Die Masse des deutschen Güterverkehrs wird per Lkw abgewickelt. Nun beginnt die Bahn mit der Generalsanierung des Schienennetzes. Diese Maßnahmen bereiten den Logistikunternehmen noch mehr Sorgen.
Der jüngste Streik der Lokführergewerkschaft GdL hat nicht nur den Personenverkehr, sondern auch den Güterverkehr auf der Schiene getroffen. Zwar werden nicht einmal 20 Prozent der Güter in Deutschland per Bahn transportiert und der überwiegende Teil auf der Straße, doch litt auch der Cargo-Bereich der Eisenbahn. Wie stark, darüber gingen dieser Tage die Meinungen bei einer dem Schienengüterverkehr gewidmeten Veranstaltung des Bundesverbands Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) und des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) in Berlin auseinander.
„Die Ausfälle waren sehr schlimm“, sagte die Vorständin für Infrastrukturplanung und -projekte der neuen DB-Infrastrukturgesellschaft InfraGO, Ingrid Felipe, gegenüber dem „Forum“. Klaus Wessing, Verkaufschef von VTG, einem der größten europäischen Waggonvermieter, stellte hingegen fest: „Unsere Güterverkehre wurden im Streik leichter und schneller transportiert, weil das Netz weniger belastet war.“ Durch den Wegfall eines Großteils des Personenverkehrs hatten die privaten Bahnbetreiber, deren Personal im Gegensatz zu den DB-Lokführern nicht streikte, freie Fahrt. Sie haben immerhin 60 Prozent Marktanteil am nationalen Güterverkehr.
„Stabile, verlässliche Kapazitäten anbieten“
„Die Infrastruktur ist der limitierende Faktor“, bestätigte Henrik Würdemann, Chef von Captrain, einem führenden Schienenlogistikunternehmen in Deutschland. Dessen ist man sich bei der Deutschen Bahn bewusst. „Wir müssen stabile, verlässliche Kapazitäten auf der Schiene anbieten“, gab Felipe zu. Deshalb werde in diesem Jahr mit der Generalsanierung des Netzes begonnen, im Sommer mit der Komplettsperre der Riedbahn zwischen Mannheim und Frankfurt am Main. Bis 2030 sollen weitere 40 stark befahrene Korridore im deutschen Streckennetz saniert werden. 4000 Kilometer stehen zur Großreparatur an.
So notwendig die Reparatur der maroden Schienen-Infrastruktur ist, so sehr bereitet das den Eisenbahn-Logistikern Sorgen: Denn zum unbefriedigenden Zustand des Netzes kommen nun Einschränkungen und Umleitungen für zumindest das nächste halbe Dutzend Jahre. „Wir müssen eine sehr hohe Zuverlässigkeit gewährleisten, dann schafft man auch profitablen Verkehr“, sagte VTG-Manager Wessing. Die aber bleibt auf absehbare Zeit weiter gefährdet. „Wir fahren derzeit bis zu 300 Kilometer Umleitungen.“
Doch der beklagenswerte Zustand der Infrastruktur ist nur ein Grund, warum es mit der Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene nicht vorangeht. Immerhin soll der Bahnanteil laut politischen Vorgaben bis 2030 von 18 auf 25 Prozent anwachsen. Dieses Ziel sehen viele in der Branche gefährdet. Im vorigen Jahr ist die Transportleistung sogar eingebrochen. Neben der Infrastruktur sind unterbrochene Lieferketten, unter anderem im Gefolge des Ukrainekriegs, aber auch höhere Stromkosten Ursachen dafür, heißt es beim VDV. Man habe also keinerlei Planungssicherheit.
Und so wurde diskutiert, wie man die Schiene für die verladende Wirtschaft attraktiver machen könnte. Ohnedies könnte der Fahrermangel der nächsten Jahre der Eisenbahn in die Hand spielen. Denn ein Lokomotivführer ersetzt 40 bis 50 LKW-Chauffeure, bezogen auf die transportierte Menge.
Es gibt einige Schrauben, an denen gedreht werden könnte. So arbeitet die Deutsche Bahn daran, künftig Züge von 740 Metern Länge zu befördern, also mehr Volumen in einer einzigen Sendung. Das heißt: Längere Gleisabschnitte für Überholvorgänge, Veränderung der Signalabstände und vieles mehr.
Höhere Effizienz hat sich auch der Eisenbahnlogistiker Innofreight auf die Fahnen geschrieben. Er bietet Waggons an, die mehr Volumen fassen können. Zum Entladen reicht ein Stapler, der sich den Aufbau greift und an geeigneter Stelle entleert.
BASF hat ein Netzwerk von Verladern aufgebaut, um in Antwerpen und Hamm Güterzüge zusammenzustellen, die dann als so genannte Blockzüge über weite Strecken an einen Bestimmungsort gelangen. In Leverkusen hat BASF einen eigenen Terminal, „so groß wie die Insel Manhatten“, sagte BASF-Vertreter Thorsten Bieker.
