Etwa drei Millionen Frauen leiden in Deutschland an Lipödem – einer krankhaften Fettverteilungsstörung. Dr. Florian Netzer hat mit FORUM über das Krankheitsbild gesprochen und erklärt, warum eine Liposuktion die beste Therapie ist.
Herr Dr. Netzer, was genau ist ein Lipödem?
Als Lipödem bezeichnen wir eine Erkrankung des Unterhautfettgewebes der Extremitäten bei Frauen: Bei den Betroffenen lagern die Fettzellen auch bei normaler Ernährung und Sport intensiv Fett ein. Es kommt zur starken Volumenzunahme der befallenen Extremitäten und zu Spontan- und Berührungsschmerzen sowie dem spontanen Auftreten von Blutergüssen.
In den meisten Fällen haben die Patientinnen normale, teilweise sogar extrem schlanke Oberkörper und im Verhältnis dazu unproportional dicke Beine, Hüftregionen und gegebenenfalls Arme. Die Fetteinlagerungen sind weder durch Diät noch durch Sport in relevanter Weise zu beeinflussen und bei vielen Patientinnen führt das Leid durch diese unförmige Fettvermehrung zu Essstörungen.
In welchem Alter tritt Lipödem meist auf?
In den meisten Fällen tritt das Lipödem erstmals mit Eintritt in die Pubertät auf. Der Verlauf der Erkrankung ist schubweise und wird durch Schwankungen der Geschlechtshormonspiegel getriggert.
Eine familiäre Häufung von Lipödem-Fällen kommt vielfach vor.
Was unterscheidet Lipödem-Fettzellen von „normalem“ Fett?
Gesunde Speicherfettzellen (Adipozyten) reagieren auf Diät und vermehrten Energieverbrauch (Bewegung). Sie geben gespeichertes Fett als Energieträger an den Körper ab und schrumpfen: Man nimmt ab.
Lipödem-Fettzellen gelten als weitgehend „stoffwechselautonom“, das heißt sie reagieren nicht mit einer Entleerung auf vermehrten Energiebedarf und verminderte Energiezufuhr: Trotz ausreichender Bewegung und Diät bleiben die Extremitäten der Betroffenen nahezu unverändert dick.
Wo am Körper tritt Lipödem am häufigsten auf?
Das Lipödem kann sich an Armen und Beinen entwickeln. Mit Abstand am häufigsten sind Oberschenkel und Unterschenkel betroffen, etwas seltener die Oberarme und selten die Unterarme.
Was weiß man über die Ursachen?
Die Wissenschaft beschäftigt sich leider erst in jüngster Zeit etwas intensiver mit der Erkrankung, weshalb unsere Erkenntnisse noch recht spärlich sind. Sicher stehen eine genetische und eine hormonelle Komponente im Vordergrund, was schon durch die Beschränkung auf das weibliche Geschlecht deutlich wird.
Wie diagnostiziert man Lipödem?
In besonders typischen Fällen, also bei sehr schlankem Leib und sehr unförmigen Extremitäten, ist die Diagnose oft tatsächlich allein aufgrund des Körperbilds möglich. Durch die Feststellung des Verhältnisses von Bauchumfang zur Körperlänge (Height-Waist-Index) lässt sich eine Adipositas dann einfach ausschließen.
In weniger „archetypischen“ Fällen, beispielsweise beim gleichzeitigen Vorliegen einer begleitenden Adipositas, ist es manchmal sehr schwierig, eine eindeutige Diagnose zu stellen: Etliche Lipödem-Patientinnen leiden auch unter einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Adipositas, teilweise durch krankheitsbedingte Bewegungseinschränkung. Hier schafft meist eine sehr gründliche Ultraschalluntersuchung Klarheit. Es gibt eine Reihe von Erscheinungen in der Haut und Unterhaut, die man sonographisch fast exklusiv beim Lipödem findet.
Welche Schweregrade/Stufen gibt es bei Lipödem?
Eine wichtige Frage! Oft werden der „Ausprägungsgrad“ – also das Volumen der Fettspeicherung – und das „Stadium“ der Gewebeveränderung verwechselt.
