Als Schauspieler ist Ulrich Tukur vielfach ausgezeichnet, doch für ihn hat die Musik Vorrang. Wir erfuhren von ihm, was ihn an alter Tanzmusik fasziniert, wie er zu Künstlicher Intelligenz steht und warum er lieber in Italien lebt.
Herr Tukur, Sie haben jetzt einen Vertrag bei der Musikindustrie. Ihre neue Platte „Es leuchten die Sterne“ erscheint bei Warner Music Germany. Dort sind unzählige großartige Künstlerinnen und Künstler aller Genres zu Hause.
Die Firma Warner hielt das Album ihres Jazz-Programms für würdig, es soll sogar eine Vinylplatte geben, was ich wunderbar finde. Vinyl ist ein schöner Trend, ein letztes Aufbäumen analoger Konservierungstechniken. Weniger als Pessimist denn als Realist glaube ich, dass der Mensch in den reproduzierbaren Bereichen der Kunst durch die komplexen Mittel der digitalen Technologie ersetzt werden wird, einfach nur, weil es möglich ist – und weil er natürlich auch in jeder Hinsicht stört, zu teuer und unzuverlässig ist oder krank werden kann. Nur im archaischen Raum, der ja ohne den leibhaftigen Menschen nicht funktioniert, wird er noch eine Heimstatt haben. Das ist das Theater, die Oper, der Konzertsaal und, na ja, irgendwie vielleicht auch noch die Vinylplatte.
Sie benutzen bei Gesangsaufnahmen kein Auto-Tune, oder?
Um Gottes willen! Wir tricksen nicht, singen und spielen sogar noch selbst. Das ist alles einfach und ehrlich. Im Mastering wird dann eine Art Firnis über die Aufnahme gelegt. Wie und was die Tontechniker da genau machen, weiß ich nicht. Wir haben mit alten Mikrofonen aufgenommen und die digitalen Audiofiles in der Postproduktion über eine analoge Tonbandmaschine laufen lassen. Dadurch bekommt das Ganze etwas angenehm Weiches. Aber das hören wahrscheinlich nur Fachleute. Und mein Hund.
Welche noch nicht abgelutschten Titel sind auf der neuen Platte zu hören?
„Nasse Lyrik“ zum Beispiel, ein sehr schräges Chanson. Eva Busch hat es gesungen, sie war mit Ernst Busch verheiratet. 1933 floh sie vor den Nazis nach Frankreich und wurde dort während der deutschen Besatzung verhaftet. Das KZ, in das man sie verschleppte, hat sie überlebt. „Nasse Lyrik“ ist eine Art expressionistischer Song über eine Frau, die durch eine nächtlich verregnete Großstadt läuft. Etwas unheimlich. Und wir haben „Tuxedo Junction“ eingespielt. Da ahmen wir Glenn Millers Posaunen, die wir uns nicht leisten konnten, mit unseren Stimmen nach. Der Witz ist, die Evergreens, deren man eigentlich schon überdrüssig ist, so auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, dass man glaubt, etwas ganz Neues zu hören. Till Brönner, mit dem ich seit meiner Ankunft in Berlin befreundet bin, hat uns auf zwei Nummern die Ehre gegeben. Und auch das Streichensemble der Anne de Wolff ist mit von der Partie. Das Ganze hat einen guten Schmelz.
Mit welchem Songschreiber beziehungsweise Texter sympathisieren Sie eigentlich am meisten?
Ich bin ein ganz großer Fan von Cole Porter. Er war Komponist und Autor in Personalunion, wie auch Irving Berlin. Porters Texte sind geistreich, witzig und frech. In seinen Songs überrascht er mit musikalischen Hakenschlägen, die man bei keinem anderen Komponisten findet. Peter Kreuder und Theo Mackeben finde ich auch großartig. Ich selbst hatte in den 80er- und 90er-Jahren das große Glück, noch einige dieser alten Tanzmusiker persönlich kennenzulernen.
Wie kam es dazu?