Wer kein solcher Wirtschaftsriese ist, der ganze Züge zwischen seinen Produktionsstandorten zirkulieren lassen kann, eventuell mit einem eigenen Verkehrsunternehmen wie BASF, hat es da schwerer. „Wir haben verschiedene Anläufe mit Einzelwagenverkehr unternommen, die gescheitert sind“, räumte Christian Utsch, Geschäftsführer der Logistik in der GMS Getränke&Mehr Servicegesellschaft ein, die zur Krombacher-Gruppe gehört. Sein Unternehmen sah sich nach einem Verladestandort um. Nachteil: Die Getränkeindustrie hat eine hohe Artikel- und Lieferantenvielfalt, die Volumina sind für Bahnverhältnisse klein.
Immerhin wurde man fündig: 2019 wurde der Container-Terminal Südwestfalen in Kreuztal eröffnet. Seit vorigem Jahr wurden von da zehn Wechselbehälter pro Woche nach Norderstedt gefahren, als einzelne Wagen, die in einen Güterzug eingereiht werden. Wurden, denn die Verbindung ist inzwischen eingestellt, weil sie sich offenbar nicht rechnete. Nun wird wieder auf der Straße transportiert.
In vielen Fällen ist aber die Schiene gegenüber der Straße benachteiligt: Wenn der Zug halten muss, ist dafür zu bezahlen. Möchte der LKW-Fahrer Pause machen und fährt rechts ran, kostet das nichts. „Die Straßenmaut ist abhängig vom Umfang der Beladung, bei der Bahn ist der Trassenpreis immer gleich, auch wenn der Zug halbleer ist“, klagte Henrik Würdemann von Captrain Deutschland. Soeben wurden die Trassenpreise wieder angehoben, was in dieser Situation kein einladendes Signal an die Wirtschaft ist, von der Straße auf die Schiene umzusteigen. Man müsse aber wirtschaftlich denken, verteidigt sich die InfraGO der DB.
Auf den langen Strecken ist die Bahn in Sachen Effizienz nicht zu schlagen. Doch anders als auf der Straße führen die Schienen nicht bis in jeden Produktionsbetrieb, nicht zu jedem Lager eines Supermarkts. Es muss also zumeist am Beginn eines Bahntransports von der Straße auf die Schiene umgeschlagen werden und am Ende von der Schiene auf die Straße. Deshalb bereiten die sogenannten ersten und letzten Meilen besonderes Kopfzerbrechen.
Anschlussgleise in Betriebe werden staatlich gefördert, doch es sind noch zu wenige, das Einfädeln ins Netz der Deutschen Bahn ist vielfach umständlich. „Für die letzte Meile zu VW brauchen Sie drei Stunden für drei Kilometer mit drei Mann“, sagte Captrain Deutschland-Chef Würdemann.
Probleme bei der ersten und letzten Meile
Digitalisierung lautet darum auch das Zauberwort im Bahnverkehr. Auf sie hoffen Viele in der Branche. In Europa soll eine digitale automatische Kupplung (DAK) eingeführt werden, die künftig die Arbeit der Rangierer überflüssig machen soll. Ein Erprobungszug ist damit schon in Europa unterwegs, innerhalb weniger Jahre wäre bald eine halbe Million Güterwagen umzurüsten, doch in der EU wird nun gebremst.
„Wir brauchen Telematik, Sensorik“, forderte Julian Madsen, Strategiemanager beim internationalen Waggonvermieter GATX. „Es gibt die Wagen schon, wir müssen nur in Serie produzieren, auch in Containervariante, aber wir müssen ins Tun kommen. Mein Traum ist ein intelligenter Güterwagen, der weiß, was wann repariert werden muss.“ Es gelte, die Ausfallzeiten zu minimieren. Doch auch die Politik müsse, etwa mit Zwischenfinanzierungen, tätig werden, um die enormen Summen von Waggonbeschaffungen bis zu ihrem rentablen Einsatz zu überbrücken, mahnte Madsen.
Das jüngste Verfassungsgerichtshof-Urteil, das der Regierung untersagte, die 60 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Corona-Krise anderweitig zu verwenden, hat die für die Bahn vorgesehenen Mittel schlagartig schrumpfen lassen. „Wir können einen wesentlichen Teil unserer Vorhaben retten“, versuchte Michael Theurer, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Digitales und Verkehr, zu beruhigen, aber: „Das Verfassungsgerichtshof-Urteil ist natürlich eine Klatsche. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass das Urteil so hart und ohne Übergangsfristen ausfällt.“
Es sind viele Baustellen, vor denen das System Bahn derzeit steht. Einen Nachteil gegenüber der Straße wird sie aber nie ausräumen können: dass sie das weitaus komplexere System ist.