Wir unterscheiden drei Stadien der Gewebeveränderung: Bei Stadium eins finden wir noch weiches Gewebe –wohlgemerkt unabhängig vom Volumen. Stadium zwei ist gekennzeichnet durch beginnende, meist unregelmäßig lokal verteilte kleinere Knoten und zunehmende Schmerzhaftigkeit. Beim Stadium drei ist das ganze betroffene Unterhautfettgewebe stark von derben Bindegewebsfasern durchzogen, wirkt stark knotig und hart.
Diese Entwicklungsstadien des Gewebes verlaufen nicht linear und nicht schicksalhaft geht jedes Lipödem in ein hartes Stadium-drei-Gewebe über. Die meisten Patientinnen bleiben glücklicherweise bei Stadium zwei stehen.
Demgegenüber sind die drei Grade der Ausprägung, also des krankhaften Volumenzuwachses, der ganz unabhängig vom Entwicklungsgrad ist, lediglich eine Beschreibung der Fettmenge: von eins, wenig, bis drei, extrem.
Ist es bei allen Schweregraden der Erkrankung so, dass man an den betroffenen Stellen nicht abnimmt oder kann eine Gewichtsreduktion manchmal auch zur Besserung beitragen?
Je höher das Entwicklungsstadium des Lipödem-Gewebes ist, umso weniger reagiert es überhaupt noch auf Gewichtsreduktion, im Stadium drei praktisch gar nicht mehr.
Weil aber auch viele Betroffene eine begleitende Adipositas haben, ist wenigstens der Versuch einer Gewichtsreduktion immer sinnvoll, aber bitte mit Augenmaß, was die Methoden angeht: keine Crashdiäten, die womöglich in einer Essstörung münden, sondern gesunde, ausgewogene Ernährung und ein vernünftiges Maß an Bewegung.
Man sollte nicht vergessen, dass das Lipödem der Beine ohnehin oft zu orthopädischen Problemen wie vorzeitigen Arthrosen führt – also auch beim Sport darf man nicht übertreiben. Lieber jeden Tag eine volle Stunde stramm spazieren gehen – ohne trügerische Schrittzähler, sondern als Strecke im Freien mit bestimmten Start- und Endpunkten – als dreimal pro Woche ein nicht durchhaltbares Powertraining.
Unter welchen Symptomen leiden Ihre Patientinnen?
Schwere Beine, die subjektiv im Tagesverlauf anzuschwellen scheinen, Schmerzen beim Sport – insbesondere in den Oberschenkeln –, Schmerzen bei Berührung und ein intensives Spannungsgefühl in den betroffenen Extremitäten: Viele Patientinnen sprechen von „Beton-Beinen“.
Neben den körperlichen Beschwerden steht natürlich, und ganz besonders bei jüngeren Frauen, eine oftmals sehr starke seelische Beeinträchtigung durch die Körperverformung im Vordergrund. Fast alle meine Patientinnen vermeiden es, sich in kurzer Kleidung oder gar in Badekleidung zu zeigen, schämen sich beim Einkauf von Garderobe, leiden an Selbstwertverlust und teilweise an einem gestörten Sexualleben. Tatsächlich haben die meisten meiner Patientinnen zahllose Diäten hinter sich, folgen Sport- und Ernährungs-Influencern und halten sich oft sklavisch an deren Vorgaben, ohne einen sichtbaren Erfolg zu erzielen. Nicht wenige Patientinnen legen sich sogar völlig überzogene Sportprogramme auf und nicht selten finden sich stationär behandlungspflichtige Essstörungen in der Krankengeschichte. Das seelische Leid wird leider oftmals unterschätzt, verstärkt oft aber auch noch die Schmerzsymptomatik und umgekehrt. Auch psychologische oder psychotherapeutische Hilfe wird oft in Anspruch genommen, scheitert aber öfter am Fortbestehen der Grunderkrankung: der als Stigma empfundenen Körperform. Umso schöner ist es zu sehen, wie praktisch alle Patientinnen nach einer erfolgreichen Liposuktion aufblühen.