Durch meine Live-TV-Sendungen für den NDR, „Zu Gast bei Ulrich Tukur“, im Logensaal der Hamburger Kammerspiele, deren Intendanten Ulrich Waller und ich damals waren. Wir luden regelmäßig Künstler und Persönlichkeiten ein, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg tätig gewesen waren. So begann eine Freundschaft mit dem Musiker, Bandleader und Sänger Horst Winter. Er sang ein wenig so wie Bing Crosby. Und Erich Kludas war erster Saxofonist des Tanzorchesters von Otto Stenzel und James Kok. In den frühen 1930ern eines der heißesten Jazz-Orchester in Deutschland. Giulio Giulietti, der erste Gitarrist des Tango-Orchesters von Eduardo Bianco, erzählte mir vor der Kamera, wie sie Ende 1943 in einem Saarbrücker Grand Hotel auftreten sollten. Es gab Luftalarm, während sie mittags in der Stadt spazieren gingen, und als er mit seinen Kollegen zurückkam, war das Hotel weg. Und mit ihm alle Instrumente.
Versuchen Sie heute noch, diese Epoche wachzuhalten?
Ich sehe mich als eine Art Brückenglied. Das, was ich noch kennenlernen durfte und was in mir brennt, will ich beschützen und weitertragen. Was wären wir alle, vor allem wir Künstler, ohne die Menschen, die vor uns da waren? Die um sich greifende Geschichtslosigkeit ist fatal, denn sie beraubt uns unserer Wurzeln, unserer Tiefe, und wer sie verliert, findet keinen Halt mehr in einer Welt, die sich permanent verändert.
Für Martin Scorseses Film „The Irishman“ wurden Stars wie Robert de Niro und Joe Pesci in vielen Szenen
digital verjüngt. Wie denken Sie über solche technischen Tricks?
Ich finde das zum Kotzen. Es bedeutet ja, dass man uns gar nicht mehr braucht, wenn wir einmal vollkommen gescannt sind. Dann lässt sich alles künstlich neu zusammenbauen. Darum ging es ja auch bei dem Aufstand der Schauspieler in Hollywood. Ich, der ich gründlich digital erfasst wurde, säße dann zu Hause und würde dafür bezahlt oder auch nicht, dass meine animierten Daten irgendwo herumlichtern. Aus der Branche höre ich, das sei zwar alles bedrohlich, aber man kriege das mit entsprechenden Regelwerken schon in den Griff. Ich glaube das nicht. Noch mal: Der Wahnsinn ist, dass alles, was gemacht werden kann, auch gemacht werden wird. Und wer in dieser neuen, künstlichen Welt groß wird, wird mit der eigentlichen Wirklichkeit nichts mehr anzufangen wissen. Schon Zeichentrickfilme generieren ja überzeugende Figuren, die den Menschen berühren. Das wird mit animierten Schauspielern, Avataren und Robotern genauso funktionieren. Eigentlich ist das alles zum Lachen, wenn es nicht so todtraurig wäre. Da gibt es eine Spezies, die Technologien entwickelt, die sie am Ende selbst abschaffen. Intelligenz schließt abgrundtiefe Dummheit nicht aus.
Das Künstliche-Intelligenz-Tool Magenta analysiert bestehende Songs von etwa Jimi Hendrix und generiert anschließend neue Stücke.
Das Ergebnis ist natürlich seelenlos. KI fühlt nicht und wird es auch nie tun. Aber wir argumentieren ja immer noch aus einer altmodisch analogen Perspektive. Wenn ein Mensch erst an den seelenlosen Quatsch gewöhnt und Teil dieser Strukturen geworden ist, wird er nichts anderes mehr akzeptieren. Hoffentlich haben wir noch etwas Zeit bis dahin. Aber wir wissen leider auch, wie schnell Jules Vernes fantastische Visionen von der Wirklichkeit ein- und überholt wurden.
Ist es für Sie faszinierender, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, als mit Orakeln in die Zukunft zu blicken?
Ich weiß ja nicht, was mir die Zukunft bringt. Es wird mit Sicherheit noch viel radikaler sein, als ich es mir vorstellen kann. Mich interessieren keine Maschinen, mich interessieren Menschen. Inwiefern haben sie in ihrer Zeit bestanden, Gutes getan, Großes geleistet oder Fehler gemacht. Wie sind sie mit ihrem Leben und all den Schwierigkeiten ihrer Existenz umgegangen. Das gibt mir Orientierung und Halt. Ich bin nicht in diese Welt geworfen, um durch Supermärkte zu laufen und im Internet zu surfen. Mein Leben hat hoffentlich einen tieferen Sinn. Ich bin Glied einer großen Kette von Ereignissen, die alle in mir lebendig sind.
