Der Schauspieler August Zirner über seine Rolle in der Romanverfilmung „Ein ganzes Leben“ und darüber, was für ihn Heimat bedeutet, über das Älterwerden und warum er ein riesengroßer Tom-Waits-Fan ist.
Herr Zirner, in der Bestsellerverfilmung von Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“ waren Sie gerade als Hauptfigur Andreas Egger zu sehen. Warum wollten Sie bei der Verfilmung dieser existentialistischen Lebensgeschichte unbedingt mit dabei sein?

Mit Hans Steinbichler wollte ich schon seit über 15 Jahren zusammenarbeiten, seit seinem Film „Winterreise“. Damals habe ich ihn auch persönlich kennengelernt und er hat mir gesagt, dass auch er gerne mit mir einen Film machen würde. Vor zwei Jahren erzählte er mir dann, dass er vorhabe, das Buch „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler zu verfilmen. Ich habe daraufhin den Roman gelesen und war total begeistert. Auch die Drehbuchfassung von Ulrich Limmer fand ich sehr gelungen. So sind wir schließlich zusammengekommen. Das war eine glückliche Fügung.
Die Hauptfigur Andreas Eggert wird von drei Schauspielern dargestellt. Sie spielen den alternden Mann, der am Ende seines Lebens Bilanz zieht. Das ist ein tiefgründiger und spiritueller Part. Was haben Sie davon für Ihr Leben mitgenommen? Was haben Sie dabei gelernt?
Schön, dass Sie das fragen. Für mich ist nämlich der Beruf des Schauspielers ein Lernvorgang. Ich bin immer davon ausgegangen, wenn man Schauspieler ist, wird man notgedrungen auch ein guter Mensch. Weil man sich ja bei seiner Arbeit immer mit Menschen beschäftigt. Ich bin jetzt 67 und kann sagen: Das stimmt leider nicht. Aber natürlich besteht die Möglichkeit, dass man sich durch die Schauspielerei immer wieder neu entdeckt und kennenlernt. Und was diese Arbeit betrifft – da habe ich so etwas wie die stille Verneigung vor dem Phänomen Leben gespürt. Außerdem hat mich die Dankbarkeit, mit der Eggert auf sein Leben und sein Überleben zurückschaut, tief berührt. Für mich sind der Roman und der Film ja eigentlich eine Rückschau. In diesem Zusammenhang ist für mich das Geschenk der Erinnerungskultur extrem wichtig. Denn um in der Gegenwart anzukommen, ist eine verantwortungsvolle Rückschau unbedingt notwendig. Ich hatte das Glück, dass ich im Laufe meines Lebens immer wieder Rollen gespielt habe, die mich auf eine Reise zu mir selbst mitgenommen haben. Und Andreas Eggert ist eine solche Rolle. Dafür bin ich sehr dankbar.
Aus dem alternden Eggert zieht sich das Leben langsam zurück, seine Vitalität schwindet, Gebrechlichkeiten nehmen zu. Dabei verliert er aber nie seine Würde. Wie gehen Sie denn mit dem Altern um?
Ich versuche einfach, ein bisschen ehrlicher zu werden. Mir selbst gegenüber. Das ist ein schwieriger, aber sehr dankbarer Prozess. Ich bin ja eher ein selbstreflektierender Typ. Natürlich hätte ich dies oder jenes in meinem Leben besser machen können. Und ich frage mich auch manchmal, warum habe ich damals nicht gewusst, was ich jetzt weiß? Warum habe ich meine Eitelkeiten nicht schon viel früher infrage gestellt? Oder meinen Narzissmus nicht abgelegt? Das wird mir zwar nie hundertprozentig gelingen, da mache ich mir keine Illusionen, denn das ist ein Teil des Berufs – aber diese Eitelkeiten stehen auch oft einfach im Weg.
Als junger Mensch hält man sich für unverwundbar und glaubt, ewig zu leben. Wann hat sich diese Einstellung denn bei Ihnen geändert?