Wann ist eine Liposuktion (Fettabsaugung) sinnvoll?
Tatsächlich ist die therapeutische Liposuktion offensichtlich das Verfahren der Wahl. Die nicht-operativen, sogenannten konservativen Verfahren wie dreimal wöchentlich Manuelle Lymphdrainage und lebenslange Kompressionstherapie mit einer steifen flachgestrickten Kompressionswäsche ändern nichts oder sehr wenig an der Verformung, sondern behandeln lediglich Symptome wie das Schweregefühl. Es ist doch auch lebensfremd, einer Mittzwanzigerin eine lebenslange ganztägige Kompression zu verordnen: Denken wir doch wieder an das seelische Leid, das wir damit sicher nicht lindern! Andere gehen in kurzer Mode und im Bikini und die Lipödem-Betroffene soll in dicker fleischfarbener Kompressionskleidung schwitzend zusehen – wenn sie letztlich nur eine Fettabsaugung von einem normalen Leben trennt?
In der wissenschaftlichen Literatur wird die therapeutische Liposuktion außerdem als die einzig langfristig wirksame Therapie der Lipödem-Schmerzen beschrieben.
Zur Frage, wann eine Liposuktion durchgeführt werden soll: Lieber früher als später! Je mehr Fett schon angelagert wurde und je höher das Stadium der Erkrankung ist und je älter die Patientin ist, umso schwieriger wird es, mit der Fettabsaugung ein ästhetisch gutes Ergebnis zu erzielen.
Sind die meisten danach dauerhaft symptomfrei oder kann Lipödem wiederkommen?
Ich behandle seit 25 Jahren Lipödem-Patientinnen und kann sagen, dass es zwar Rezidive, also das Wiederkehren von Fett in einem gewissen Umfang gibt, aber dass zwischen 70 und 80 Prozent der Frauen, die ich über diese lange Zeit immer wieder einmal sehe, tatsächlich weitgehend erscheinungsfrei bleiben.
Uns muss aber auch klar sein, dass die Grunderkrankung Lipödem bis zur Menopause „schlafend“ weiter da ist und die Patientinnen sich entsprechend diszipliniert ernähren und bewegen müssen.
Durch die normale Körperform nach der Fettabsaugung sind die Frauen aber stets sehr euphorisch und halten meist sehr gut das OP-Ergebnis.
In welchen Fällen werden Liposuktionen von der Krankenkasse übernommen?
Leider nur in sehr, sehr wenigen. Meistens verweisen die Versicherungen – und dabei ist es egal, ob gesetzliche oder private Kasse – auf die konservative Behandlung mit Lymphdrainage und Kompression, vermutlich wohl wissend, dass die Patientinnen dies ohnehin kein Leben lang durchhalten werden.
Nur bei sehr eindeutigen Lipödemfällen mit gleichzeitig sehr schlankem Bauch und Oberkörper und wiederum gleichzeitig starker Behinderung durch die kranken Fettpolster und einem Stadium drei der Erkrankung werden die Kosten nach langem Ringen und diversen Begutachtungen manchmal übernommen. Das ist die traurige tägliche Realität.
Die Patientinnen betrachten aber die befreiende Liposuktion zu Recht als sehr langfristige Investition in ein anderes Leben und finanzieren sie daher meist selbst.
Sollte man bei Verdacht auf Lipödem am besten gleich einen Venenspezialisten aufsuchen?
Venenärzte, also Phlebologen, aber auch Lymphologen sind sicher am meisten mit dem Krankheitsbild vertraut und in der Lage, es zu diagnostizieren.
Da bei etlichen Lipödem-Patientinnen zugleich eine Erkrankung oberflächlicher Beinstammvenen besteht, macht das doppelt Sinn: Diese durch die unnatürliche Fettauflagerung nicht sichtbar in Erscheinung tretenden Krampfadern können sowohl das Beschwerdebild der schweren Beine verstärken, sie wären bei einer möglichen Fettabsaugung „im Wege“ und sollten zur Vermeidung von Blutungskomplikationen vorher behandelt werden.