Während eine Tüv-Studie zur Nachhaltigkeit bei jedem Vierten Realitätsverweigerung konstatiert, geben andere Gas, um Lebensgrundlagen zu retten. Doch schon Bertolt Brecht sagte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“.

Man bräuchte schon ein sehr sonniges Gemüt, um „nebenher“ 75.000 Kuchen pro Jahr zu backen. Den dafür benötigten Strom würde jedenfalls die Photovoltaik-Anlage von Kerstin und Klara Deckert erzeugen. Ihre eigene Energie stecken Mutter und Tochter aus Mecklenburg-Vorpommern allerdings statt in Kuchenmassen lieber in ihren persönlichen Kampf gegen den Klimawandel. Deshalb speisen die beiden Frauen 154 Megawatt, die ihre Solaranlage „Frauenpower“ jährlich liefert, ins Netz für andere ein. „Wir wollen die Energiewende in Deutschland unterstützen und einen Beitrag zu einer grünen Zukunft leisten“, betont Kerstin Deckert.
Auch Kerstins Mann Stefan Deckert verbreitet zusammen mit Sohn Jakob Solarstrom über das Berliner Clean-Energy-Start-up stromee. Auf dessen Onlineplattform können Erzeuger erneuerbarer Energien ihren Strom anbieten. Die Verbraucher wählen dann zwischen verschiedenen unabhängigen Erzeugern und nachhaltigen Energiequellen aus. Im Angebot sind landwirtschaftliche Biogasanlagen, Windkraft- und Solaranlagen.
23 Prozent glauben, der Klimawandel beträfe sie nicht
Sich selbst einen dezentralen Energieerzeuger wählen zu dürfen, kommt anscheinend gut an. In einem Jahr haben sich nach Unternehmensangaben 90.000 Menschen dafür entschieden, erneuerbaren Strom über die Plattform zu beziehen. Erzeugt wird der „saubere“ Strom auch von Privatleuten, die zur Energiewende beitragen und die Erderwärmung aufhalten wollen.
Damit machen sie sich daran, den Klimawandel zu begrenzen, während andere noch ein gespaltenes Verhältnis zum Einfluss ihres Verhaltens auf Umweltprobleme haben: Fast ein Viertel der Menschen in Deutschland, 24 Prozent, glaubt „grundsätzlich“ nicht an den menschengemachten Klimawandel. Jeder Dritte, 68 Prozent der 1.000 Bürger, die während des heißen Sommers im Auftrag des Tüv Süd befragt wurden, ist hingegen sehr besorgt und empfindet den Klimawandel als „große Bedrohung“.
„Zwischen den Extrempositionen von Klimaleugnern und der Letzten Generation muss die Politik die gesellschaftliche Mitte stärken und den Umwelt- und Klimaschutz auch gegen Widerstände voranbringen“, sagt Dr. Johannes Bußmann, Präsident des Tüv-Verbands und Vorstandsvorsitzender der Tüv Süd AG, als er die Ergebnisse der Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Ipsos durchführte, den Journalisten vorstellt. Eine Mehrheit fordere der „Sustainability Studie 2023“ zufolge die politisch Verantwortlichen zu zusätzlichen Maßnahmen für den Umwelt- und Klimaschutz auf.
Was eine Herkulesaufgabe ist, denn geringere Ausgaben sind den Antworten zufolge der größte Anreiz zum Energiesparen; erst danach komme der Klimaschutz. In Zahlen heißt das: 81 Prozent geben bei einer Auswahl von Gründen an, dass sie Energie sparen, um Geld zu sparen. Klimaschutzgründe nennen nur 49 Prozent als Motiv für ihren Stromverbrauch. Für 15 Prozent der Befragten zählt auch der Ukraine-Krieg zu den Gründen, den eigenen Energieverbrauch zu reduzieren. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, schrieb Bertolt Brecht in seiner „Dreigroschenoper“ von 1928 über das Lebensgefühl am Vorabend der Weltwirtschaftskrise. Auch heute erscheint diese Zeile noch zutreffend.