Das hat sich sehr früh bei mir geändert, da meine Eltern sehr früh gestorben sind. Und da habe ich schon früh über den Tod nachgedacht. Auch bei der Geburt meiner Kinder wurde mir klar, dass Geburt und Tod sehr nahe beieinander liegen. Abgesehen davon habe ich mich nie für unverwundbar gehalten. Ich bin unsicher auf diese Welt geworfen worden und bis heute unsicher geblieben. Und das ist auch gut so. Denn das Kreative, das Künstlerische verbietet jegliche Form des Festfahrens. Ich bin in meinem Leben immer weitergegangen, um mich weiterzuentwickeln.
Ursprünglich wollten Sie Psychiater werden. Warum haben Sie diesen Plan bald aufgegeben?
Ich bin in einem Akademiker-Haushalt aufgewachsen. Mein Vater war Professor, und dadurch bin ich auch sehr schnell ins Umfeld von Intellektuellen geraten. Leider bin ich kein Intellektueller. Einer meiner Minderwertigkeitskomplexe … (lacht). Deshalb wollte ich eben ein Studium vorweisen können und Doktor der Psychologie werden. Dann bin ich aber doch lieber Doktor der Menschendarstellung geworden.
Dazu passt sehr gut Ihr Satz „Spielen ist aktive Psychologie“.
Ich meine damit nicht nur die Schauspielerei, sondern will den Begriff viel weiter fassen. Zum Beispiel wenn Kinder spielen, oder ganz einfach wenn man einem Menschen begegnet. Wir telefonieren jetzt miteinander, aber wenn wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen würden, dann würden wir uns vielleicht auch etwas vorspielen. Das liegt doch in der Natur der Sache. Ich meine das durchaus positiv. Denn auch im Spielen liegt eine große Verantwortung. Man spielt doch letztendlich, um sich verständlich zu machen, zu kommunizieren.
Dabei ist Sprache ja sehr wichtig. Wie gehen Sie im wirklichen Leben mit Sprache um? Und wann sind Sie sprachlos?
Sprachlos zu werden ist mein Ziel. Da bin ich noch nicht ganz. Ich versuche aber, auch mit meiner eigenen Sprache aufzuräumen, sie zu reinigen. Auch das hängt, glaube ich, mit dem Älterwerden zusammen. Ich habe zum Beispiel viel zu oft „Scheiße“ oder „Fuck You“ gesagt. Da schwappt bei mir dann immer etwas Hässliches hoch. Durch die Sprache habe ich die Möglichkeit, das zu erkennen. Sprache ist als Medium für mich aber sehr wichtig. Ein richtig formulierter Satz kann für das Gegenüber wahnsinnig phantasie- beziehungsweise erkenntnisförderlich sein. Und: Nicht der Sprecher, sondern der Hörer bestimmt die Bedeutung einer Aussage. Andererseits habe ich als Schauspieler einen großen Respekt vor dem Publikum. Denn jeder Satz, den ich sage, und wie ich ihn sage, kann nämlich auch missverstanden werden. Und dafür bin dann auch ich mitverantwortlich.
Das setzt aber einen kompetenten Zuhörer voraus, der sich auch wirklich auf das einlässt, was Sie sagen.
Das stimmt. Alles andere ist Zeitverschwendung. Aber jemanden richtig zu verstehen ist sehr schwer.
Bestenfalls entsteht beim Sprecher und Hörer eine Art Randkongruenz …
… das ist ein schöner Begriff …

… ein anderer Begriff ist „Heimat“. Hans Steinbichler meint ja, Heimat ist da, wo es wehtut. Finden Sie das auch?
Nein, überhaupt nicht. Ich sehe das anders. Heimat – was ist das? Ich bin ein Kind der Diaspora. Heimat ist für mich ein Ort. Und ich bin nicht zu verorten. Und doch – jetzt wird es paradox: Heimat ist in mir drin. Heimat kann überall sein. Hier im Chiemgau, wo ich wohne, aber auch in einer U-Bahn in New York. Und natürlich sind für mich meine Familie, meine Freunde auch Heimat. Ich bin wie eine Schildkröte. Ich trage meine Heimat immer mit mir herum.
Sie wurden in den USA geboren und haben dort die meiste Zeit Ihrer Jugend verbracht. Sie hatten eine schöne Kindheit und lebten in einem Elfenbeinturm. Mit 17 Jahren sind Sie dann nach Wien gezogen. Wie sind Sie mit der Vertreibung aus diesem Paradies fertig geworden?
Ich bin in einer sehr liberalen und offenen Atmosphäre aufgewachsen. Meine Eltern arbeiteten beide an der Universität und hatten viele Freunde und Bekannte aus dem akademischen Umfeld, die auch oft bei uns zu Hause zu Gast waren. Da gab es Gespräche auf höchstem Niveau, ich habe Musik gemacht, hatte eine Funk-Band, die war halb schwarz, halb weiß. Ich besuchte auch eine gemischte Schule und hatte viele ganz unterschiedliche Freunde. Das war in den 60er-Jahren. Ich dachte damals, dass es in ganz Amerika so war. Ich habe gar nicht gewusst, dass es Ausgrenzung gibt. Der Reality-Check kam dann später und war dementsprechend hart.
Seit gut 50 Jahren leben Sie in Europa, waren aber immer wieder, auch beruflich, in den USA. 2016 haben Sie für Arte eine TV-Serie über Ihre Reisen gemacht. Was haben Sie denn daraus mitgenommen?
Die vielen guten und intensiven Gespräche, die ich mit Menschen hatte, die mir auf meiner Reise durch die USA begegnet sind. Vor allem, wenn die Kamera aus war, haben sie mir erzählt, was sie von den Waffengesetzen, der Todesstrafe und anderen heiklen Themen wirklich halten. Das war total spannend. Diesem Projekt habe ich es zu verdanken, dass mir bewusst wurde, dass Amerika nicht mehr meine Heimat ist. Und ich habe noch etwas bemerkt: Wenn ich amerikanisch spreche, bringt das ganz andere seelische Saiten in mir zum Schwingen, als wenn ich deutsch spreche.
Hat Hollywood Sie nie gereizt?
Hollywood nicht, aber der amerikanische Film schon. Klar. Aber ich hatte immer viel in Deutschland zu tun: Theater, Film, Fernsehen … Dann hatte ich Kinder, musste mich um meine Familie kümmern, genug Geld verdienen … Heute denke ich, dass ich da vielleicht etwas verpasst habe.

