Als Wladimir Iljitsch Lenin vor 100 Jahren starb, hatte er mit der Gründung der Sowjetunion längst die Basis zu einer weltverändernden Diktatur gelegt. Deren brutalem Terror fielen in einem langen Bürgerkrieg Millionen von Menschen zum Opfer.
Wie es einem Mann aus dem Adelsstand gebührte, konnte Wladimir Iljitsch Lenin seinen Lebensabend in fürstlich-vornehmem Rahmen verbringen. Zumal er zudem Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Vorsitzender des Politbüros sowie Regierungschef der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik und der Sowjetunion war. Dabei hatte sich der einstige Berufsrevolutionär mit juristischem Staatsexamen nicht etwa freiwillig in die Idylle des Örtchens Gorki fern der damaligen Hauptstadt und des Machtzentrums Petrograd (heute Sankt Petersburg) zurückgezogen. Ausschlaggebend für den Aufenthalt Lenins in einem Sanatorium war der angeschlagene Gesundheitszustand des obersten Genossen und Sowjets. Das klassizistische Anwesen war 1918 mit sämtlichem Luxus und Komfort für die Spitzen des Staates eingerichtet worden.
Lenin erholte sich nicht wirklich von den Folgen des am 30. August 1918 auf ihn verübten Attentats, das der Anarchistin Fanny Kaplan zugeschrieben wurde. Eine der beiden auf ihn abgefeuerten Kugeln konnte erst knapp vier Jahre später aus seinem Hals entfernt werden. Vier Wochen danach erlitt Lenin am 25. Mai 1922 postoperativ einen schweren Schlaganfall. Bis zu seinem frühen Tod im Alter von gerade mal 53 Jahren am 21. Januar 1924 musste er noch weitere ertragen. Politisch tot war der kaum mehr handlungsfähige, körperlich behinderte und zunehmend isolierte Lenin aber schon knapp zwei Jahre vor seinem Ableben. Zweimal hatte er den von ihm 1922 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei beförderten Josef Stalin vergeblich um Gift für einen Suizid gebeten.
Einen Nachfolger hatte Wladimir Iljitsch Lenin nicht aufgebaut, weil er keinen der beiden potenziellen Kandidaten dafür als fähig betrachtete – weder Josef Stalin noch Leo Trotzki, den Organisator der Roten Armee. Von daher hatte er sich für die Zukunft eher eine kollektive Leitung an der Spitze der Sowjetunion vorgestellt. Dem Sterbenskranken war jedoch nicht verborgen geblieben, dass diese Lösung völlig illusionär war. Denn Stalin hatte sich in Lenins Abwesenheit von Petrograd längst durch den geschickten Umbau des Parteiapparats eine außerordentliche Machtposition aufgebaut. Deshalb hatte Lenin in seinem um die Jahreswende 1922/1923 diktierten sogenannten Testament eindringlich vor Stalin gewarnt und darin sogar dessen Entfernung aus dem Amt des Generalsekretärs gefordert. Aber auch Trotzki erhielt eine wenig schmeichelhafte Bewertung: „Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. Andererseits zeichnet sich Genosse Trotzki (…) nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. Persönlich ist er wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK, aber auch ein Mensch, der ein Übermaß an Selbstbewusstsein und eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen hat.“
Putin will Mythos Lenin zerstören
Letztlich verhallten Lenins Warnungen folgenlos und Stalin ging als Sieger aus dem Diadochenkampf hervor. Schon bald nach der Beisetzung des einbalsamierten Lenin auf dem Roten Platz in Moskau am 27. Januar 1924 setzte ein regelrechter Lenin-Kult ein. „Als der Mensch Lenin starb“, so formulierte es der britische Historiker Orlando Figes, „wurde der Gott Lenin geboren“. Lenin wurde zu einer Symbolfigur der Sowjetunion, die sich bis zu ihrem Ende im Dezember 1991 mit ihrem Staatsgründer identifizierte und dabei dessen Verantwortung für die Verbrechen im Gefolge der Oktoberrevolution und des Bürgerkriegs weitestgehend ausblendete.
Auch heute noch ist Lenin in Russland ein Mythos, der allerdings immer mehr zerbröckelt. Dazu hat letztlich auch der aktuelle Präsident Wladimir Putin seinen Beitrag geleistet, weil er Lenin vorwirft, die staatliche Einheit der Sowjetunion auf dem Gewissen zu haben: „Lenin war dafür, den Sowjetstaat auf der Basis vollständiger Gleichberechtigung zu bauen, mit dem Recht der Regionen, aus der Sowjetunion wieder auszutreten. Das war eine Zeitbombe unter dem Gebäude unserer Staatlichkeit.“
„Lenin“, erstmals um das Jahr 1900 verwendet, war nur einer von fünf Decknamen, die sich der spätere russische und sowjetische Regierungschef im Laufe seines Lebens zulegte. Geboren wurde er am 22. April 1870 als Wladimir Iljitsch Uljanow in der zentralrussischen Wolgastadt Simbirsk (heute Uljanowsk). Seine Familie war gutsituiert, sein politisch liberal eingestellter Vater stieg als Schulinspekteur in den erblichen Adel auf. Wladimir schien nach seinem Abitur 1887 einer glänzenden Karriere als Jurist entgegenzusehen, obwohl er sich schon während seiner Gymnasialzeit mit marxistischen Schriften beschäftigt haben soll. „Das Kapital“ etwa war bereits 1872 in russischer Übersetzung ganz legal im Zarenreich publiziert worden. Schwer traf ihn im Mai 1887 die Hinrichtung seines älteren Bruders Alexander, dem die Beteiligung an einem geplanten Attentat auf Zar Alexander III. vorgeworfen wurde. Obwohl die Familie danach stigmatisiert war, konnte Wladimir ein Jura-Studium in Kasan aufnehmen, wurde jedoch bereits nach einem Jahr wegen Beteiligung an Studentenprotesten von der Universität verwiesen. Nachdem seine Familie in Samara ein Gut erworben hatte, setzte Wladimir sein Jura-Studium als Autodidakt fort und durfte 1891 das juristische Staatsexamen ablegen.
