Christlich-fundamentalistische Gruppierungen sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch. Einige sind unproblematisch. Andere versprechen Freiheit und Erfolg, führen stattdessen aber zu totaler Abhängigkeit und nicht selten in den finanziellen Ruin.
Beim Thema christlicher Fundamentalismus denken viele zuallererst an die USA, wo zahlreiche solcher Gruppen existieren, einige mit großem Einfluss auf die Politik und Gesellschaft. Doch auch in Deutschland sind Bewegungen auf dem Vormarsch, die den christlichen Glauben neu beleben wollen. Sie nehmen die Bibel wortwörtlich, die Heilige Schrift ist für sie die höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung. Ihre Mitglieder haben sich dem Glauben an Gott verschrieben: Sie widmen ihr ganzes Leben der Religion.
Das allein sorgt in Deutschland mit seiner säkularisierten Alltagskultur häufig schon für Skepsis. „Die meisten Menschen lernen das Christentum in der evangelischen Amtskirche kennen, die eine sehr zurückhaltende und rationale Tradition verfolgt“, sagt Christine Schachtsiek von der Leitstelle für Sektenfragen im Land Berlin. Wenn sie dann in einer charismatischen Gemeinde erleben, dass die Leute teilweise ekstatische Gotteserfahrungen machen und im Gottesdienst anfangen in Zungen zu reden, dann sei das hochbefremdlich und rufe entsprechende Ängste hervor.
Religiöses Schneeballsystem
Schnell ist dann pauschal von einer Sekte die Rede. Christine Schachtsiek spricht lieber von „konfliktträchtigen Anbietern am Lebenshilfemarkt“. Diese Begriffswahl macht zugleich deutlich, dass eben nicht alle freien Gemeinden bedenklich sind. „Es ist eine bunte Szene“, sagt Schachtsiek. Rund 300.000 Menschen gehören in Deutschland einer Freikirche an. Viele dieser Kirchen werden ihrem Namen absolut gerecht; sie leben den Glauben einfach etwas kreativer aus. Andere Gruppen sind problematischer. Sie versprechen Freiheit und Erfolg, führen stattdessen aber häufig zu totaler Abhängigkeit und in den finanziellen Ruin.
In der Berliner Leitstelle für Sektenfragen beschäftigt man sich täglich mit solchen Gruppen. Die meisten Anfragen erreichen die Leitstelle derzeit zu Evangelikalen und Pfingstlern, zu esoterischen Gruppen und zu Scientology. Doch die Szene verändert sich ständig, „es wird immer unübersichtlicher“, sagt Christine Schachtsiek. Auch weil viele der Gemeinden mit Hauskreisen arbeiten: Ein neues Mitglied schließt sich zunächst einem bestehenden Hauskreis an und wird dort spirituell begleitet; wenn das Mitglied dann so weit ist, macht es seinen eigenen Hauskreis auf – ein religiöses Schneeballsystem. „Dieses Prinzip kann dazu führen, dass es in einem Hauskreis unter Umständen sehr problematische Praktiken gibt, von denen niemand etwas erfährt und die der Rest der Gemeinde womöglich auch nicht gutheißt“, erklärt Schachtsiek. Zunehmend operieren auch ausländische Bewegungen in Deutschland – aus den USA, aber auch aus Südkorea oder aus Afrika. Vieles spielt sich im Verborgenen ab. Es gab Fälle, da wusste Christine Schachtsiek nicht, dass eine bestimmte Gruppe in Berlin überhaupt existiert, bis sich Betroffene bei der Leitstelle meldeten.
Konkrete Namen von Sekten nennt die Leitstelle nicht. Das Team gibt zwar Informationen, vermittelt Kontakte und berät. Aber die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung mündiger Bürger muss dabei erhalten bleiben. Es gilt das Neutralitätsgebot des Staates. Zudem würde die Nicht-Nennung einer Gruppe womöglich ein falsches Bild der Sicherheit vermitteln, auch wenn vielleicht einfach noch nicht genügend Informationen über diese Gruppe vorliegen.
Andersdenkende bekehren
Was die Leitstelle bietet, sind Checklisten mit den typischen Merkmalen konfliktträchtiger Gruppen. Die Welt treibt auf eine Katastrophe zu und nur die Gruppe weiß, wie man die Welt retten kann? Die Gruppe grenzt sich von der übrigen Welt ab, etwa durch Kleidung, Ernährungsvorschriften, eine eigene Sprache oder die strenge Reglementierung zwischenmenschlicher Beziehungen? Die Gruppe will, dass man alle „alten“ Beziehungen abbricht, weil sie angeblich die Entwicklung behindern? Kritik durch Außenstehende wird als Beweis betrachtet, dass die Gruppe Recht hat? Diese und weitere Fragen sollten sich Betroffene stellen – wenn mehrere Punkte zutreffen, ist Vorsicht geboten.