Schwingt dieses Geheimnisvolle auch in Ihrer Musik mit?
Ich hoffe es. Musik ist, wie jede Kunst, Verzauberung. Sie öffnet einen poetischen Raum, in dem sich die Welt verändern und besser ertragen lässt. Sie berührt jene Tiefenschichten, von denen ich eben sprach.
Als junger Mann sind Sie Blues-Legenden wie Muddy Waters und Champion Jack Dupree begegnet. Waren das Schlüsselerlebnisse?
Nein, da war ich schon längst auf der Schiene. Eine Tante hatte mir zur Konfirmation Schellackplatten geschenkt, darunter eine von Fats Waller. Diese alte Aufnahme hat mich total elektrisiert, sie klang neu für mich, frisch und kraftvoll, und es war, das spürte ich sofort, meine Musik. Ein Erweckungserlebnis. Ich habe dann während meiner Schulzeit in Hannover Konzerte von Benny Goodman, Duke Ellington, Lionel Hampton und Eugen Cicero besucht. Mit Champion Jack Dupree verbrachte ich eine ganze, sehr lustige Nacht in seiner Wohnung im Bredero-Hochhaus hinterm Bahnhof.
Viele Menschen kommen nicht mehr so richtig klar mit dem Hier und Jetzt. Wollen Sie mit Ihrem nostalgisch anmutenden Bühnenprogramm die Realität verlangsamen?
Diese Scheißzeit, die den meisten von uns zusetzt, ist ja eigentlich unsere große Chance. Da gibt es nur eine Rettung: die Rhythmus Boys! Wir schaffen den Raum, in dem Poesie, Witz, Melancholie, Blödelei, Eleganz und Rock ’n’ Roll zuhause sind. Wir nehmen nur unsere Musik ernst, uns selbst aber nicht.
Ich habe gehört, dass Sie Berlin wieder verlassen und zurück nach Italien wollen. Ist es Ihnen in Deutschland zu kalt?
Es ist kühl im übertragenen Sinn, und es droht kälter zu werden. Es ist weniger die Stadt Berlin, die zu meiner Theaterzeit dort in den 80er-Jahren ihren ganz eigenen Charme hatte und heute ein schwerfälliger, überlaufener Moloch ist. Es ist mehr das allmählich zerbröselnde Land, das mir große Sorgen macht, die schlechte Laune und eine Bevölkerung, deren Kräfte schwinden, die sich immer weniger mit seiner Geschichte, seinen Werten und Traditionen verbunden fühlt und wenig Willen zeigt, zu verteidigen, was uns seit sieben Jahrzehnten Frieden, Freiheit und ein außergewöhnlich gutes Leben beschert hat. Ich mag nicht mehr in einem Land leben, das seine Außengrenzen nicht schützt und keine wirkliche Verantwortung übernehmen will in einer Welt, die zunehmend von autokratischen und chauvinistischen Systemen bedroht wird. Also gehe ich doch lieber dorthin, wo die Menschen wenigstens guter Laune sind, weil sie wissen, dass sie die beste Küche der Welt haben. Wir werden nach Süditalien in die Nähe von Neapel ziehen. Da explodieren wir dann auf den Phlegräischen Feldern und implodieren nicht in Missmut und Labbrigkeit.
Sie haben bereits viele Jahre in Venedig gewohnt. Was fasziniert Sie am italienischen Lebensstil?
Der italienische Lebensstil kennt den Spaß an den schönen Nichtigkeiten, Höflichkeit und Respekt vor den Mitmenschen, eine unbändige, kindliche Neugier am Anderen, die nur derjenige hat, der von sich selbst absehen kann. Wären die Italiener so effektiv und organisiert wie die Schweizer oder wie es die Deutschen früher einmal waren, würden sie ihre Landschaften und Städte genauso verschandeln, wie wir es tun. Aber da sich das Land in einem ewigen Durcheinander befindet und über eine der surrealsten Bürokratien der Welt verfügt, schafft es zum Glück nicht einmal das. Trotzdem funktioniert die italienische Staatsbahn erstaunlich gut, fährt pünktlich, mit elegantem Design, und die Fahrkarten kosten nicht mal ein Drittel von dem, was wir bezahlen.