Doch zu verteufeln ist das Festhalten des Sparstrumpfs in Zeiten von Krisenmarathons, Inflation und Ausgaben nicht. Das Problem dabei: Nahrungskette, Wirtschaft und politische Stabilität, die viel mit Wahrnehmung zu tun hat, nehmen umso größeren Schaden, je weniger die Klimakrise gebremst wird. Womit wir wieder bei dem Song von Brecht wären, aus dem die oben zitierten bekannten Verse stammen – der trägt den Titel „Wovon lebt der Mensch?“
Mehr Drama als Oper waren die Zustände, die in diesem Spätsommer in unserem Nachbarland Frankreich zu beobachten waren: Menschen, die Schlange standen, um an Trinkwasser zu kommen. Unerträgliche Hitze, Dürren, Feuersbrünste und Überschwemmungen erreichten 2023 vielerorts Urlauber in der eigentlich schönsten Zeit des Jahres.
Dabei sind 23 Prozent der Deutschen der Ansicht, dass die negativen Auswirkungen des Klimawandels sie nicht beträfen. Andererseits sagten 20 Prozent der befragten Bundesbürger, dass die Proteste der Letzten Generation notwendig seien, damit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft endlich entschlossen handeln.
Der Ipsos-Umfrage gemäß sind 56 Prozent der Bundesbürger der Meinung, dass die Bundesregierung „viel zu wenig“ für den Klimaschutz tue. Doch 36 Prozent sind gegenteiliger Meinung und sechs Prozent unentschlossen. Ebenfalls 56 Prozent sagen, dass sie wegen des Klimawandels ihr persönliches Konsum- und Mobilitätsverhalten verändern. Doch wie können sich die Menschen sicher sein, dass ihr gut gemeintes Verhalten tatsächlich ein Kiesel unter all den Bremssteinen ist, um eine Klimakatastrophe aufzuhalten?
„Klimaschutz ist Politik für die Mitte“
Vielen Menschen ist es zur Gewohnheit geworden, beim Einkaufen neben Material und Inhaltsstoffen die Umweltfreundlichkeit eines Produkts zu prüfen. Doch bilden die Slogans und Prädikate die Realität ab? Gibt es gar Markierungen, die – analog den Tüv-Plaketten bei Autos – optisch auffällig angebracht werden, damit Umwelt- und Klimaschutz in der Bevölkerung besser wahrgenommen und auch eingehalten werden?
Juliane Petrich, Referentin für Nachhaltigkeit beim Tüv, warnt in diesem Zusammenhang vor Greenwashing: „Viele Hersteller und Händler verwenden Slogans wie „klimaneutral“, „100 Prozent recycelt“ oder „umweltfreundlich“. Oft sei aber völlig unklar, was damit eigentlich gemeint ist. „Dies ist ein großes Ärgernis für Verbraucher, die sich Orientierung beim Kauf nachhaltiger Produkte wünschen“, erläutert die Nachhaltigkeits-Managerin.
Der Green-Claims-Vorschlag der Europäischen Union wolle dem entgegenwirken und Kriterien zu umweltbezogenen Aussagen über Produkte oder Unternehmen festlegen. Juliane Petrich erklärt, was Konsumenten von der Richtlinie, die für die Europäische Union geplant ist, zu erwarten haben: „Noch bevor ein Claim verwendet wird, muss er durch wissenschaftlich fundierte Methoden belegt und durch einen unabhängigen Dritten bestätigt werden.“ Damit werde sichergestellt, dass umweltbezogene Aussagen belastbar sind. Verbraucherinnen könnten dann in Zukunft darauf vertrauen, dass Aussagen wie „öko“ oder „klimafreundlich“ auch wirklich hielten, was sie versprechen.

Um das Klima zu schützen, befürworten 63 Prozent der Befragten gesetzliche Vorgaben, damit die Energieeffizienz gesteigert wird. Dabei wünschen sich 59 Prozent, dass Wärmepumpen gefördert werden, und 57 Prozent votieren für eine Austauschprämie für Öl- und Gasheizungen.
Bußmann zufolge wäre es jedoch gut, die Bevölkerung früher darüber zu informieren, was kommt. „Das Meinungsbild, das wir hier erhoben haben, bestürzt mich schon“, sagt der Verbandschef. Er wünsche sich von den Berliner Politikgestaltern, mehr über ihr gemeinsames Handeln zu berichten als über ihre Meinungsverschiedenheiten.
„Klimaschutz ist Politik für die Mitte der Gesellschaft: Sie wünscht sich Einigkeit in der Regierung bei der Energie- und Wärmewende und handwerklich gut gemachte Gesetze, die klare Vorgaben machen und soziale Härten abfedern“, sagt Johannes Bußmann. „In Brüssel sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Regelungen wie das Recht auf Reparatur, die Green-Claims-Richtlinie oder der digitale Produktpass noch vor den Europawahlen 2024 verabschiedet werden.“