meldete sich schließlich ihre Hausbank: Der Kreditvertrag läuft aus. Klar ist jetzt, die Tilgung, also die tatsächliche Rückzahlung der noch ausstehenden Grundschuld, muss nun zunächst mal ausgesetzt werden. Ab Januar kommenden Jahres wird die Familie nur noch die Zinsen bedienen können. Wenn es gut läuft. Die geleaste Familienkutsche wurde bereits, unter erheblichem finanziellen Verlust an den Händler zurückgegeben. Auch alles andere wurde radikal zusammengestrichen. Auf gemeinsame Restaurant- oder Kinobesuche muss die Familie seit dem Frühjahr verzichten. Selbst Schwimmbadbesuche waren im vergangenen Sommer nicht mehr drin.
Jene hochgradig existenziellen Ängste von Arbeitnehmern waren in den Schuldnerberatungen nicht unbekannt, doch die Fälle nehmen zu. Zunehmend die Mittelschicht, heißt es, gerate in eine finanzielle Notsituation, berichtet eine erfahrene Mitarbeiterin der Schuldnerberatung der Diakonie in Berlin. „Menschen, die arbeiten gehen, aus bürgerlichen Milieus stammen und es sich bis vor zwei Jahren nicht vorstellen konnten, in solch eine Situation zu geraten. Diese machen dann leider auch vermeidbare Fehler, die sich nur mit der Scham über die eigene wirtschaftliche Lage begründen lassen.“
Ein solcher Fehler ist auch jener jungen Familie aus Kreuzberg unterlaufen. Um die gröbsten finanziellen Dellen zu beheben, wurde zusätzlich ein Überbrückungskredit von 10.000 Euro aufgenommen. Rechnungen und auch der anstehende Urlaub sollten so noch finanziell gestemmt werden. Doch schon von der beantragten Summe kamen dann nur gut 9.000 Euro auf ihrem Konto an. Beinahe zehn Prozent wurden für die Kreditausfallversicherung einbehalten.
In den Schuldnerberatungen kennt man dies nur zu gut. Diejenigen, die ohnehin schon in finanzieller Not sind, verschulden sich so noch mehr. Als Anlaufstelle für Verschuldete brauchen die Schuldnerberatungen tendenziell mehr Personal. Dies jedoch fehlt, die Situation wird sich in den kommenden Monaten noch verschärfen. Die Schuldnerberatungen der Wohlfahrtsverbände, die derzeit Hochkonjunktur haben, müssen noch mehr Personal einsparen. Denn die Bundesregierung will laut Haushaltsplanungen im kommenden Jahr in diesem Bereich 25 bis 30 Prozent einsparen. „Ich kann allerdings derzeit nicht absehen, wie viele Stellen wir da im kommenden Jahr streichen müssen“, sagte Awo-Co-Präsident Groß. Die Not ist groß. Auch in den Beratungsstellen.