Ein wichtiges Merkmal des christlichen Fundamentalismus ist der Absolutheitsanspruch: die Annahme, dass ausschließlich die eigene Haltung die richtige ist und dass sich damit sämtliche Probleme erklären lassen. Allerdings gehen die verschiedenen Gruppen unterschiedlich damit um. Die täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft der Amischen etwa verlangt zwar von ihren Mitgliedern die Einhaltung strenger Regeln, schottet sich ansonsten aber weitgehend von der Außenwelt ab. Dagegen wollen andere Sekten alle Andersdenkenden bekehren – hier geht es bereits in Richtung Fanatismus. „Mir ist allerdings in Deutschland keine Gruppe bekannt, bei der die Grenze zur Gewalt überschritten wird, auch wenn einige mitunter sehr aggressiv missionieren“, sagt Christine Schachtsiek. Sie akzeptieren keine andere Meinung. Politisch stehen viele Evangelikale der Alternative für Deutschland (AfD) nahe. Auch dort ist eine klare Trennung zwischen der eigenen Gruppe und allen Andersdenkenden zu erkennen – wer nicht für die Gruppe ist, ist automatisch gegen sie.
Auch wenn körperliche Gewalt in Sekten nur selten vorkommt – und wenn, dann eher indirekt, indem einige Gruppen ihren Mitgliedern nahelegen, nicht zum Arzt zu gehen und stattdessen auf Gott zu vertrauen –, kann die Mitgliedschaft in einer solchen Gruppierung doch psychisch eine enorme Belastung darstellen. „Religion ist immer eine Situation, in der man sich anderen gegenüber weit öffnet und dabei vielleicht Grenzen nicht mehr so wahrt, wie man es im Alltag sonst tun würde. Da wird sehr schnell auch in die persönliche Sphäre hineininterveniert“, sagt Christine Schachtsiek. Gerade deshalb sind die Betroffenen so anfällig für diese Art der Gewalt. Vor allem Gruppen, die in Erwartung der Apokalypse einen Kampf zwischen Gott und dem Teufel heraufbeschwören, können bei ihren Mitgliedern für viel Verunsicherung sorgen. „Psychologisch ist ein solcher Glaube für den eigenen Seelenfrieden und die psychische Gesundheit gefährlicher, als wenn ich davon ausgehe, dass Jesus mich liebt“, sagt Schachtsiek. Angststörungen können die Folge sein.
Ein bestimmtes Klientel, das für die Angebote christlich-fundamentalistischer Gruppen besonders empfänglich ist, gibt es nicht. Wohl aber gewisse Lebenssituationen, in denen Menschen die Angebote solcher Gruppierungen eher annehmen. Entfremdung kann eine Motivation sein – das Gefühl, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Ärmere Menschen, Arbeits- und Obdachlose und Drogenabhängige werden zum Teil sogar gezielt von den Gruppen angesprochen. Aber auch andere Menschen, die starke Umbrüche in ihrem Leben durchmachen, etwa den Tod eines nahen Angehörigen, tendieren dazu, sich stärker mit dem Thema Religion zu befassen. Jugendliche sind ebenfalls oft für solche Angebote empfänglich. „Nach dem Abitur haben 29 von 30 Schülern einer Klasse große Pläne, aber es gibt immer einen, der allein sitzen bleibt und noch keine Idee hat, was er nach der Schule machen will. Wenn dann ein Missionswerk kommt und dieser Person anbietet, dass er oder sie nach nur einem halben Jahr Ausbildung als Missionar tätig werden und sein Leben Gott widmen kann, klingt das für viele durchaus attraktiv“, sagt Christine Schachtsiek.
Außenstehende wollen der Gruppe nur Böses
Angehörige sind darüber meist nicht erfreut. „Wir erleben häufig, dass Freunde und Angehörige erst einmal mit massiver Kritik reagieren“, sagt Christine Schachtsiek. Diese könnte jedoch genau das Gegenteil bewirken: Dass sich die Person in der Annahme bestärkt fühlt, dass alle Außenstehenden der Gruppe nur Böses wollen. Zwar sollte man von Anfang an klarstellen, dass man sich nicht missionieren lässt, ansonsten aber versuchen, den Kontakt aufrechtzuerhalten, rät die Expertin. Sie empfiehlt, die Menschen erst einmal von ihren Erfahrungen erzählen zu lassen – „dadurch nehmen sie selbst eine gewisse Distanz ein und stellen womöglich von sich aus Dinge fest, die ihnen ebenfalls seltsam vorkamen.“ Angehörige sollten nicht wütend, aber auch nicht gleichgültig reagieren, wenn zum Beispiel der eigene Nachwuchs auf einmal den Kontakt abbrechen will. „Es kann mehr helfen, offen zuzugeben, wie sehr man sich dadurch verletzt fühlt“, so Schachtsiek. Sie rät zudem dazu, Gegenargumente gezielt zu nennen, anstatt die Gruppe pauschal zu verurteilen. Ein Beispiel: „Wenn die Gemeinde dafür bekannt ist, dass sie sehr hohe Spenden verlangt und die betroffene Person in ihrem Leben in finanziellen Fragen immer schon sehr vorsichtig gewesen ist, dann kann ich sie damit vielleicht packen.“
Strafbar ist das Wirken der Sekten übrigens in den meisten Fällen nicht. Zwar befürworten einige Gruppen die Züchtigung von Kindern, doch landen solche Vergehen nur selten vor Gericht wie im Fall der Glaubensgemeinschaft der Zwölf Stämme vor einigen Jahren in Bayern. Der Umgang mit Spenden ist ebenfalls problematisch. Christine Schachtsiek sagt: „Wenn Sie Ihrem Prediger 1.000 Euro geben, dann wird er Ihnen eher keine Spendenquittung ausstellen.“