Der Westen muss die Ukraine weiter unterstützen – auch aus eigenem Interesse
Wenn man heute im Westen auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine blickt, drängt sich ein Begriff auf: Desillusionierung. Das trifft auch auf die Ukraine selbst zu. „Die Menschen sind erschöpft“, räumte Präsident Wolodymyr Selenskyj im Interview mit ARD-Talkerin Caren Miosga ein.
Die Euphorie und der Traum vom schnellen Durchbruch aus dem Jahr 2022 haben sich verflüchtigt. Im Juli war es den ukrainischen Truppen gelungen, die Russen bei Cherson zurückzudrängen. Im darauffolgenden September befreiten sie die Stadt Charkiw im Osten. Doch die mit großen Hoffnungen angekündigte Gegenoffensive verpuffte: Sie begann Anfang Juni 2023 und mündete in einen für beide Seiten verlustreichen Stellungskrieg. Die Russen gruben sich entlang der Front ein und errichteten mehrere Verteidigungslinien. Der Vormarsch der Ukrainer kam ins Stocken.
Der Stillstand der ukrainischen Verbände liegt auch am spärlicher werdenden Waffenfluss aus dem Westen. Derzeit fehlt es vor allem an Munition. Die EU-Länder hatten versprochen, bis März 2024 eine Million Schuss zu liefern, angekommen sind gerade einmal 300.000. Ergebnis: Die Ukrainer können keine Angriffe mehr starten und rationieren ihre Munition für die Verteidigung gegen russische Vorstöße.
Darüber hinaus hat die Sanktionskeule des Westens nicht die erhoffte Wirkung gezeigt. Die russische Wirtschaft ist nicht in die Knie gegangen. Präsident Wladimir Putin hat die Unternehmen auf Kriegs-Produktion getrimmt. Länder wie China und Indien kaufen gerne russisches Öl und Gas, Importe aus Drittstaaten kommen oft über die Türkei.
Am beunruhigendsten sind jedoch die Signale aus Washington. Ein von US-Präsident Joe Biden aufgelegtes Rüstungsprogramm für Kiew in Höhe von 60 Milliarden Dollar wird von den Republikanern im Kongress blockiert. Biden hatte zuvor ein Triple-Paket aus Ukraine- und Israel-Hilfen sowie mehr Grenzschutz gegen Flüchtlinge aus Mexiko angeboten – Letzteres war als Zugeständnis an die Republikaner gedacht. Doch der mutmaßliche republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump legte sich quer. Seine Partei folgt ihm bedingungslos auf seinem Obstruktions-Kurs. Biden soll im Wahljahr keinen Triumph bekommen, lautet die Marschroute.
Putin weiß, dass es um die Ukraine nicht gut steht. Er hat einen langen Atem, setzt auf die Kriegsmüdigkeit im Westen. Und er hofft, dass Trump ins Weiße Haus einzieht. Dieser hatte bereits den Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine angedeutet und Selenskyj den Verzicht auf Territorium empfohlen.
Im Westen taucht immer wieder die Forderung auf, die Ukraine müsse nur mit Russland verhandeln – und der Krieg sei vorbei. Derartige Friedensschalmeien ertönen in Deutschland vor allem aus der AfD, aus der neuen Partei Bündnis Sahra Wagenknecht und aus der Linken.
Ein solcher Pazifismus wäre naiv. Die Ukraine darf nicht zu früh Konzessionen machen. „Damit würde man einem Aggressor wie Putin signalisieren, du kannst noch weitergehen“, warnt der Historiker Jörn Leonhard. Beim Ukraine-Krieg gehe es um eine Auseinandersetzung zwischen rücksichtsloser russischer Machtpolitik und dem westlichen Konzept von Demokratie und Wahlfreiheit. „Der Verlust des Imperiums hat eine Art von Phantomschmerz hinterlassen. Und dazu gehört die Idee einer besonderen Mission Russlands“, betont Leonhard. „Das begründet den Gegensatz zu den freiheitlichen Werten des Westens, die Putin für überholt und dekadent hält.“
In den Spitzen der deutschen Politik ist die Bedrohung angekommen. „Wir müssen also einkalkulieren, dass Putin eines Tages sogar ein Nato-Land angreift“, mahnt Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). „Unsere Experten rechnen mit einem Zeitraum von fünf bis acht Jahren, in denen das möglich sein könnte.“
Ja, die Unterstützung der Ukraine ist teuer, kräfteraubend und mit Rückschlägen verbunden. Sie kann sich zu einem Marathon-Krieg ausweiten. Doch wenn Putin nicht gestoppt wird, sind in Europa Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Freiheit in Gefahr. Das betrifft zunächst die baltischen Staaten und Polen. Nur wenn der russische Präsident seine Kriegsziele nicht erreicht – was nichts anderes wäre als eine Niederlage –, ist der Westen hinreichend sicher. Das und nicht weniger steht in der Ukraine auf dem Spiel.