Dank einer von den Medien weltweit aufgegriffenen Studie aus dem Jahr 2022 ist der „Rückgang der Spermienzahl“ schnell zu einem Narrativ der Populärkultur geworden. Auch wenn in der Wissenschaft aktuell heftig darum gestritten wird, ob tatsächlich ein Spermienschwund stattgefunden hat.
Wenn sogar in Teilen der Wissenschaft das nahende Ende der Menschheit prognostiziert wird, kann man getrost davon ausgehen, dass dieses größtmögliche Schreckgespenst in sämtlichen Medien weltweit diskutiert werden wird. Zumal wenn als Ursache dafür mal nicht die üblichen Themen wie Klimakrise, Pandemien oder Kriege ins Spiel gebracht werden, sondern die vermeintlich dramatische Abnahme der männlichen Fruchtbarkeit. Was zahlreiche Studien, die im Laufe der letzten vier Jahrzehnte veröffentlicht wurden, zu belegen schienen. Auch wenn in der Forschung gelegentlich durchaus ernst zu nehmende Zweifel an der wissenschaftlichen Aussagekraft und Verlässlichkeit der diversen Untersuchungen geäußert wurden. Dennoch wird gemeinhin angenommen, dass die zahlenmäßige Menge der männlichen Spermienproduktion im Laufe der Zeit zurückgegangen ist.
Es gibt jedoch auch prominente Mediziner und Wissenschaftler wie Dr. Sabine Kliesch, die am Universitätsklinikum Münster die Abteilung für Klinische und Operative Andrologie leitet und die erste weibliche Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Andrologie ist, die eine deutliche Abnahme der Spermienzahl bestreiten: „Wir haben vielleicht eine Veränderung, aber einen Schwund gibt es nicht. Das bewegt sich alles noch im Normalbereich.“ Es gebe schlicht und einfach bislang keinerlei systematische Arbeiten, die nach hohen methodischen Standards die Entwicklung der männlichen Spermien überprüft hätten, aus einzelnen vorhandenen Ergebnissen könnten sich keine zuverlässigen, allgemeingültigen Schlüsse ziehen lassen. Auch ihr Kollege Prof. Artur Mayerhofer vom Biomedical Center Munich Cell Biology der Ludwig-Maximilian-Universität München hat aufgrund der schlechten Datenlage erhebliche Bedenken am vermeintlichen Spermienrückgang angemeldet: „Die Daten, die uns momentan zur Verfügung stehen, sind einfach wackelig.“ Von daher ist es aus seiner Sicht so etwas wie die „Eine Million-Euro-Frage“, ob die Annahme einer Abnahme der Spermienzahl tatsächlich der Wahrheit entspricht.
Debatte sei „vergiftet und versaut“
Um dieses Thema hat sich längst eine hitzige wissenschaftliche Debatte entwickelt, die aber laut Prof. Stefan Schlatt, dem Leiter des Centrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie der Universität Münster, „total vergiftet und versaut“ sei. „Es will doch keiner hören, wenn ich über unsichere Datenlagen und Variablen spreche“, so Prof. Schlatt gegenüber „Zeit online“.
Viel besser lassen sich in den Medien Schlagzeilen wie „Ist die männliche Fruchtbarkeit in Gefahr?“, „Zahl der Spermien bei Männern nimmt weltweit immer rascher ab“ oder „Männliche Fortpflanzungsfähigkeit sinkt dramatisch“ vermarkten. Alle diese Schlagzeilen basieren letztendlich auf zwei Studien aus den Jahren 2017 und 2022 sowie auf einem populärwissenschaftlichen Sachbuch aus dem Jahr 2021. Wobei die US-amerikanische Umwelt- und Reproduktionsepidemiologin Prof. Shanna Helena Schwan von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai (New York) sowie ihr Epidemiologie-Kollege Dr. Hagai Levine von der Hebräischen Universität Jerusalem federführend für die beiden Studien waren. Und Prof. Schwan in ihrem Buch „Countdown“ das mögliche Ende der Menschheit und den Weg in eine unfruchtbare Welt drohend an die Wand gemalt hatte.