Wie gut gelingt es Ihnen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden?
Ich glaube schon, dass mir das ganz gut gelingt. Manchmal ein bisschen verzögert. Manchmal erst beim zweiten Nachdenken. Aber immerhin gibt es ein zweites Nachdenken! (lacht)
Wie kommen Sie eigentlich mit der grassierenden Kulturlosigkeit zurecht?
Dagegenhalten, dagegen arbeiten. Aber es ist schwierig. Ich versuche wenigstens bei meinen Enkelkindern dagegenzuhalten. Aber das machen ja auch schon ihre Eltern. Ich bin nicht ganz so kulturpessimistisch wie ihre Frage. Aber ich bin es. Ich lasse mich einfach auf den Kulturverfall nicht ein. Ich werde auch weiterhin versuchen, Menschen mit meiner Arbeit zu erreichen. Ich spiele auch weiter Theater, drehe Filme, mache Musik, stelle Programme zusammen, in denen Sprache und Musik in eine Korrespondenz zueinander kommen. Ich bin besorgt, aber nicht verzagt. Kurz: Ich gebe nicht auf!
Apropos Musik: Wann haben Sie denn zum letzten Mal „Lokomotive Breath“ von Jethro Tull gespielt?
Erst kürzlich. Ich habe ein neues Trio – mit Kontrabass und Gitarre –, in dem ich Querflöte spiele. „Lokomotive Breath“ ist dann immer die Zugabe, wenn wir Konzerte geben. Die Leute lieben dieses Stück. Und ich spiele es auch sehr gerne. Unser Programm ist sehr breit gefächert. Wir spielen nicht nur Pop, sondern auch Jazz und Funk, und zwischen den Stücken erzähle ich Geschichten und lese Texte vor.
Sie haben die Autobiografie von Eric Clapton eingelesen. Sind Sie ein großer Clapton-Fan?
Nein, eigentlich nicht so sehr. Ich mag seine Stimme und natürlich ist er als Gitarrist ein Meister. Ich stehe aber mehr auf so Sachen, wie sie Herbie Hancock spielt. Aber Fan bin ich eigentlich nur von Tom Waits. Was er macht, ist für mich zeitgenössische Romantik. Fantastisch!

Das finde ich auch. Wenn er „Waltzing Matilda“ singt, kriege ich jedes Mal Gänsehaut …
Geht mir genauso. Da will ich Ihnen kurz eine Geschichte erzählen: Als ich ihn vor Jahren in Hamburg kennenlernte, habe ich ihn gefragt, was denn „Waltzing Matilda“ eigentlich bedeutet. Es ist ja ein Begriff aus seinem Song „Tom Traubert’s Blues“. Und mir war nie klar, was es damit eigentlich auf sich hat. Tanzt da ein amerikanischer Soldat, der nach dem Zweiten Weltkrieg heimkehrt, mit seinem Girl Matilda? Er lachte und sagte: „Nein, nein ‚Waltzing Matilda‘ sagen wir, wenn wir backpacking gehen, uns also mit dem Rucksack auf die Reise machen.“ Die Songs von Tom Waits haben für mich, der ich nicht sehr religiös bin, durchaus etwas, das der Religion sehr nahekommt. Zumindest wirken sie so auf mich.
Ihr Fokus liegt auf dem Diesseits, sagten Sie einmal. Glauben Sie dennoch an ein Jenseits?
Wie gesagt, ich bin eigentlich nicht religiös. Und ich möchte das Jenseits auch nicht dafür verantwortlich machen, dass ich mich im Diesseits anständig zu benehmen habe. Ich möchte da nichts verschieben. Schon damals, als mein Vater starb, wurde mir bewusst, dass er solange lebt, solange ich mich an ihn erinnere. Ich weiß nicht, ob es ein Jenseits gibt. Und ich habe auch keine Sehnsucht nach Erlösung. Was ich nicht selber schaffe, kann der Tod auch nicht lösen.