Hunderttausende Gegner getötet
Daneben intensivierte er die Lektüre marxistischer Publikationen und nahm Kontakte zu linken Kreisen auf. Im Bücherfundus seines getöteten Bruders war er zudem auf den 1863 erschienenen Roman „Was tun?“ gestoßen, in dem der russische Schriftsteller Nikolai Tschernyschewski die Utopie einer freien Welt ohne Armut und Hunger entworfen hatte. Vor allem die Nebenfigur des asketischen Intellektuellen Rachmetov hatte Wladimir tief beeindruckt, sollte sich aus ihr doch der Prototyp eines sozialistischen Menschen und der Idealtypus eines Berufsrevolutionärs ableiten lassen.
Nach seiner Übersiedlung nach St. Petersburg im Jahr 1893 nahm Wladimir Kontakt zu führenden Sozialdemokraten auf und begann sich durch Gründung des „Petersburger Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse“ 1895 zu radikalisieren. Anschließend wurde er verhaftet und konnte die Etablierung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) 1898 daher nur aus der Verbannung im fernen Sibirien mitverfolgen.
Nach seiner Rückkehr im Jahr 1900 wurde Lenin hauptsächlich ein ewig Reisender und vor weiteren Verfolgungen im Zarenreich Fliehender. In seiner 1902 in Stuttgart verlegten Schrift „Was tun?“ entwarf er erstmals programmatisch das Konzept einer paramilitärisch organisierten Kaderpartei als Elitekorps, als „Partei neuen Typs“ und „Avantgarde des Proletariats“ für eine künftige Revolution. Auf dem in London 1905 abgehaltenen Parteikongress der SDAPR konnte Lenin, der kein sonderlich begnadeter Redner war, diese neue Konzeption durchsetzen. Dafür nahm er die Spaltung der Partei in die von ihm geführten Bolschewiki (Mehrheitler), die auf eine radikale Revolution in Russland durch eine hierarchisch geführte Kaderpartei von Berufsrevolutionären hinarbeiten wollten, und die für einen gemäßigt bürgerlichen Staatsumbruch eintretenden Menschewiki (Minderheitler) in Kauf.
Nach dem Ausbruch der Russischen Revolution 1905 kehrte Lenin kurzzeitig ins Zarenreich zurück und zeigte sich ebenso wie Leo Trotzki sehr beeindruckt von den sich überall in Betrieben bildenden Räten – russisch: Sowjets –, die auch Funktionen der politischen und militärischen Macht übernommen hatten. Nach der Niederschlagung der Revolution erlaubte Zar Nikolaus II. die Gründung von Parteien und die Schaffung eines gesamtrussischen, aber weitgehend machtlosen Parlaments namens Duma. Als im kriegsmüden und von Hunger geplagten Zaren-Imperium die Februar-Revolution 1917 als echter Volksaufstand ausbrach, machte sich Lenin aus seinem Lieblingsexil, der Schweiz, in dem berühmten versiegelten Sonderzug durch das Deutsche Reich auf den Weg in seine Heimat.
Dort präsentierte er seine sogenannten Aprilthesen, aus denen sich der Machtanspruch seiner Kaderpartei ableiten ließ. Alle Macht sollte den seiner Vorstellung nach bolschewistisch beherrschten Sowjets zufallen, die die nach der Februar-Revolution ernannte Provisorische Regierung ablösen sollten. Der Krieg sollte bedingungslos beendet und das Land nach Enteignung des Großgrundbesitzes zugunsten der zahllosen Bauern in eine Sowjetrepublik verwandelt werden.
Es dauerte aber noch bis Oktober/November 1917, bis unter wesentlicher Führung von Leo Trotzki die Bolschewiki im ersten modernen Militärputsch des 20. Jahrhunderts die Macht eroberten – vergleichsweise unblutig, was sich aber danach durch gezielte Verfolgung jeglicher Gegner, vor allem mithilfe der brutalen Geheimpolizei Tscheka, grundlegend ändern sollte. Schätzungen zufolge wurden bis 1922 etwa 280.000 Menschen getötet. Noch weitaus größer waren mit geschätzten neun bis zehn Millionen russischen Bürgern die Opferzahlen im bis 1922 tobenden Bürgerkrieg zwischen der Roten Armee und der sämtliche Oppositionskräfte bündelnden Weißen Armee. All diese Grausamkeiten und den Terror rechtfertigte Lenin als Preis für den Sieg und die Diktatur des Proletariats.