Die Ergebnisse beider Studien beruhten nicht auf praktischer Laborarbeit, sondern waren reine Meta-Analysen, basierend auf der Auswertung einer Vielzahl internationaler Studien. Der 2017 im Fachmagazin „Human Reproductive Update“ publizierten Studie mit dem sperrigen Titel „Zeitliche Trends bei der Spermienzahl: eine systematische Überprüfung und Meta-Regressionsanalyse“ hatte die Auswertung von 185 zwischen 1981 und 2013 veröffentlichten Untersuchungen mit Daten aus Nordamerika, Europa und Australien zugrunde gelegen. Aus diesen hatte das Forscherteam eine starke Abnahme der Spermienkonzentration im Ejakulat abgeleitet. Bei westlichen Männern wurde demnach zwischen 1973 und 2011 ein Absinken der Konzentration von Spermien pro Milliliter Sperma um insgesamt 52,4 Prozent registriert. Die Gesamtzahl der Spermien pro Samenerguss soll sich im gleichen Zeitraum um 59,3 Prozent verringert haben. Eine Erklärung für diese auf den ersten Blick ziemlich beunruhigte Entwicklung konnte das Forscherteam nicht liefern, vermutete aber einen Zusammenhang mit dem westlichen Lebensstil und hormonell wirkenden Umweltgiften.
Die Stichhaltigkeit der Studienergebnisse stellten Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology (Cambridge) unter Federführung von Marion Boulicaut in Frage. Die Philosophin hatte in einem 2021 im Fachjournal „Human Fertility“ publizierten Beitrag nicht nur die geradezu „apokalyptischen Behauptungen“ von Levine und Schwan scharf verurteilt, sondern eine ganz natürliche Schwankung als Erklärung für den in der Studie von 2017 behaupteten Spermienrückgang verantwortlich gemacht.
Langfristige Studie vonnöten
Die Studie aus dem Jahr 2022 ergänzte ihre Vorgängerin aus dem Jahr 2017 durch die Aufnahme von Daten aus nicht-westlichen Ländern und wertete insgesamt 223 Studien mit 288 Schätzungen zu zwischen 1973 und 2018 gesammelten Samenproben aus 53 Ländern aus. Das Ergebnis: Die Zahl der Spermien in einer durchschnittlichen Ejakulation soll von 1973 bis 2018 um 62 Prozent gesunken sein, die Spermienkonzentration pro Milliliter Samenflüssigkeit um 52 Prozent abgenommen haben. „Insgesamt ist in den letzten 46 Jahren weltweit ein signifikanter Rückgang der Spermienzahl um mehr als 50 Prozent zu beobachten“, so Dr. Levine. Im Jahr 1973 habe die Spermienzahl pro Milliliter Samenflüssigkeit noch 101,2 Millionen Spermien betragen, 2018 sei sie schon auf 49 Millionen Spermien abgesunken, was einem Rückgang um mehr als 51 Prozent entsprochen habe. Seit dem Jahr 2000 sinke die durchschnittliche Spermienzahl sogar um jährlich etwa 2,5 Prozent. Selbst wenn diese Zahlen alle stimmen sollten, liegen die 49 Millionen Spermien noch deutlich über dem Grenzwert, den die WHO als „normal“ (zwischen 15 und 259 Millionen pro Milliliter Samenflüssigkeit) eingestuft hatte. Denn laut WHO gelten Männer erst mit einer Spermienkonzentration von unter 15 Millionen pro Milliliter als unfruchtbar.
Der britische Androloge Prof. Allan Pacey von der University of Sheffield ist skeptisch bezüglich des vorgelegten Zahlenmaterials: „Das Zählen von Spermien, selbst mit der Goldstandardtechnik der Hämozytometrie, ist wirklich schwierig. Ich glaube, dass wir im Laufe der Zeit einfach besser darin geworden sind, weil wir weltweit Schulungs- und Qualitätskontrollprogramme haben.“ Nach Meinung von Prof. Pacey lässt sich ein Großteil der Veränderungen oder Abweichungen darauf zurückführen. Für einen „Rückgang der Spermienzahl“ brauche man außergewöhnliche Beweise: „Ehrlich gesagt sehe ich in dieser neuen Arbeit keine außergewöhnlichen Beweise und bleibe deshalb unentschlossen.“ Prof. Mayerhofer räumt immerhin ein: „In der Gesamtheit gibt es Anhaltspunkte dafür, dass irgendetwas stattgefunden hat, was die Fruchtbarkeit womöglich doch beeinträchtigt.“
Aber um Genaueres erfahren zu können, bräuchte es dezidierte, auf einen längeren Zeitraum von 20 bis 30 Jahren angelegte Studien, bei denen alle möglichen Einflussfaktoren berücksichtigt werden müssten. „Aber das kostet sehr viel Geld.“